Kapitel fünf
Die Sonne stand klar und hoch am Himmel, von keiner einzigen Wolke verdeckt, und doch vermochte sie es nicht, den Schnee, der von den Gipfeln her immer weiter Richtung Tal wanderte, zu schmelzen. Die Luft war rein, von keiner Witterung verhangen und schmerzte in den Lungen, wenn man zu gierig nach ihr schnappte, derartig kalt war sie. So lagen die Berge da, in einheitlicher Stille, als würde der Frost alle Geräusche verschlucken. Nur ein steter, leiser Laut war zu vernehmen: Der Klang von Tieren, die sich ihren Weg bahnten, nicht aufzuhalten von einer solchen Laune der Natur. Jedes Mal, wenn ihre Pfoten die Schneedecke durchbrachen, knirschte es, als würden die Berge, empört über diese Störung ihrer Ruhe, mit den Zähnen reiben. Der Schnee reichte den vier Katzen, die hier, an der nördlichsten Grenze des Territoriums patrouillierten, bis zum Bauch und bildete dort Klumpen aus Eis, die sich am langen Fell festhielten wie Kletten. Es gab kaum GipfelClan-Katzen mit kurzem Fell, weshalb es ihnen nichts ausmachte, von Sonnenaufgang bis Sonnenfall im Frost herumzustreifen, doch bei Kupferglut sah es da anders aus. Der Krieger war nicht hier geboren worden, und obwohl er zwar auch ein dichtes Winterfell bekommen hatte, fror er nach kurzer Zeit, die er hier oben verbringen musste. Eigentlich wusste Honigfang dies, weshalb er meist nicht für die nördlichen Patrouillien eingeteilt wurde, doch der Krieger hatte das Gefühl, dass der zweite Anführer ihn immer noch dafür bestrafen wollte, ihn belauscht zu haben. Das war wohl auch der Grund, warum er mit keinem seiner Freunde hier war. Neben ihm trabte Hasenlauf, eine kleine Kätzin mit grau-braun gestromten Fell, und vor ihm Rostschnauze mit ihrer Schülerin Tupfenpfote. Tupfenpfote war eine der älteren Schüler, sie war nicht mehr weit davon entfernt, zur Kriegerin ernannt zu werden. Wie Kupferglut die anderen Katzen so anschaute, fiel ihm erneut erschreckend auf, wie anders sie waren.
Hasenlauf war nur schwer auszumachen, wenn sie in den kahlen Ästen der Büsche kauerte, Rostschnauze hatte ein weitgehend weißes Fell mit nur einigen roten Flecken, das sich wunderbar der nur teilweise von Schnee bedeckten, roten Heide anpasste, Tupfenpfote ebenso. Eschenfeder und Birkentatze fielen im hohen Gras des Tals kaum auf, Eibendorn hatte stets in den Schatten gelauert, die seinen schwarzen Pelz nahtlos verschluckt hatten. Kupfergluts orange getigertes Fell passte sich nirgendwo an, es gehörte nicht hierher. Er gehörte nicht hierher, und das wurde ihm immer öfter schmerzlich bewusst. Bedrückt schluckte er. Eigentlich hatte der Kater sich vorgenommen, solche Gedanken zu verbannen, sie taten nichts, als ihn herunterzuziehen, doch wie lange konnte er das noch so durchstehen? Die Frage, der Ruf, nach seinem Zuhause, wurde mit jedem Tag lauter. Er mochte die Katzen hier, doch er fühlte sich nicht zuhause, ihre Gebräuche waren nicht die seinen und irgendetwas tief in ihm fühlte sich so an, als ob es nur darauf wartete, endlich entdeckt zu werden, wenn er seine wahre Heimat fand. Ein seufzen entwich ihm, nicht vor Anstrengung, durch den widerspenstigen Schnee zu waten, sondern viel eher vor der Gewissheit, dass er den GipfelClan irgendwann verlassen werden müsse, um sein wirkliches Selbst zu finden.
"Was denn, schon erschöpft?", fragte Rostschnauze und stupste seine Schulter mit ihrer roten Schnauze an, die ihr ihren Namen eingebracht hatte.
"Erschöpft? Ich doch nicht, wie kommst du denn darauf?", rüstete Kupferglut sich belustigt, dankbar für eine Ablenkung von seinen eigenen, trüben Gedanken.
"Gut so, denn wir sind gleich beim Windebach, da wirst du deine Kraft noch brauchen", sie bedeutete ihm mit einem Schwanzschnippen, ihr zu folgen. Neugierig trabte der Kater ihr hinterher, schließlich hatte er den Windebach noch nie gefroren erlebt - er war eben nicht oft bei Schnee hier oben. Tatsächlich, nur wenige Fuchslängen vor ihnen fiel der Boden leicht ab, bildete das Ufer des Baches, der alle anderen Wasser hier speiste. Das Flussbett war breit und flach, nur in der Mitte lief ein recht schmaler Strom zwischen den vielen Felsen her, was auch erklärte, warum der Bach im Tal so wenig Wasser führte.
