3. Kapitel
Auf die Lichtung stürmte Gelbschweif, komplett außer Atem und mit einigen blutigen Kratzern auf der Wange. Sein goldbraunes Fell war zerzaust und an ein paar Stellen ausgerissen.
Sofort tauchte Ameisenstern auf der Lichtung auf, da er die Nachtpatrouille geführt hatte, hatte er noch geschlafen, aber nun kam er aus seinem Bau heraus, sein braunschwarz glänzendes Fell stand am Kopf etwas ab, wie Kuckucksfedern.
"Was ist passiert, Gelbschweif?", fragte der Anführer alarmiert und wies gleich danach Schwarzfrost an, Ottersee zu rufen. Die kleine, braune Heilerin kam sogleich herbei und hörte Gelbschweifs Bericht zu.
"Wir waren an der SeeClan-Grenze und haben ganz normal markiert, da sind Löwenschlag und einige Krieger aufgetaucht und haben uns des Beutediebstahls bezichtigt. Sie haben uns kaum Zeit gegeben uns zu verteidigen!"
Gelbschweif rang nach Atem und stürzte schlussendlich zu Boden. Ottersee kümmerte sich sofort um ihn und murmelte etwas von Überanstrengung und Gehirnerschütterung. Erst jetzt sah Schmutzjunges das dünne Blutrinnsal, das in Gelbschweifs Nackenkuhle eine winzige Pfütze gebildet hatte. Die rote Flüssigkeit tropfte auf den Boden und färbte den Staub dunkel.
Wir werden angegriffen?!
Schmutzjunges Herz machte einen verängstigten Sprung. Würden nun gleich feindliche Krieger ins Lager einfallen? Ihr blaugrüner Blick wanderte erschrocken über ihren eigenen Gedanken zum Lagerausgang, doch dort rührte sich nichts außer dem Wind.
Im Gegensatz zu der jungen Kätzin schien Ameisenstern ganz genau zu wissen, was zu tun war.
"Schwarzfrost, Libellenpfote, Kastanienfall und Leopardenschweif, ihr unterstützt unsere Clangefährten an der Grenze. Muschelklang, du bringst die Jungen bei Eichenglut unter, der Ältestenbau ist leichter zu verteidigen."
Schmutzjunges sah, wie Ameisenstern seine Krallen ausfuhr und in den Boden grub, Wut zeichnete sein Gesicht.
"Warte, Ameisenstern. Ich will auch mitkämpfen! Mein Gefährte ist da draußen", rief da auf einmal eine hellbraune Kätzin, deren weißer Bauch leicht angeschwollen war.
Das muss Blattflügel sein, dachte Schmutzjunges und erinnerte sich daran, was ihr Vater gestern erzählt hatte. Die Kriegerin würde bald zu ihr und ihrer Familie in die Kinderstube ziehen.
Ameisenstern schüttelte den Kopf.
"Es wäre unverantwortlich, eine trächtige Kätzin in den Kampf zu schicken. Felsenkralle wird schon heil zurückkommen, er ist einer meiner stärksten Krieger", antwortete der Anführer und legte der hellbraunen Kätzin den Schweif auf die Schultern. "Ich denke, es ist Zeit, dass du in die Kinderstube einziehst."
Schmutzjunges sah, wie Blattflügel den Kopf hängen ließ und irgendwie verstand sie die Kriegerin. Ihr Gefährte war da draußen an der Grenze womöglich in Gefahr obwohl Felsenkralle sicher nicht einfach zu besiegen war. Die Tigerkätzin hatte ihn einmal gesehen, als er ein Kaninchen ins Lager getragen hatte. Er war riesig gewesen, mit harten Muskeln, die sich beim Gehen unter dem Fell bewegten. Schmutzjunges konnte sich nicht vorstellen, dass irgendeine Katze ihn überwältigen konnte. Aber andererseits hatte sie auch noch nie eine SeeClan-Katze zu Gesicht bekommen. Was wenn sie noch viel größer und stärker waren als Felsenkralle?
Unwillkürlich legte Schmutzjunges die Ohren an. Sie wollte nicht, dass ihren Clankameraden etwas passierte! Ein eiskalter Schauer jagte ihren Rücken entlang und sorgte dafür, dass sich ihr Schweif aufplusterte.
Auf einmal spürte sie jedoch einen warmen Schweif an ihrer Flanke, Libellenpfote war neben sie getreten.
