19 ✧ Wolfsheulen
━━━━━━ ✧ ━━━━━━
Die Schneeflocken fielen dichter und dichter, bis die beiden Reisenden kaum noch die Pfote vor Augen erkennen konnten. Der Schneesturm glich einem einzigen weißen Nebel, und nur der rötliche Pelz des Fuchswelpen sorgte dafür, dass Morgenleuchten ihre Begleiterin noch erkannte - selbst die markante Schweifspitze verschwand derartig im Schnee, als wäre sie selbst ein Teil des unendlichen Weiß.
Jetzt hatten sie endlich die Spitzen der Bergausläufer hinter sich gelassen und waren beinahe schon an der FunkenClan-Grenze angekommen, da erklang ein leises Geräusch, das die beiden die Ohren spitzen ließ. Ein hohes Winseln, ein Heulen gar, das ein wenig klang wie das von Waldi. Und kurz hielten die beiden inne. Lauschten.
Aber alles, was sie zu Ohren bekamen, war nur der eisige Wind. Als das Heulen für eine längere Zeit verschwunden war, tappten - beziehungsweise hüpften, so hoch war der Schnee mittlerweile - die Wanderer einfach weiter.
Und wieder einmal wurde der Königin klar, dass es wenige Dinge gab, sie sie so sehr hasste wie die Blattleere. Die Kälte, die ihr durch den Pelz, durch die Haut und durch das Fleisch bis in die Knochen kroch, jeden Funken Wärme aus ihr heraussaugte wie eine blutdurstige Fledermaus. Und der Frost, der bis Sonnenhoch die Gräser unter ihren Pfoten mit einem silbernen Schleier überzog.
Ein Schleier, der diesem Schneetreiben verdammt ähnlich sah, wie sie gerade feststellte. Würde sie nicht spüren, wie das Gelände unter ihren Pfoten stetig den Berg hinabführte, hätte sie glatt vermutet, sie hätten sich verlaufen. Ihr Orientierungssinn war immer schrecklich gewesen - ohne Funkenmond und den hellsten Stern wäre sie wahrscheinlich im ewigen Eis hoch im Norden gelandet - aber wenn sie nicht einmal sehen konnte, was direkt vor ihren Pfoten lag?
Wieder ein Heulen, mit derselben Stimme, aber tiefer. Tief und fast etwas traurig. Wie das Klagelied, das der Wind an besonders finsteren Tagen zu singen pflegte, ein Lied, das von all dem Elend auf der Welt, von Plagen, Schmerz und Tod erzählte. Aber das Heulen klang wunderschön, so gefühlvoll, wie eine Mutter mit ihren Jungen umgeht.
Dieses Geräusch jagte der Königin einen Schauer über den Rücken, und auch der Füchsin sträubte sich das dunkelrote Nackenfell, auf das sich eine samtene Schicht aus Schnee gelegt hatte. Angst kroch ihr das Genick hinauf, krallte sich in ihrem Herzen fest.
Ist das... Wolfsheulen?
Morgenleuchten hatte erst einmal - bei dem unglücklichen Zusammenstoß mit dem halb verhungerten Graupelz, dem sie diese tiefe Narbe an ihrer Flanke verdankte - einen Wolfs gesehen, und das dürre, verfilzte Exemplar hatte nur wild um sich geschnappt und versucht, seinen nagenden Hunger zu stillen. Aber sie hatte Geschichten gehört von Wölfen, die wunderbare Lieder zum Himmel empor sangen.
Vielleicht war das einer dieser mystischen Sänger, der seine Klagen in die Welt hinausrief, in der Hoffnung, dass ihn jemand hörte und ihm half? Kurz packte Mitleid ihr Herz, und sie wollte sich beinahe schon nach dem Verlorenen umsehen und ihm tröstend über den Kopf schlecken. Vielleicht suchte auch er seine Familie, die, die ihn liebten? In dem Falle könnte Morgenleuchten ihm jedenfalls genug Mut machen.
Aber ihr Mitleid verflog recht schnell, als sich eine zweite Stimme zum Heulen dazu mischte. Langsam, aber sicher stieg ihre Panik wie das Wasser im endlosen Meer bei einer Flut, und mehr und mehr Wolfsstimmen schickten ihr Heulen in den Schnee hinein. Bis Morgenleuchten fünf zählte. Fünf Heuler, die immer lauter wurden, bis sie so unerträglich nahe schienen, dass Morgenleuchten am liebsten gerannt wäre wie ein junges Reh.
Aber ich wollte auch vor Waldi fliehen, und sie hat nur meine Hilfe gebraucht...
Unsinn - diese Wölfe waren weder harmlos, noch kleine Welpen und erst recht nicht allein. Mit donnerndem Herzen, aber nach außen hin so ruhig wie irgendwie möglich, rief sie der Füchsin durch das Schneetreiben hindurch zu: »Wir müssen uns beeilen!«
So schnell sie mit ihren eigenen drei Beinen und den kurzen des Fuchswelpen laufen konnten, eilten die Reisegefährten nun den verschneiten Hügel hinab, einfach weiter und weiter, einfach weg von den Wölfen, deren Heulen jetzt so klang, als sei es kaum eine Baumlänge entfernt. Jetzt waren es keine langgezogenen Gesänge mehr, nein, mehr wie das Bellen eines Hundes. Kurz und schroff.
Der Schleier aus Schnee vor ihr war so dicht, dass sie es erst bemerkten, als es schon zu spät war - der silbergraue Wolf, der hoch wie die Berge aufragte, von denen sie kamen. Dichter, vernarbter Pelz und hungrig glühende Bernsteinaugen, in denen ein Feuer zu lodern schien.
Nichts war böse an diesem Geschöpf, das wusste Morgenleuchten instinktiv, und auch Waldi schien die Verwandtschaft mit dem Wolf zu spüren - aber sie sah denselben wütenden Hunger im Blick des Graupelzes wie bei jener Begegnung, von der sie noch immer eine Narbe hatte. Hunger an der Grenze der Verzweiflung, getrieben von der panischen Angst, den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr zu erleben. In den endlosen Schatten des Todes gestürzt zu sein, wenn sie nichts in den Magen bekämen.
Ja, dieses heulende Wolfsrudel war verzweifelt.
Und jetzt hatten sie die Beute gefunden, die ihnen das Leben retten konnte, zumindest für einen Sonnenaufgang mehr.
━━━━━━ ✧ ━━━━━━
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top