6. Kapitel
Schmutzpfote fing langsam, aber sicher an, das Gezwitscher der Vögel am Morgen zu hassen. Zu dieser Zeit war noch nicht einmal die Sonne vollständig aufgegangen, da war Muschelklang schon auf den Beinen, um sie aufzuwecken und abzuholen. Ein wenig länger als einen halben Mond ging das schon so und Schmutzpfotes Muskeln schmerzten jeden Abend und waren am nächsten Tag steif wie ein Stock. Vor Sonnenhoch hatte sie Training mit Muschelklang und danach musste sie sich Kräuter und deren Nutzen in den Kopf hämmern. Es war zum Verzweifeln, weil sie einfach keine Fortschritte machte. Na gut, sie konnte halbwegs gehen, ohne hinzufallen, aber laufen, jagen oder sogar kämpfen? Das konnte sie vergessen.
Der hohe, süße Klang von singenden Meisen und Amseln drang an Schmutzpfotes Ohren und riss sie beinahe sofort aus dem Schlaf. Es war wie eine Art Warnung. Auch wenn die braun getigerte Kätzin den Vogelgesang nicht mehr hören konnte, war es besser, als von Muschelklangs viel zu schwungvoller Art aus dem Schlaf gerissen zu werden.
Schläfrig hob Schmutzpfote den Kopf und gähnte. Seit kurzem schlief sie wieder im Schülerbau, aber ihr war aufgefallen, wie störend das Atmen der anderen Schüler war, besonders das von Himbeerpfote. Die schnarchte.
Die Schülerin streckte und bemerkte, dass ihre Beine auch an diesem Morgen schmerzten und sich wie eingefroren anfühlten. Besonders ihre verkrüppelte Pfote meldete sich gerne mal mit Schmerzen, wenn sie gerade aufgewacht war, obwohl sie beim Laufen kaum noch Probleme machte.
Mit nur halb geöffneten Augen sah Schmutzpfote sich um. Ihre Baukameraden schliefen alle noch, nur Möwenpfote war wie immer nicht da, weil er die Nachtwachen- und patrouillen mit Leopardenschweif übernahm. Neben der braunen Kätzin lag Himmelspfote, die sich die Pfote schützend vor dem Morgenlicht, über die Augen gelegt hatte und tief atmete.
Ich würde so gerne mal wieder mit ihr gemeinsam trainieren, dachte Schmutzpfote traurig, aber das war einfach unmöglich. Während sie im Heilerbau gelegen hatte, war Himmelspfote fleißig gewesen und hatte auf ihre Kriegerprüfung hingearbeitet. Sie und Schwanenpfote lernten mittlerweile so komplexe Kampfzüge, dass Schmutzpfote selbst beim zusehen schwindelig wurde.
Ein Rascheln riss die Schülerin aus ihren Gedanken. Über den Eingang des Schülerbaus hatte sich der Schatten einer Katze gelegt.
Muschelklang. Sie ist pünktlicher als die Sonne.
Schmutzpfote bildete sich ein, ihre Gelenke knacken zu hören wie bei einer Ältesten, als sie aufstand und sich aus dem Bau schob.
"Ich bin schon wach, Muschelkla-" Schmutzpfote verschluckte sich fast vor Überraschung, als sie nicht die wuschelige, graue Gestalt von ihrer Mentorin erkannte, sondern stattdessen Ameisenstern vor ihr stand. Der Anführer nickte ihr freundlich zu, seine gelben Augen funkelten jedoch leicht amüsiert.
"Guten Morgen, Schmutzpfote."
"Guten Morgen", murmelte die Kätzin schnell, bevor sie verstohlen an sich heruntersah. Natürlich hatte sich alles mögliche während der Nacht in ihrem Fell verfangen. Sie musste aussehen, wie ein Junges, dass in den Brombeeren gespielt hatte.
"Ich will nicht lange stören, Muschelklang wartet bereits auf dich", fing der Kater an und deutete zu der grauen Kätzin, die beim Lagerausgang saß und sie beobachtete. "Deine Mentorin hat mir erzählt, dass dein Training vorrangeht und deshalb wollte ich dich fragen, ob du morgen zur Großen Versammlung mitkommen möchtest?"
"Zur Großen Versammlung?", wiederholte Schmutzpfote leise. Einerseits fände sie es schön, Graufrost wiederzusehen, aber andererseits wollte sie nicht die mitleidigen Blicke ertragen, die man ihr aufdrücken würde, wenn sie, gestützt von einer fremden Schulter auf die Lichtung hinkte.
"Ich....ähm...nein danke. Lieber nicht", stammelte Schmutzpfote und konnte dem dunkelbraunen Kater dabei kaum in die Augen sehen. War er enttäuscht?
