46. Kapitel
Als Schmutzpfote wieder erwachte, filterte bereits Sonnenlicht durch kleine Ritzen in Edgars Versteck. Sie hatte so fest geschlafen, dass ihre Augen verklebt waren und ihre Gedanken floßen zäh dahin. Nach dem Stand der Sonne war es schon nach Sonnenhoch, und obwohl sie demnach serh lange geschlafen hatte, lud die Wärme dazu ein, gleich noch ein Nickerchen dranzuhängen. Schmutzpfote gähnte weit, ihr Kopf fühlte sich an wie in Distelwolle gepackt.
"Guten Morgen!", kam es von draußen, Edgar lugte herein. "Gut geschlafen?"
"So gut wie schon lange nicht", miaute Schmutzpfote und streckte sich ausgiebig, sodass ihre Knochen knacksten als wäre sie schon eine Älteste.
"Freut mich."
Schmutzpfote stemmte sich gerade hoch, als ihr ein verführerischer Geruch in die Nase stieg. Auf einmal waren ihre Instinkte so scharf wie ihre Krallen und Edgar schien es bemerkt zu haben.
"Hungrig?", fragte er mit einem belustigten Blick. "Ich habe was Essbares gefunden, wenn du was davon willst."
"Du hast gejagt?" Schmutzpfote duckte sich, als sie das Versteck verließ und trat in das warme Sonnenlicht. Es tat gut und fühlte sich wie Zuhause an.
"Ähm...nein", gab Edgar mit verlegen zurückgelegten Ohren zurück. "Nicht wirklich. Ich kann nicht jagen. Aber ich weiß, wie man in dieser Gegend was zu essen findet, das einem keine Bauchschmerzen bringt. Das hier", er deutete auf ein kleines Häufchen vor ihm, das nach Fleisch roch, aber keinem Tier ähnelte, das Schmutzpfote kannte. "Ist von einem Restaurant in dieser Straße. Die schmeißen es weg, dabei ist es noch völlig in Ordnung. Verschwendung." Der schwarze Kater schüttelte den Kopf, als wäre er enttäuscht von den Zweibeinern.
Das heißt, es ist Krähenfraß, dachte Schmutzpfote zweifelnd, konnte aber nicht verhindern, dass ihr bei dem Geruch das Wasser im Mund zusammenlief. Es roch nicht verdorben, ganz im Gegenteil. Bevor sie noch länger darüber nachdenken konnte, hatte sie das Fleisch schon so gierig heruntergeschluckt, dass es ihr fast im Hals stecken geblieben wäre. Zufrieden leckte sie sich das Maul und seufzte erleichtert. Sie hatte unterschätzt, wie gut es sich anfühlte, keinen Hunger zu haben.
Edgar beobachtete sie und lächelte. "Du warst wohl wirklich hungrig", stellte er fest.
"Kann man so sagen. Meine letzte Beute ist mir weggenommen worden...das war vor vier...nein jetzt sind es fünf Tage. Seitdem habe ich nichts mehr gegessen...wegen der Schulter."
"Das muss ganz schön geblutet haben."
"Hat es. Der Verband hat geholfen, aber wie du sicher merkst, stinkt er jetzt ganz schön." Schmutzpfote rümpfte die Nase und zerrte an dem Verband, der nicht mehr weiß war, sondern eine graubraune Farbe angenommen hatte. "Aber ich kriege ihn nicht ab!" Der Verband rutschte ihr zwischen den Zähnen durch und schnalzte zurück.
"Warte, du tust dir noch weh!", warnte Edgar. "Hier, du musst nur den Anfang finden, dann kannst du dich einfach auswickeln." Der schwarze Kater musterte den dreckigen Verband, bis er tatsächlich den Anfang gefunden hatte. Dann half er ihr dabei, ihn loszuwerden. Bei den letzten Schichten, die sich vom Blut dunkelbraun gefärbt hatten, ziepte es ein wenig. Als Edgar den Verband endgültig abzog, drangen ein paar Tropfen frisches Blut hervor, aber die versiegten schnell. Zum ersten Mal konnte Schmutzpfote ihr Wunde sehen. Ihre Schulter war verkrustet und an der aufgerissenen Stelle fehlte ihr das Fell. Es sah nicht schön aus, aber zum Glück war nichts gerötet oder geschwollen. Keine Entzündung.
"Das sieht ja schlimm aus", merkte Edgar mit großen Augen an. Wie konntest du damit weitergehen?"
