15 ✧ Nachtflüstern


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Morgenleuchten hatte als Junges und Schülerin stets gedacht, die Nacht sei absolute Finsternis. Dunkelheit, die Zeit der Geheimnisse. Eine Zeit, in der nur die finstersten Kreaturen ihre Rufe durchs Land schickten und in der hinter jeder Ecke ein Schatten lauert.

Mittlerweile wusste sie es besser. Sie wusste, dass keine Dunkelheit absolut, keine Finsternis grenzenlos war. Denn nur nachts sah man die Sterne. Nur Nacht erleuchteten Glühwürmchen ihren Pfad und nur nachts sah sie auch das kleinste Licht, das am Tage schwach und kaum sichtbar gewesen wäre. Weil in der Dunkelheit jedes Licht einen Unterschied machte.

Ein halber Mond war vergangen, seit sie Funkenmonds Wald verlassen hatte, aber diese seltsame Katze war wie ein schwarzes Loch in ihren Gedanken - es zog alles an, aber war nicht wirklich zu fassen.

Funkenmond war eine seltsame Katze - wenn sie denn überhaupt eine Katze war. Die Wildkätzin selbst schien sich nur als eine Art Medium zu sehen, mit der die Mondkatze - wer auch immer das wieder war - mit lebenden Katzen kommunizierte und sie Befehle ausführen ließ.

Die Wildkatzen - da war Funkenmond bestimmt nicht die einzige - verehrten also den Mond. Die Clankatzen die Sterne. Gab es wohl auch ein Volk von Katzen, das die Sonne anbetete, diesen glühenden Feuerball, der schon lange hinter dem Horizont verschwunden war, als Morgenleuchten in das tiefe Tal vor ihr den Abstieg begann.

Am Horizont ragten Berge auf, hoch wie die Wolken, und die blauäugige Kätzin hoffte einfach, dass es die Berge waren, deren Ausläufer die Grenze des FunkenClan-Territoriums bildeten. In der Blattgrüne waren ihre Gipfel nicht schneebedeckt - im Gegenteil, das Moos und das Gras färbten die Himmelswächter in jenem grüngoldenen Ton, in dem auch die Täler und Wälder in ihrer Heimat erstrahlten. In derselben Farbe wie Pumabrands warme Augen.

In ihrem Inneren formte sich ein Bild von ihrem Gefährten, und unwillkürlich lief sie schneller. Der hellste Stern - der einzige, der des Nachts nicht über das Silbervlies wanderte, sondern ihr an Ort und Stelle den Weg nach Hause wies - strahlte hell wie die Sonne.

Und Morgenleuchten stellte sich vor, dass es ihre Eltern waren, die dort strahlten. Nur für sie. So wie die Königin selbst einst für ihre Kinder am Himmel strahlen und stolz auf sie hinabblicken würde.

Die Gedanken beflügelten ihre dreibeinigen Schritte; der lodernde Schmerz in ihrem gebrochenen Knochen war fast vollständig verschwunden, seit Funkenmond das Bein geschient hatte.

Gerade wollte sie einen fast schon übermütigen Sprung machen, da bohrte sich etwas von innen gegen ihren Bauch, und sie keuchte auf. Blieb stehen und wäre beinahe den Abhang hinuntergestürzt, als sie begriff, dass ein Junges sie getreten hatte.
Meine Kleinen, dachte sie voller Liebe, ihr werdet einmal Helden sein. Und wenn nicht für den Rest der Welt, dann immerhin für Pumaherz und mich. Denn ihr wart es, die mich eigentlich nach Hause geführt haben.

Es war fast schon seltsam, wie man Katzen so lieben konnte, obwohl man sie überhaupt nicht kannte. Aber Morgenleuchten wusste, dass ihre Kinder die schönsten, klügsten und liebenswürdigsten Katzen werden würden, die die Clans ge gekannt hatten. Und Pumaherz wusste das auch, da war sie sich ganz sicher.

»Bald werden wir zuhause sein«, flüsterte die trächtige Kätzin, den Blick auf die Gipfel in der Ferne gerichtet, zu denen der hellste Stern am Himmel sie führte.
»Das verspreche ich.«

Aber dann kamen ihr die Worte Funkenmonds in den Sinn, und sie fragte sich, was ›Zuhause‹ überhaupt bedeutete. War es wirklich nur das Lager am Hang des Feuerberges, das ihr Zuhause war? Und würde es sich totenstill, ohne Talschlummers Schnarchen, das sie immer so gestört hatte, ohne das Quieken der Jungen und das Schnurren der Krieger noch anfühlen, als wäre es ihr Zuhause?

Wonach suchte sie überhaupt, was wollte sie finden, wenn es nicht das Territorium war? Nicht das Lager, in dem sie so viele Monde verbracht hatte, nicht den Bau, den das flüssige Gestein auf der anderen Seite des Hanges wärmte?

Morgenleuchten wusste, dass sie die Antwort bereits kannte.
Denn so sehr sie vom ständigen Schnarchen, Murren, Grummeln und Flüstern ihrer Clan-Gefährten genervt gewesen war, in jeder der stummen Nächte, in denen es nur sie und die Stille gegeben hatte, hatte sie es so sehr vermisst, dass es wehtat.

Nein, sie suchte nicht nach einem Ort. Nicht nach dem Territorium, das sie ihre Heimat nannte. Sie suchte nach den Katzen, die sie liebte, nach dem Clan, in dem sie Zuhause war.
Sie suchte nach ihrer Familie, ob sie im FunkenClan-Lager waren oder auf der anderen Seite der Welt. Der Ort, an dem sie waren, war ihr völlig gleich.

»Wir werden sie finden«, flüsterte sie ihren Jungen zu, und es schien, als wisperte der kalte Nachtwind zurück.

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