"Bist du dir sicher? Ich meine-"
"Ich bin noch nicht so weit", unterbrach Schmutzpfote ihn schnell, neigte hastig den Kopf und eilte davon. Schnellen Schrittes hielt sie auf ihre Mentorin zu, als ihr auffiel, wie unhöflich sie gerade gewesen war.
Habe ich ihn gerade einfach da stehen lassen? Ich habe ihn beim Reden unterbrochen...meinen Anführer!
Schmutzpfote schluckte, traute sich aber nicht, sich nach dem dunklen Kater umzudrehen.
"Bist du so weit?", miaute Muschelklang und unterbrach damit den wasserfallartigen Sturz an schuldbewussten Gedanken, der sich bei Schmutzpfote anbahnte.
"Ja, gehen wir", gab die Tigerkätzin zurück. Auf einmal konnte sie das Lager nicht schnell genug verlassen.
Muschelklangs Training war hart und das nicht nur, weil sie ihrer Schülerin kaum Pausen gönnte.
"Komm schon, Schmutzpfote, nur noch ein kleines Stück. Letztes Mal hast du es weiter geschafft", maunzte die steingraue Kätzin, die auf einem Hügel saß und der getigerten Katze Anweisungen gab, welche von den kleinen Felsen sie herumschieben sollte.
Letztes Mal hatte ich vorher was zu essen!
Schmutzpfote fluchte leise vor sich hin, während sie sich gegen den Stein stemmte und ihn am staubigen Kiesufer hin und her schob. Muschelklang behauptete, dass sie so ihre Beinmuskulatur wieder aufbauen würde, aber bisher merkte Schmutzpfote nichts, außer wunden Schultern.
Muschelklang tappte zu ihr und inspizierte den Abstand zwischen dem Stein und der in den Boden geritzten Markierung, zu der Schmutzpfote ihn hätte schieben sollen, und seufzte.
"Daran müssen wir noch arbeiten", miaute die graue Kätzin und als dann auch noch der Felsen abrutschte und Schmutzpfote ins Leere stolperte, verrauchte ihre Geduld.
"Was soll der Mäusedreck überhaupt!", fauchte sie. "Du sollst mir beibringen, zu jagen und zu kämpfen, und nicht, wie man Steine herumschleppt!" Vor Wut wurden Schmutzpfotes Ohren ganz heiß und ihre Krallen bohrten sich in den Boden.
"Was ist dein Problem?!"
Die plötzliche Rage der Schülerin verblasste genau so schnell, wie sie gekommen war, als sie in Muschelklangs zu Schlitzen vernegte Augen blickte. Sie hatte noch nie geschrien.
Die Kriegerin schien jedoch genau so überrascht zu sein.
"Tut mir leid... ich wollte nicht laut werden. Es ist nur...ich gebe mir wirklich viel Mühe..." Die graue Kätzin sah auf einmal so hilflos aus, wie Schmutzpfote sich fühlte.
Statt Wut kroch der Schülerin die Scham unter den Pelz und sie wandte sich ab. Jetzt hatte sie auch noch Muschelklang vor den Kopf gestoßen. Von der Oberfläche des Baches sah ihr ihr verzerrtes Spiegelbild entgegen.
Was ist gerade in mich gefahren?
Schmutzpfote spürte, wie sich Tränen in ihren Augen anbahnten, die sie verzweifelt zurückzudrängen versuchte, als Muschelklang sich neben sie setzte.
"Rede mit mir, Schmutzpfote", forderte die graue Kätzin sie auf. "Du bist doch sonst nicht so."
"Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht", gab die Tigerkätzin zurück und biss sich auf die Zunge. Sie hörte sich an wie ein trotziges Junges.
"Ich habe aber das Gefühl, dass du dich nicht wegen deiner Pfote so sträubst. Schmutzpfote, wenn ich etwas falsch mache, dann musst du mir das sagen. Ich kann dein Training anpassen." Die graue Kriegerin beugte sich zu ihr herunter und zwang sie, ihr in den Augen zu sehen, was nur bewirkte, dass Schmutzpfote die Kontrolle über ihre Tränen verlor. Während die salzigen Wassertropfen über ihre Schnauze liefen, schlich sich Erkenntnis in Muschelklangs Blick.
"Du vermisst Sonnenstrahl, oder?"
Schmutzpfote schluchzte leise und konnte nur stumm nicken. Ihre Mentorin hatte genau ins Schwarze getroffen. Sonnenstrahls Training war anders gewesen...wenn nicht sogar besser. Er war derjenige gewesen, der ihr jeden Winkel des Territoriums gezeigt hatte. Jeder Ort erinnerte sie daran, dass er nicht mehr da war.
Die braune Kätzin spürte, dass Muschelklang sie sanft mit dem Schweif über den Rücken tätschelte, aber tröstlich war es kaum.