"Hab keine Angst, ja? Muschelklang und Ameisenstern werden euch keinen Moment aus den Augen lassen, dir und deinen Geschwistern wird nichts geschehen", miaute der gefleckte Schüler und stupste sie mit der Nase in Richtung des Ältestenbaus. Pfützenwasser und Fuchsblüte scheuchten die anderen Jungen gerade hinein und zischten ihnen zu, sich ja zu benehmen.
Schmutzjunges versuchte, tapfer zu nicken, aber sie kam nicht umhin, sich vor einem möglichen, bevorstehenden Angriff zu fürchten. Ihre Schwester Himmelsjunges prahlte gerne, dass sie sich eines Tages im Kampf beweisen würde, aber für Schmutzjunges war diese Vorstellung schrecklich. Sie kam noch mit dem Wissen klar, dass sie später ihre Beute töten würde müssen, aber das war etwas ganz anderes. Von der Beute ernährte sie sich und ihren Clan, aber einer Katze Leid zuzufügen war für sie sinnlos.
Libellenpfotes Schweif glitt von ihrem Rücken als er auf den Lagerausgang zutappte.
"Wir spielen etwas, wenn ich zurückkomme", versprach der gefleckte Kater bevor er seinen Clangefährten hinerherrannte.
Etwas enttäuscht blieb Schmutzjunges zurück. Sie hatte sich schon so darauf gefreut, endlich jemanden zu haben, der etwas mit ihr zu tun haben wollte.
Einen Augenblick, nachdem die Unterstützungs-Patrouille aufgebrochen war, fühlte Schmutzjunges Muschelklangs Anwesenheit neben sich. Die Kätzin war eine der jüngsten Kriegerinnen, gemeinsam mit ihrer Schwester Leopardenschweif. Ihr Fell ähnelte einer dunklen Gewitterwolke, denn es war dunkelgrau und flauschig, bloß ihre Ohrspitzen, die weiß waren, stachen aus dem Grau hervor wie zwei Gänseblümchen auf ihrem Pelz.
"Komm, Schmutzjunges. Im Ältestenbau ist es sicherer für dich", miaute sie sanft und packte die kleine Tigerkätzin am Nackenfell.
Etwas Staub rieselte herab, als die Kriegerin Schmutzjunges in den Bau setzte. Die Höhle, die gut Platz für vier oder fünf Katzen bot, war kühl und in der Tat etwas zugig, aber noch wurden die Felsen von der Sonne aufgewärmt. In einem Nest neben dem Eingang, einem Spalt zwischen zwei Steinen, lag Eichenglut. Obwohl er ein Ältester und älter als seine Baugefährtin Aschenweide war, sah er viel gesünder und lebensfreudiger aus. Sein braun-weißes Fell sah frisch geputzt und ordentlich aus und seine Augen leuchteten auf, als Pfützenwasser Schwanenjunges und Himmelsjunges zu ihm hinüber schickte.
"Setz dich zu deinen Geschwistern, ja?", Muschelklang gab ihr noch einen kleinen Stups und postierte sich dann vor dem Bau als Wache. Irgendwie beruhigte es Schmutzjunges, dass eine Katze da draußen saß, nur um sie und ihre Familie zu beschützen.
"Hallo, Eichenglut", miaute Schmutzjunges freudig und setzte sich neben ihre Geschiwster. Heute war es ihr nicht so wichtig, dass beide etwas wegrückten, als sie sich zu ihnen gesellte.
"Hallo, ihr Kleinen", begrüßte Eichenglut die drei und glättete seine Schnurrhaare mit einer angeleckten Pfote. "Sagt nicht, ihr wollt schon wieder eine Geschichte."
"Doch!", rief Schwanenjunges und stellte sich an Eichengluts Bein auf. "Du bist mit uns verwandt, du musst uns eine Geschichte erzählen."
Schmutzjunges zuckte beim Tonfall ihrer Schwester zusammen. Wie konnte sie nur so mit einem Ältesten sprechen?
Eichenglut schien das ähnlich zu sehen.
"Ich muss gar nichts, du kleine Ratte", erwiderte er mit einem leisen Fauchen in der Stimme, doch sogleich schnippte ihm ein Schweif an die Ohren.
"Achte auf deine Worte, Eichenglut, das ist meine Tochter mit der du da redest", knurrte Pfützenwasser und zeigte leicht ihre Fangzähne.
