6. Kapitel

S C H A T T E N P F O T E

Verdutzt blickte Schattenpfote Honigwolke nach, doch das Einzige, was er sah, war der buschige, rot-weiße Schweif der Heilerin, der zwischen den Schilfstängeln verschwand.

Und so saß er da, verloren wie ein mutterloses Junges, unverwandt auf den Eingang des Lagers starrte.

Endlich regte sich etwas zwischen den Schilfstängeln, und eine silberne Kätzin mit weißen Sprenkeln und Streifen schob sich zitternd ins Lager, die blauen Augen weit aufgerissen.

"Mondpfote, was ist passiert?", fragte der graue Kater seine Baugefährtin erschrocken.

"Ich war an der SturmClan-Grenze spazieren. Und dann hat mich eine Patroullie auf unserem eigenem Territorium angegriffen! Falls man das "Patroullie" nennen kann. Der SturmClanist nun scheinbar so arm dran, dass sie schon zwei Schüler allein auf Grenzpatroullie schicken."

"Das ist ja furchtbar! Wir sollten es Federstern sagen."

"Natürlich sollten wir das! Aber er ist gerade in seinem Bau. Was soll's, ich gehe hinein und sag ihm bescheid", knurrte Mondpfote entschieden.

"Nein! Wir dürfen ihn nicht stören!", miaute Schattenpfote.

"Sonst was?", fauchte die silberne Kätzin.

"N-nichts!", wimmerte er erschrocken. So kannte er Mondpfote gar nicht.
Doch diese ignorierte ihn und stapfte zu Federsterns Bau, einer Mulde zwischen Schilfhalmen.

Schattenpfote ließ sie stehen. Er wandte den Blick wieder dem Lagereingang zu, als er dort eine Bewegung vernahm. Es waren seine Wurfgefährten Eulenpfote und Kleepfote, die, fröhlich miteinander plaudernd, ins Lager tappten, dicht gefolgt von ihren Mentoren Morgenflügel und Schneetanz.

"Hey, Schattenpfote! Was ist los? Du siehst aus, als wärst du auf einen Igel getreten!", neckte Eulenpfote seinen Bruder.

Der graue Kater erzählte seinen Geschwistern von der misslungenen Jagd, von Efeubrands Wut und Honigwolkes Reaktion.

"Mach dir nichts draus! Die nächste Jagd wird besser", wollte Eulenpfote ihn aufmuntern.

"Du verstehst das nicht!", widersprach Schattenpfote. "Ich will nicht jagen. Nicht kämpfen. Nicht töten!"

"Der SternenClan wird es wissen", miaute Kleepfote verträumt. "Honigwolke wird bald zurückkehren und dann weißt du, welcher Pfad für dich in den Sternen steht."

"In den Sternen!", schnaubte Eulenpfote verächtlich. "Der SternenClan hat dem SturmClan auch nicht geholfen, als die Erde aufgebrochen ist. Sie haben Rankenfluss auch nicht geholfen, als er gestorben ist! Das sind Geschichten für Junge, weiter nichts."

Mit diesen Worten stapfte er davon, in Richtung Schmutzplatz.
Schattenpfote seufzte nur. Rankenfluss... beim Gedanken an seinen Vater, der ein Junges aus einer gefährlichen Stelle im Sumpf gerettet hatte und dabei eingesunken und gestorben war, bohrte sich eine unsichtbare Kralle in Schattenpfotes Herz.

"So ein Mäusehirn", murmelte Kleepfote und legte ihrem Bruder aufmunternd den Schweif auf die Schulter.

Wütendes Fauchen erklang, die jungen Katzen drehten den Kopf und sahen Mondpfote mit gesträubtem Fell aus Federsterns Bau stolzieren.

Kleepfote eilte ihr entgegen und erkundigte sich, was passiert sei, Schattenpfote hingegen blieb, wo er war. Mondpfote wirkte heute wie ein schlafender Fuchs, der jeden Augenblick aufwachen und angreifen konnte.

Er richtete den Blick 'gen Himmel. Die Sonne neigte sich gerade wieder dem Horizont zu, als hinter ihm ein Keuchen erklang.