"Hör mal, ich weiß, dass ich ihn nicht ersetzen kann. Niemand kann das. Aber ich gebe mein Bestes, du jedoch nicht und ich würde wirklich gerne verstehen, warum", miaute die graue Kätzin leise.
Schmutzpfote zuckte zusammen, als hätte sie sich an Muschelklangs Worten verbrannt. Aber die Kriegerin hatte Recht. Ihr Bestes war das alles nicht. Leider hatte sie keine Ahnung, wie sie das, was sie fühlte in Worte fassen sollte. Es war Chaos. Wie sollte sie etwas erklären, das sie selbst nicht verstand?
"Ich...Ich hätte mehr tun müssen", brachte sie schließlich heraus.
Viel mehr. Ich hätte mehr Katzen nach Antworten fragen müssen. Ich hätte offener sein müssen. Ich hätte keine Vorurteile haben dürfen. Ich hätte ihm vertrauen sollen. Ich hätte ihn nicht verraten dürfen.
"Was meinst du damit?" Muschelklang legte den Kopf schief. "Gibst du dir etwa die Schuld an seinem Tod?"
Schmutzpfote schluckte. Wie schaffte es ihre Mentorin nur, zu erraten, was sie dachte? Die Schülerin nickte schwach.
"Wir...bevor wir...angegriffen wurden...haben wir uns gestritten. Ich habe einen Fehler gemacht", flüsterte sie. "Er war so wütend auf mich und hat mich stehen lassen und dann...und dann habe ich dieses Monster verärgert, weil ich sein Junges angegriffen habe." Schmutzpfotes ganzer Körper krümmte sich bei den Erinnerungen zusammen und nahm ihr kurz die Luft. "Er ist wegen mir zurückgekommen...Wenn ich nicht gewesen wäre, dann..."
Sie konnte nicht zu Ende sprechen und Muschelklang wusste so oder so, was sie meinte.
"So etwas darfst du gar nicht denken, Schmutzpfote. Wir haben keinen Einfluss auf das Handeln anderer Katzen oder Tiere. Es waren nicht deine Krallen und Zähne, die ihn verwundet haben. Du hast alles getan, was du konntest und manchmal...manchmal reicht das nicht. Das bedeutet aber nicht, dass es deine Schuld ist."
"Warum fühlt es sich dann aber so an? Er hat gesagt, ich soll mir nicht die Schuld geben, und ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht, aber es funktioniert nicht." Schmutzpfote grub die Krallen frustriert in den Boden. Nichts lief so wie sie es wollte. Nicht einmal der blöde Felsen rutschte dahin, wo sie ihn haben wollte.
"Vielleicht solltest du es mal so sehen, wie ich. Sonnenstrahl war schon Krieger, als ich noch ein Junges war und ich und Leopardenschweif hatten immer Angst vor ihm, weil er immer so grimmig und einsilbig war. Und auch als wir größer wurden, hat sich nichts verändert...bis du seine Schülerin geworden bist. Vielleicht wäre er nicht gestorben, wenn du nicht gewesen wärst, aber er wäre auch nie so glücklich gewesen. Ich meine, er hat sich gefreut, deine Trainingseinheiten zu planen, ist freiwillig früh aufgestanden und er hat den anderen Mentoren stolz von deinen Fortschritten erzählt. Bevor du seine Schülerin geworden bist war er nie so."
Schmutzpfote wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie wollte gerne glauben, dass Muschelklang Recht hatte, aber konnten ein paar glückliche Monde wirklich dagegen aufwiegen, dass er gestorben war?
"Und weißt du was? Er würde sich noch viel mehr freuen, wenn du eine Kriegerin wirst", fügte Muschelklang hinzu, aber Schmutzpfote kam ein fast verächtliches Schnauben.
"Ich kann doch nicht einmal einen Stein schieben...", murmelte sie bitter und kniff die Augen zusammen.
"Steine zu schieben ist doch nur der Anfang. Schmutzpfote, du musst dir selbst mehr Zeit geben, zu heilen und dich eizugewöhnen. Es hat sich viel verändert, aber du kannst immer noch eine Kriegerin sein."
"Glaubst du?"
"Natürlich!", betonte die graue Kätzin und schien für einen Moment zu überlegen. "Weißt du was, ich möchte, dass du morgen zur Versammlung mitkommst. Es gibt da jemanden, den du kennenlernen solltest."
Schmutzpfote sah auf und wollte protestieren, aber sie erkannte, dass das kein Angebot gewesen war. Sie schluckte. Schon morgen.
Muschelklang nickte zufrieden und brach das Training für diesen Tag ab und auf dem Rückweg überlegte Schmutzpfote fieberhaft nach einem Weg, die Sache positiv zu sehen.
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