Schmutzjunges sah zwischen den beiden erwachsenen Katzen hin und her. Beide waren Hitzköpfe und ließen schnell ihre Wut heraus, es war nicht so unwahrscheinlich, dass sie in beengtem Raum aufeinander losgehen würden. Eichenglut schien sich vor den Jungen allerdings beherrschen zu wollen. Er wandte sich ihnen wieder zu und seufzte genervt.
"Ihr kennt schon alle meine Geschichten. Ich habe keine mehr, die ich euch nicht erzählt habe."
"Gar nicht wahr", warf Himmelsjunges ein. "Du hast gesagt, Schneeschweifs Geschichte erzählst du uns, wenn wir älter sind, weil sie so brutal und blutig ist, aber das hast du nie gemacht." Offensichtlich stolz hob Himmelsjunges das Kinn und grinste selbstgefällig.
Eichenglut stöhnte entnervt.
"Jetzt, wo an der Grenze ein Kampf tobt, wollt ihr eine Geschichte hören, die sich um zerfetzte Katzen und finstere Gestalten dreht? Verstehe mal einer die Jungen von heute."
"Bitte, Eichenglut. Wir werden auch ganz still zuhören", versprach Himmelsjunges und schlug die Augen zu einem herzerweichenden Blick auf.
"Na gut. Aber wehe ihr kriecht in der Nacht zu mir ins Nest, weil ihr euch ins Fell macht."
Schmutzjunges machte es sich gemütlich, denn Eichengluts Geschichten waren lang und immer wunderbar ausgeschmückt und spannend.
Der alte Kater begann mit rauer Stimme zu erzählen.
"Vor langer, langer Zeit gab es im SumpfClan einen Krieger mit dem Namen Schneeschweif. Sein Name kam von seinem weißen Fell, so weiß und glänzend wie ein zugefrorener Teich und er war ein mutiger Krieger, ganz ohne Zweifel."
Während Eichenglut in die Geschichte eintauchte, schloss Schmutzjunges die Augen, um sich alles besser vorstellen zu können.
"Er diente unter der Herrschaft von Weidenstern, einer strengen, aber gütigen Anführerin, die den SumpfClan zu wahrer Größe geführt hatte. Sie hatte Schlacht um Schlacht gewonnen, Siege heimgetragen und ihrem Clan gezeigt, was für Fähigkeiten einen richtigen Krieger ausmachten. Respekt, Erfahrung und Glaube. Das brachte sie schon den kleinsten Jungen bei."
Eichengluts Stimme wurde etwas leiser, mysteriöser. Er blickte Schwanenjunges an.
"Sie lehrte ihnen, Respekt gegenüber allem Leben zu haben", sein Blick wanderte weiter zu Himmelsjunges. "Sie lehrte ihnen, eine Niederlage niemals als Schande zu empfinden, sondern als Chance, zu wachsen und Wissen zu gewinnen." Und schließlich sah er Schmutzjunges an, seine Bernsteinaugen funkelten, als würde ein Feuer in ihnen lodern. "Und sie lehrte ihnen, an sich und ihre Ahnen zu glauben. Mit diesen drei Eigenschaften baute sie ihren Clan wieder auf, nachdem ihr Vorgänger ihn zu Grunde gerichtet hatte. Ihre Krieger lernten, dass du niemals töten musst, um einen Kampf zu gewinnen. Ihre Erfahrungen machten sie weiser als jemals zuvor und nun wussten sie, Dank Weidenstern, dass sie stark waren, obwohl sie nicht geglaubt hatten, dass es möglich wäre, ihre Heimat und ihr Leben wieder aufzubauen."
Schmutzjunges fühlte einen angenehmen Schauer auf ihrem Rücken, als würde warmer Wind durch ihr Fell wirbeln. Gleich würde die große Wende, kommen, das spürte sie. Und sie behielt Recht.