"Oh, ich hatte schon schlimmeres", winkte Schmutzpfote ab, bemerkte aber, wie eingebildet sich das anhörte und fügte hinzu: "Als wilde Katzen sammeln wir überall Narben." Sie sah hinunter auf ihre krumme Pfote und Edgar folgte ihrem Blick. Seine hellblauen Augen füllten sich mit Mitleid, als er den Knick entdeckte, aber er sagte nichts dazu.
"Das Leben in der Wildnis muss hart sein", lenkte er ab.
"Ist es. Aber wenn du mich fragst ist es hier viel schlimmer. All diese Zweibeiner und ihre Monster."
"Monster?", fragte der schwarze Kater und legte den Kopf schief.
"Ja. Ähm..." Schmutzpfote wartete, bis auf dem Donnerweg vor ihnen eines vorbeiraste. "So eines."
"Achso, du meinst ein Auto. Ja, die sind ziemlich gefährlich. Und rücksichtslos. Man muss wirklich sehr vorsichtig sein, manche sind ganz grausam und verlassen sogar die Straße, nur damit sie ein Tier überfahren können."
Schmutzpfote schluckte. "Ich glaube, ich lebe viel lieber im Wald. Da gibt es so etwas nicht." Sie seufzte sehnsüchtig.
"Bist du denn weit weg von dort?"
"Ja. Sehr weit weg", antwortete die Tigerkätzin. "Ich vermisse meine Familie. Aber ich muss zuerst jemanden finden, damit ich zurückkehren kann."
"Wen denn?", wollte Edgar wissen.
"Ich...kenne ihre Namen nicht. Ich habe nur Hinweise auf sie. Ich suche zwei Katzen, eine Blüte der Blattleere und ein trauerndes Wasser. Und ich soll sie in dieser Richtung finden." Schmutzpfote schaute über die Dächer der Baue, musste aber dabei den Kopf in den Nacken legen. Ganz schön hoch.
"Wenn du dich stark genug fühlst, kann ich dich da rauf bringen", meinte Edgar. "Ich habe heute einen einfachen Weg gefunden, den du selbst mit der Schulter hinbekommen solltest."
"Ja bitte!", miaute Schmutzpfote aufgeregt. "Danke, Edgar. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."
Edgar grinste. "Nichts zu danken. Ich helfe gerne. Komm mit!"
Schmutzpfote folgte dem schwarzen Kater dankbar. Er führte sie an den Bauen entlang, half ihr die Vorsprünge hinauf und zeigte ihr Wege, die sie alleine nie gefunden hätte. Ungefährlich war es dennoch nicht, die Zweibeiner schienen es zu mögen, ihre Baue mit glatten Materialien zu bauen, in die man sich nicht hineinkrallen konnte. Schmutzpfote war fast oben angekommen, als sie abrutschte,aber zum Glück packte Edgar sie rechtzeitig am Nackenfell und zog sie über die Kante.
"Das war knapp", merkte er an. "Bist du in Ordnung?"
Schmutzpfote versuchte, ihren trommelnden Herzschlag zu beruhigen und schütelte sich. "Ja. Danke", keuchte sie. Wie oft hatte Edgar ihr nun schon den Hals gerettet? So langsam fühlte sie sich schlecht dabei, seine Hilfe anzunehmen, es fühlte sich fast an, als würde sie ihn ausnutzen. Aber dann sah sie in sein freundliches Gesicht und das Gefühl war verschwunden.
Schmutzpfote sah sich um. Die Dächer waren von der Sonne aufgeheizt und glänzten silbrig. Sie waren unterschiedlich hoch und hatten verschiedene Texturen, die aber allesamt auf den Pfotenballen brannten, wie glühende Steine. Um sie herum erstreckte sich der Zweibeinerort, grau, stinkend und geschäftig, doch ihr Schatten zeigte auf etwas anderes, direkt hinter den Wänden, die ihr den Weg versperrt hatten.
"Edgar, was ist das dort unten?", fragte sie ihren Begleiter.
"Das? Das ist die Müllhalde. Dort kommt alles hin, was die Zweibeiner nicht mehr haben wollen."
Neugierig tappte Schmutzpfote bis zur Kante und schaute sich diesen seltsamen Ort genauer an. Da lagen tote Monster herum, und lauter Unrat, den Schmutzpfote nicht kannte. Es roch nicht besonders angenehm, wahrscheinlich wollten die Zweibeiner diese Sachen deswegen nicht mehr.
