9 ✧ Wildsprung
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Irritiert zuckte Morgenleuchten mit den Ohren. Das klang nicht gut... Genauer gesagt nach etwas mehr als ›einem Haken‹...
»Kannst du es mir erstmal zeigen?«, bat die Königin trotzdem - und stellte sich plötzlich die Frage, ob es dieses Risiko nicht wert wäre, um nach Hause zu kommen. Schließlich war sie nichts ohne ihren Clan, und was sollte schon aus ihr werden, wenn es ihr nicht gelang, von ihr zu fliehen.
Bommel hatte gesagt, diese abscheulichen Wesen würden ihr ihre Jungen stehlen. Wenn ihr einzig wahrer Traum plötzlich so unerreichbar schien, wenn sie mit dieser einen, gigantischen Dummheit ihr ganzes Leben weggeworfen und ihre Kinder, ihre Familie und ihre Heimat verloren hatte, was sollte sie dann noch tun?
Nein. Aufgeben war eindeutig keine Option. Sterben auch nicht. Also war das einzige, was ihr noch blieb, zu fliehen und dabei möglichst zu überleben - egal, wie skeptisch Bommel, der sich hier wesentlich besser auskannte als die getupfte Königin, wirkte. Wahrscheinlich hatte der pummelige Hauskater sein ganzes Leben an diesem Ort verbracht und kannte jeden Winkel, jeden Ausgang und jede Gefahr in- und auswendig, wie Morgenleuchten ihr Lager kannte.
»Also schön«, miaute der Kater. »Dann mal los, Leuchti!«
Leuchti?, fragte sie verwirrt, folgte dem trottenden Hauskater aber ohne zu zögern. »Wir müssen die Treppen hoch.«
Die ›Treppen‹ schienen seltsame, aufeinander gestapelte Felsbrocken zu sein, von derselben grellweißen Farbe wie der Rest des stinkenden Baues. Mit erstaunlichem Geschick sprang Bommel die glatten Steine hoch, die getupfte Königin hinterher. Als die Steinplatten ein Ende hatten, fühlte sie sich, als hätte sie sich keine Schwanzlänge bewegt - Hier oben sah alles praktisch genauso aus, nur, dass die Gegnstände andere Formen hatten und sich zu dem Schneeweiß auch noch Rotbraun und hier und da ein Tüpfelchen Blau dazugesellten.
Durch eine offene Tür hindurch führte der braun getigerte Kater Morgenleuchten in einen kleineren Raum, der im Vergleich zum Rest des Baues erstaunlich gemütlich aussah. Auf dem Boden und dem riesigen Gegenstand direkt vor den beiden Katzen lagen weiche Felle, aber Bommel tappte zielsicher daran vorbei und erklomm einen kleinen Vorsprung in der Wand.
Dort befand sich ein weiteres Fenster, eine kleine, durchsichtige Wand, auf dessen anderer Seite sich zahllose silberne Pfade und unförmige Monster befanden - die zweite Welt, wie Morgenleuchten sie innerlich taufte.
»So. Das is' wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, von hier abzuhauen - durch 'ne Tür kommste nicht.«
Bommel blickte sie erwartungsvoll an, als sei es vollkommen offensichtlich, was er meinte.
Da bemerkte Morgenleuchten den frischen Luftzug, der ihre Schnurrhaare zauste und dann den Schlitz zwischen Wand und Fenster, der nach oben hin fast so breit wurde wie ihr Kopf.
»Du meinst... ich soll da durch?«
»Jup. Du bist doch schlank, da passt das schon.«
Nicht nur, dass sie ihre Jungen bei dem Versuch völlig einquetschen würde - auch ging es hinter diesem Fenster fast eine Baumlänge in die Tiefe, und unten befand sich nichts als steinhartes graues Zeug.
»Meinst du wirklich, das funktioniert?«
Bommel ließ die runden Ohren hängen.
»Nein. Aber ich meine... was willste sonst machen? Ich mein', sonst kommst du wahrscheinlich nirgendwo raus. Und ich bin hier seit achtzig Monden, ich muss es wiss'n.«
Die Kätzin atmete tief durch, zweimal ein und aus, und wandte sich dann an den Kater neben ihr.
»Ich mache es. Danke, Bommel. Das werde ich dir nie vergessen.«
»Jaja. Passt schon, Leuchti. Vielleicht seh'n wa uns nochmal, ma schau'n. Und jetzt ab mit dir, viel Glück.«
In Bommels Augen stand ein seltsames Leuchten. Ein Blick, den sie nicht so richtig deuten konnte, aber wenn sie raten müsste, hätte sie eine Mischung aus Freude und Wehmut vermutet.
»Wir sehen uns nochmal, bestimmt. Irgendwann, vielleicht sogar mit Pumaherz und meinen Jungen.«
Die Gedanken an ihre Familie gaben ihr Kraft wie nichts anderes, und obwohl wieder diese Kralle in ihrem Herzen zustach, duckte sie sich neben den Spalt, spannte all ihre Muskeln bis zum Zerreißen - und sprang.
Seid jetzt ganz stark, meine Kleinen, flüsterte sie noch im Flug ihren Jungen in ihren Gedanken zu, als sie schmerzhaft in den Spalt hineinrutschte.
Der Vorderkörper ragte in die Freiheit hinaus, sie spürte schon die kalte Luft - in die sich ein seltsamer Gestank mischte - aber ihre Hinterbeine strauchelten noch über Bommel im Zweibeinerbau.
Erst mit der linken, dann mit der rechten Hinterpfote krallte sie sich am Fenster fest und stieß sich mit aller Macht ab - dann sprang sie in die Tiefe.
Einen Moment lang fühlte es sich so an, als würde sie fliegen. Morgenleuchten hatte sich schon oft gewünscht, fliegen zu können, dieses Gefühl von Freiheit zu spüren, wenn man sich mit mächtigen Schwingen in die Lüfte erhob.
Ja, sie fühlte sich frei, zumindest für einen Herzschlag. Ein Herzschlag, in dem all ihre Trauer, ihre Liebe, ihre Wünsche und Sehnsüchte mit dem kalten Blattleerewind davonjagten, einfach wegschwebten. Und sie flog, und dieser Moment dehnte sich endlos lange weiter. Es hätte ein Mond, ja ein Blattwechsel vergehen können, in der sie sich einfach nur von der Luft treiben ließ und diese Freiheit, diese Unabhängigkeit genoss.
Dann ging es abwärts, rasend schnell kam der Boden näher. Kalter, harter, tödlicher grauer Steinboden.
Und dann war dieses Gefühl vorbei, als sie auf dem Boden aufschlug. Erst spürte sie nur die Härte, dann explodierte flammender Schmerz in jedem ihrer Körperteile - bis alles in endloser Finsternis versank.
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