"Aber einer war ganz und gar nicht einverstanden mit Weidensterns Lehren. Doch er war kein böser Kater. Er war eine zerbrochene Seele, deren größter Traum niemals erhört wurde. Schneeschweif wolte nur eines. Anführer werden. Und er war auf gutem Weg, er war stark, tapfer und über alles loyal zum SumpfClan. Doch seine Treue zahlte sich nicht aus. Nach Schattensterns Herrschaft wählte der Clan Weidenstern zur nächsten Anführerin. Schneeschweif fühlte sich verraten. Er hatte alles für seinen Clan gegeben, einfach alles. Er hatte keine Familie, kaum Freunde, alles was er wollte, war dem Clan zu dienen. Als dieser Traum zerbrach, wurde Schneeschweif wahnsinnig. Er fraß nichts, er trank nichts, er schlief nicht. Er brachte jedes einzelne Beutetier im Territorium des SumpfClans zur Strecke, er schlitzte sie auf und sah zu, wie sie verbluteten, er hörte ihrem Chor aus Schmerzensschreien zu und erfreute sich an ihrem Leid..."
Ohne es zu bemerken, ware die drei Jungen näher zusammengerückt, Schmutzjunges fühlte das seidige Fell ihrer Schwester Himmelsjunges neben sich. Sie warf einen kurzen Blick zu ihren Wurfgefährten hinüber, sie alle waren gefesselt aber gleichermaßen entsetzt. Schwanenjunges Maul stand leicht offen, aber keine Worte kamen heraus. Langsam wandte Schmutzjunges sich ieder dem Ältesten zu, der eine dramatische Pause eingelegt hatte.
"Schneeschweif war nicht mehr bei Sinnen, ganz ohne Zweifel. Als seine Kameraden ihn jedoch darauf ansprachen, verlor er vollkommen den Verstand. Er brüllte herum, warum sie nicht dankbar waren, dass er allein sie ernährte, dass er allein sie beschützte. Sein Kreischen hallte, so schrill wie der Schrei einer Fledermaus, von den Barrieren des Lagers wider. Ein paar mutige Krieger wollten Schneeschweif beruhigen, doch er ging auf sie los. Einem von ihnen nahm er mit einem Hieb das Leben. Einen anderen zerfleischte er mit bloßen Krallen und Zähnen, nur getrieben von seiner Wut und dem Gefühl von Verrat tief in seinem Herzen. Sein Clan konnte nur vor Schock erstarrt dabei zusehen, wie er, das weiße Fell blutverschmiert, im Lager umherrannte und sie alle des Verrats beschuldigte, denn sie hätten ihn hintergangen und ihn ausgenutzt. Schließlich griff Weidenstern ein und verbannte Schneeschweif, denn obwohl der Krieger ein Mörder war, so hatte sie immer noch den Respekt vor seinem Leben. Schneeschweif wurde verjagt und kam niemals lebendig zurück. Einige Monde später wurde sein halb verwester Leichnam am Seeufer angespült. Sein Körper war zerfetzt und in jeder erdenklichen Weise misshandelt, von Wunden, die er sich selbst zugefügt hatte."
Schmutzjunges zitterte. Eichenglut hatte so lebendig erzählt, dass sie den Kampf fast vor ihren eigenen Augen gesehen hatte. Sie erschauderte und kauerte sich mehr zusammen.
"Auch heute erzählt man sich manchmal noch Geschichten von Schneeschweifs Geist, der unschuldige Seelen verdirbt. Er sucht sich die heraus, deren Träume niemals wahr wurden, so wie sein eigener Traum niemals in Erfüllung gegangen ist und dann zehrt er von ihrem Schmerz und ihrer Angst, bis er wieder physische Gestalt annehmen kann, so heißt es. Aber zwei Katzen sollten ihn aufhalten, sollte er es denn schaffen, ins Leben zurückzukehren. Es ist eine uralte Prophezeiung, selbst ich habe sie als Junges von einem Ältesten erfahren."
Schneeschweif muss vor so langer Zeit gelebt haben...ob er immer noch da draußen ist?
"Die Blüte der Blattleere und das trauernde Wasser hüten das Geheimnis der Sonne. So lautet die Prophezeiung schon seit unzähligen Blattwechseln, aber Schneeschweif wurde weder unter unseren Ahnen, noch unter den Lebenden je wieder gesehen."
Eichenglut beendete seine Erzählung und schaute die Jungen erwartungsvoll an. Schmutzjunges war mit ihren Schwestern auf einen Haufen gerückt und hatte es nicht einmal bemerkt. Nun verstand sie, warum Eichenglut diese Geschichte nicht hatte erzählen wollen.
Doch eine Frage quälte Schmutzjunges besonders.
Ist die Prophezeiung wahr?
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