"Da drüben sind die kaputten Autos, und da die Metallteile. Da hinten sammeln sie Waschmaschinen und Geschirrspüler. Und da rechts ist alles andere, Kleidung, Plastik und so weiter."
Schmutzpfote verzog das Gesicht. "Nichts für ungut, Edgar, aber ich verstehe das meiste von dem was du sagst nicht."
"Entschuldigung", lachte der schwarze Kater. "Wir haben nicht oft Katzen hier, die aus dem Wald kommen. Pass einfach auf deine Pfoten auf, da unten liegen viele scharfe Scherben uns sowas herum. Und du solltest dort auch nichts essen oder trinken, ich weiß aus eigener Erfahrungen, dass man sich da schnell vergiftet."
"Du warst dort schon mal?"
"Ja, schon öfter. Aber es gibt dort nicht sonderlich viel zu finden, sofern du nicht auf glänzende Sachen aus bist."
"Weißt du, ob dort jemand wohnt?", fragte Schmutzpfote während sie mit Edgar das Dach entlangtrottete. Ihr Schatten zeigte auf die Müllhalde, ganz ohne Zweifel.
"Hm...ich glaube schon, ja. Ich habe zumindest mehrmals zwei Schildpattkätzinnen dort gesehen. Nimm dich aber in Acht, die eine ist ganz schön fies. Ich glaube, sie kümmern sich gerade auch um ein kleines, braunes Junges."
Das hört sich vielversprechend an. Vielleicht sind diese zwei ja die Katzen, die ich finden muss.
Hoffnung keimte in Schmutzpfote auf. Hatte sie ihr Ziel erreicht? Die Aufregung flimmerte in ihrer Brust.
"Ich muss da hinunter", stellte sie fest und musterte die Wände nach Vorsprüngen, um hinunterzuklettern, fand aber keine.
"Nicht so schnell, du brichst dir noch was!", wandte Edgar ein. "Du brauchst doch alle vier Pfoten noch für den Heimweg, oder?"
"Dreieinhalb Pfoten meinst du wohl", scherzte Schmutzpfote halbherzig, sie wollte am liebsten sofort los.
"Meine ich nicht", irritiert sah Edgar sie an. "Denkst du so über dich?"
Verlegen legte Schmutzpfote die Ohren nach hinten. "Naja...manchmal. Es ist schwer, nicht so zu denken, wenn alle anderen mit vier Pfoten laufen können und ich hinter ihnen herhumple."
"Das ist ziemlich traurig...", miaute der schwarze Kater. "Macht dir das gar nicht zu schaffen?"
"Nicht mehr so viel, wie am Anfang", gab die Kätzin zu. "Ich hatte Hilfe." Ihre Stimme stockte, als sie sich vorstellte, wie viele Sorgen sich ihre Familie und Muschelklang sich wahrscheinlich machten. Sie war jetzt schon fast einen ganzen Mond weg.
"Du bist beeindruckend, Schmutzpfote. Komm, ich bring dich da runter." Edgar schien ihr Heimweh bemerkt zu haben und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Er tappte voraus und fand den Weg nach unten scheinbar problemlos, während Schmutzpfote ihm ungeschickt und leicht verdutzt folgte.
Beeindruckend? Was an mir ist denn beeindruckend?
Vielleicht war Edgar auch nur leicht zu beeindrucken, aber keiner von beiden sagte noch etwas dazu. Der Abstieg war viel schwieriger als hinaufzuklettern, vorallem weil Schmutzpfotes Gedanken um die Katzen auf der Müllhalde kreisten. Nur Dank Edgars Hilfe schaffte sie es, nicht abzustürzen.
Sie waren fast unten, als Schmutzpfote auf der Müllhalde eine Bewegung sah. Da waren tatsächlich Katzen! Es sah aus wie eine erwachsene Katze und zwei kleinere, aber mehr konnte sie nicht erkennen. Die Nervosität stieg, aber plötzlich war der Boden unter Schmutzpfote verschwunden und sie krachte nach vorne in Edgar hinein. Der Kater verlor das Gleichgewicht und schlitterte auf der abgeschrägten Fläche auf der er gestanden hatte nach unten. Seine Krallen bohrten sich in den Untergrund, aber er fand keinen Halt.
Nein!
Schmutzpfote warf sich nach vorne und erwischte den Kater gerade noch am Hinterbein. Mit aller Kraft die sie aufbringen konnte, stemmte sie sich gegen den Hang und zerrte Edgar mit sich. Zitternd fand er sein Gleichgewicht wieder. Schmutzpfote entging nicht, wie er seinen Schweif unter seinem Bauch eingezogen hielt.
