12 ✧ Silberpfad
━━━━━━ ✧ ━━━━━━
Zwei silberne Pfade führten in die Ferne hinein - einer vor ihr, als ein Donnerweg, den die Natur sich zurückerobert hatte. Der andere als ein finsterer Wolkenschleier, der fast parallel zu dem Silberweg zu ihren Pfoten verlief.
Nicht eine runde Pfote walzte über den überwucherten Stein, kein furchterregendes Auge starrte sie aus leuchtenden Höhlen an. Nein, dieser Donnerweg war verlassen wie die Ruinen im FunkenClan-Territorium nahe der Küste.
Fast einen halben Mond lang war sie so umhergeirrt, hatte sich verzweifelt an die Hoffnung geklammert, dass der SternenClan ihr mit diesem Silberpfad ein Zeichen schicken wollte und mit dem Wolkenschleier erst recht. Hatte einfach gehofft, dass sie nur lange genug laufen musste und schon käme sie nach Hause.
Je häufiger die Sonne sich aus ihrem Nest am Horizont erhob, desto stechender wurde die Sehnsucht in ihrem Herzen. Die Sehnsucht nach Pumabrand, nach Glücksstrahl, Meisenruf und Orkanfunke und all den anderen Katzen, die ihr so viel bedeuteten, dass sie es niemals hätte in Worte fassen können. Nach ihrer Familie. Und nach ihrem Zuhause.
Und während die Königin so den silbernen Pfad entlangtappte, erinnerte sie sich an ihren zweitgrößten Wunsch, nach der Sehnsucht, eine Familie zu gründen - die Welt zu sehen. Zu entdecken, was jenseits der Grenzen lag.
Und dieser Wunsch war ihr wohl erfüllt worden - sie hatte alles mögliche gesehen, viel mehr, als sie sich jemals hätte erträumen können. Aber jetzt - jetzt wünschte sie sich nur, dass sie und ihre Jungen nach Hause kamen.
Dass ihre und Pumaherz' Kinder im FunkenClan geboren werden würden, erschien ihr unumstritten. Es war immer klar für sie und ihre Familie gewesen, dass ihre Jungen dort geboren werden und aufwachsen würden, wo sie alle zuhause waren.
Nun schien ihr das nicht mehr so sicher. Mehr so, als könne sie sich glücklich schätzen, wenn sie jemals mit ihren Jungen im lichten Wald und dem Tal ihrer Heimat ankam.
Nicht ein Stern leuchtete am Himmel, viel zu dicht war die Wolkenwand, sie sich von einem Horizont zum anderen erstreckte und das Gewölbe über ihr so verdunkelte, dass sich selbst die Silhouetten der Bäume kaum finster vom Himmel abhoben, als sie den Blick auf die Stelle richtete, an der er und die Erde sich trafen.
Der Königin stieg ein verführerischer Duft in die Nase. Ein Duft, den jede andere Katze als den widerlichen Gestank von Krähenfraß wahrgenommen hatte und der die ausgehungerte Königin nun magisch anzuziehen schien wie der Duft der schönsten Blüte der Blattfrische.
So schnell es auf drei Beinen eben ging, stürzte sie auf den Geruch zu - und tatsächlich, dort, am Rande des verlassenen Donnerweges, lag eine riesige Ratte, die aussah, als sei sie schon viele Sonnenläufe tot. Der Gestank kümmerte die dürre Königin nicht, sie schlang in großen Bissen das alte Fleisch herunter, und es fühlte sich an, als hätte sie nie etwas Köstlicheres probiert.
Beinahe die ganze Ratte fraß Morgenleuchten, bis die hellen Markierungen im Gesicht der Königin blutverschmiert waren und der nagende Hunger, der ihren Magen schier zu zerfressen schien, endlich nachließ. Nur noch das struppige Fell war noch übrig, in dem sich schon Fliegenmaden eingenistet hatten.
Kurz bekam Morgenleuchten Mitleid mit der Ratte, und die Königin bedankte sich für das Opfer, das das Nagetier gebracht hatte, damit sie und ihre Jungen leben konnten.
Leben. Was bedeutete das eigentlich? Die Frage hatte sich Morgenleuchten noch nie gestellt, aber jetzt, wo sie diesen endlos langen Silberpfad mit der Geschwindigkeit einer verletzten Schnecke entlanghumpelte, schien sie so viel Zeit zu haben, dass sie sich etliche tiefgründige Fragen stellen konnte.
Warum lebte sie denn überhaupt? Es war so viel geschehen in der Vergangenheit, und es würde noch so viel geschehen, und diese eine Katze war so ein kleiner Teil davon - aber wenn sie etwas tat, konnte das dennoch unglaublich viel verändern.
Wenn irgendeine Kätzin vor Tausenden von Monden sich dagegen entschieden hätte, Mutter zu werden, dann wäre sie jetzt nicht hier. Und wenn ihre Jungen nicht beim FunkenClan aufwuchsen, würden so viele Dinge nicht geschehen, die sonst passiert wären. Und irgendwann würde man sie und ihre Jungen und ihre Geschichte vergessen, davongespült vom Regen der Zeiten.
Aber gab es jemanden - oder etwas - der dafür sorgte, dass das passierte? War es der SternenClan? Wenn ja, wer entschied dann über die Schicksale der Katzen, die nicht an ihn glaubten? An die der Zweibeiner und Füchse und all der anderen Tiere? Wer entschied, dass diese Ratte sterben musste? Wer entschied, ob Morgenleuchten jemals zurück nach Hause fand?
Natürlich wusste die Kätzin es nicht - aber sie glaubte daran, dass es noch etwas gab. Etwas, das älter war als die Gebeine der Erde, größer als das Silbervlies und mächtiger als jedes lebendige Wesen. Etwas, das darüber entschied, was mit ihr passierte. Denn sie wusste, wenn der SternenClan sie sah, würden sie ihr ein Zeichen schicken - aber ihre Pfoten setzen, das konnten die Kriegerahnen nicht.
Und vielleicht... vielleicht entscheidet niemand anderes über mein Schicksal. Vielleicht liegt es in meiner Macht, was mit mir geschieht.
Und mit diesen Gedanken trottete die Königin den Silberpfad entlang, bis zum nächsten Morgengrauen, als die Sonne Speere aus Licht über das Land schoss.
━━━━━━ ✧ ━━━━━━
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top