"Der größte Teil ist bereits gefroren", erklärte Rostschnauze, die neben ihm stand und ebenfalls hinabblickte.
"Danke, das war mir auch bewusst", antwortete der Kater schnippisch, bevor er den Blick ins Tal unter ihnen warf. "Aber hilf mir trotzdem kurz auf die Sprünge, wir kommen doch gleich zu dem Vorsprung, von dem aus man das Lager sieht, oder?"
"Ach, das ist dir also nicht bewusst?", fragte die Kätzin amüsiert und warf ihm einen Blick zu. "Aber ja, von hier aus ist das kaum noch der Rede wert", fügte sie dann freundlicher hinzu. "Also, weiter geht's! Tupfenpfote, wie schlägst du dich bisher?" Die Kriegerin wandte sich vom Kater ab um zu ihrer Schülerin zu gehen und sie bei eventuellen Schwierigkeiten beim Überqueren des Baches zu unterstützen. Das war natürlich nicht nötig, da es zwar durchaus etwas Geschick erforderte, trocken drüber zu kommen, aber ein paar nasse Pfoten waren eben auch die größte Gefahr. Doch so kannte Kupferglut Rostschnauze; stets besorgt und immer in Bereitschaft. Um nicht zurückzufallen sprang auch er ins Flussbett hinunter und war mit einigen schnellen Schritten auch schon auf der anderen Seite.
Rostschnauze hatte sich nicht verschätzt, es dauerte wirklich nicht lang, bis sie den kleinen Vorsprung erreicht hatten, von dem aus sie auf das Lager blicken konnten. Schräg unter ihnen befand sich der Berghang, in dem die Höhlen lagen, in denen sie sich zumeist aufhielten, und direkt davor der Lagerplatz mit dem Felsen, von dem Fichtenstern zu reden pflegte. Ganz klein waren Flecken verschiedener Farbe zu erkennen, die wohl die Clankatzen sein mussten. Kupferglut meinte, das orangene Fell von Beerenklang ausmachen zu können, und links, etwas vom Lager entfernt, zwei weitere Katzen.
"Von hier aus sehen sie aus wie kleine Ameisen", stellte Tupfenpfote vergnügt fest und Hasenlauf stimmte ihr mit einem Nicken zu. Rostschnauze hingegen schien von etwas anderem abgelenkt zu sein, sie blickte starr zu den Gipfeln, ihre Ohren zuckten in verschiedene Richtungen, als versuche sie, auszumachen, woher ein Geräusch kam. Verwirrt schaute Kupferglut ihr zu, bis auch er es vernahm. Nicht mit seinen Ohren, viel eher mit seinem gesamten Körper. Der Boden schien zu vibrieren, die Luft zu flimmern - sein Nackenfell stellte sich unwillkürlich auf, als wisse es etwas, das ihm noch nicht bekannt war.
"Was ist das?", fragte Tupfenpfote leise, ihre Augen vor Angst glänzend.
"Das ... ist eine Lawine", antwortete Hasenlauf langsam und machte einige Schritte rückwärts. Am Horizont ließ sich langsam eine riesige, weiße Wand erkennen, gespickt von Ästen und Steinen, die sie auf ihrem Weg der Zerstörung mitgerissen hatte. Wie ein gewaltiger Fluss bahnte sie sich ihren Weg ins Tal.
"Zu den Felsen!", rief Rostschnauze, bevor sie, erschwert vom hohen Schnee, zu den drei großen Steinvorsprüngen rannte, die zwei Baumlängen von ihnen entfernt auf sie blickten. Kupferglut stürmte ihr, gemeinsam mit den anderen beiden, hinterher. Es fühlte sich schwerer denn je an, durch den Schnee zu gelangen, der mit aller Kraft zu versuchen schien, ihn aufzuhalten. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er, neben seinen Begleitern, unter den Felsen Schutz fand.
"Wird die Lawine das Lager treffen?", miaute Tupfenpfote leise, mit starrem Blick nach draußen. Die Schülerin kauerte neben ihrer Mentorin, ihr Schweif peitschte unruhig hin und her und ihr Fell war bis auf das letzte Haar aufgestellt. Kupferglut hatte gar nicht daran gedacht, was die Lawine auf ihrem Weg alles zerstören konnte. Und dem Blick zufolge, den Rostschnauze und Hasenlauf sich zuwarfen, hatten die Kätzinnen dies auch nicht getan.
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