"Es tut mir so leid! Ich habe nicht geschaut, wohin ich gehe!", entschuldigte sie sich sofort, ihre gelben Augen erschrocken aufgerissen.
Edgar atmete tief durch um sich wieder zu beruhigen.
"Ist...Ist schon gut. Ist ja nichts passiert", stammelte er, aber Schmutzpfote konnte sehen, dass seine Pupillen so groß waren, dass sie das Blau seiner Augen fast vollständig verdeckten.
"Aber es hätte etwas passieren können, ich...es..."
"Wirklich, Schmutzpfote, es ist in Ordnung", beteuerte der schwarze Kater. "Ich nehme deine Entschuldigung an. Lass uns weiter."
Er ist offenbar nicht nachtragend...
Trotzdem fühlte Schmutzpfote sich schlecht, dass sie ihn fast zum Absturz gebracht hätte. Nach allem, was er für sie getan hatte. Aber Edgar kletterte weiter voraus und bremste sie rechtzeitig ab, bevor sie mit ihrem Schwung von der Kante eines Vorsprungs fallen konnte. Kurz darauf waren sie wieder auf festem Grund angekommen und Schmutzpfote überlegte, ob sie sich noch einmal entschuldigen sollte.
Edgar sah sich mittlerweile um und prüfte die Luft. Es schien sicher zu sein. Aber wie lange noch?
Zweifelnd beobachtete Schmutzpfote den schwarzen Kater, der ungeschickt über einen Haufen Unrat hinwegstieg. Sie hatte keine Ahnung, wer sie auf der Müllhalde erwarten würde. Was, wenn es gefährlich wurde? Konnte sie Edgar das zumuten?
Nein, das wäre ungerecht. Er hat schon genug für mich getan.
"Hey...ähm...danke für deine Hilfe. Ohne dich wäre ich ziemlich verloren gewesen. Aber ich glaube, ich...sollte alleine weitergehen."
"Was?" Verwirrt drehte Edgar sich um. "Du willst alleine weitergehen?" In seine blauen Augen trat ein verletzter Ausdruck. "Warum?"
Schmutzpfote kratzte in der Erde unter ihren Pfoten. "Es könnte gefährlich werden...ich will dich da nicht hineinziehen. Ich hoffe...du bist nicht böse?"
"Böse? Nein...nur besorgt. Schaffst du es denn alleine?"
Langsam war Schmutzpfote wirklich verwirrt. Wenn sie ihrer Schwester so etwas gesagt hätte, hätte sie sich einen Klaps auf die Ohren eingefangen und Himmelspfote wäre nicht von ihrer Seite gewichen. Aber Edgar nahm es hin, als wäre es nicht weiter schlimm.
"Ich schaffe es bestimmt. Wenn ich auf dem Rückweg bin, schaue ich bei dir vorbei, versprochen", beteuerte die Tigerkätzin. Sie mochte es nicht, ihn wegzuschicken, er war nett und angenehm unkompliziert.
"Ist schon in Ordnung, Schmutzpfote. Wenn du alleine weitergehen willst, dann drehe ich um. Pass aber auf dich auf. Und wenn du noch einmal Hilfe brauchst, brauchst du nur zu fragen, ja? Du weißt ja, wo du mich findest", miaute der schwarze Kater. Als er ging sah Schmutzpfote ihm hinterher und fühlte sich dabei, als hätte sie ihn ausgenutzt.
Ich musste das machen...es wäre nicht fair, wenn ihm wegen mir etwas passiert...so wie Graufrost.
Schmutzpfote schüttelte den Kopf und betrat die Müllhalde. Es roch unangenehm und Edgar hatte Recht damit gehabt, dass der Boden übersät war mit Splittern und Scherben aller Art, die sich trotz ihrer verhärteten Ballen sofort in die Haut bohrten.
Vorsichtig suchte sich die Schülerin ihren Weg, der gesäumt von Zweibeinermüll und Fliegen war, bis eine unbekannte Stimme über die Müllberge zu ihr herüberwehte. Ihre Besitzerin stand oben auf einem kaputten Monster und wandte Schmutzpfote den Rücken zu. Sie hatte fast vollkommen weißes Fell mit ein paar vereinzelten grauen und orangefarbenen Flecken und das was sie rief, bestätigte alles, was die Tigerkätzin sich erhofft hatte.
"Komm schon, Tränenpfote, es wird bald dunkel!"
Schmutzpfote war angekommen.
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