"Federstern! Wo ist Federstern?"

Schattenpfote fuhr herum und erblickte Honigwolke, die zitternd und mit bebenden Flanken ins Lager gestürmt war.

Der silberne Kater sprang ihr entgegen. "Was ist passiert?"

"Komm mit. Das sollte nicht der ganze Clan hören."

Die zwei Katzen huschten davon und wieder saß Schattenpfote allein da. Es kam dem Kater vor, als würde die Welt um ihn herum sich einfach bewegen, das Clanleben weitergehen und er selbst war nur ein Hauch eines Kriegers, unsichtbar für alle anderen und unnütz noch dazu.

Eine unfassbare Trauer erfasste ihn. Stellte er sich an? Schließlich hatte er doch nur eine Jagd vermasselt und wusste nicht, ob er überhaupt Krieger werden könnte.

Selbst wenn es albern war, es war ihm egal. Er wollte in diesem Moment nur allein sein, doch seine Pfoten waren wie Steine am Boden festgefroren.

Plötzlich berührte ihn vorsichtig etwas an der Schulter. Erschrocken fuhr er herum. Honigwolke blickte ihm in die Augen. Nun erfüllte ihn Aufregung. Was der SternenClan ihr wohl mitgeteilt hat?

"Schattenpfote, ich... bin mir nicht sicher. Ich war beim SternenClan, und sie haben mir Dinge gezeigt. Bilder, die sich im Mondfall gespiegelt haben."

"Und... was heißt das nun?" Schattenpfote trat unruhig von einer Pfote auf die andere.

"Wie gesagt, ich bin mit nicht sicher. Aber was sie mir gezeigt haben, war so schrecklich, dass ich..." Ihre Stimme brach, sie zitterte.

Heiliger SternenClan! Was ist nur geschehen?

Er musste dorthin. Irgendetwas sagte es ihm. Doch was, wenn der SternenClan ihm dasselbe offenbaren würde? Was auch immer es war, es schien wichtig zu sein.

Er nahm all seinen Mut zusammen.

"Ich werde zum Mondfall gehen."

"Das darfst du nicht!", jaulte Honigwolke erschrocken. "Du bist kein Heilerschüler!"

"Aber vielleicht werde ich bald einer sein. Ich gehe zum Mondfall, Honigwolke."
Seine Stimme zitterte bei seinen eigenem Worten. Es war einfach gegen seine Natur, älteren und erfahreneren Katzen zu widersprechen.

Doch nun gab es kein Zurück mehr. Er preschte aus dem Lager, versuchte, sich an Efeuubrands Führung durch das Territorium zu erinnern und die Richtung, in der der Mondfall lag, einzuschlagen.

Ich schaffe das! Ich werde herausfinden, was der SternenClan zu sagen hat.

In seiner Eile achtete er kaum auf den Weg, rutschte an einer schlammigen Stelle aus und versank mit den Pfoten im Sumpf. Verzweifelt strampelte er mit den Pfoten, doch dadurch sank er nur noch tiefer ein.

Froschdreck! So werde ich definitiv keinen Kontakt zum SternenClan aufnehmen können.

Als der schlammige, stinkende Sumpf ihm fast bis zu den Schultern reichte, raste keuchend Honigwolke heran, seinen Namen rufend.

"Schattenpfote! Was machst du denn da?" Entschlossen packte die Heilerin ihn mit den Zähnen am Genick, achtete dabei auf ihre Pfoten.

Als er endlich auf trockene Fläche krabbeln konnte, schimpfte Honigwolke:"Was hast du dir nur dabei gedacht?Wenn ich nicht sowieso versucht hätte, dich einzuholen, wärst du jetzt tot!"

"Ich wollte mit dem SternenClan sprechen", miaute er kleinlaut. Die orange-weiße Kätzin seufzte und half ihm zurück ins Lager.

Auf dem Weg blieb sie stehen und meinte ernst:"Du musst dich entscheiden, Schattenpfote. Entweder du wirst ein Krieger, jagst und kämpfst, oder ein Heiler, und teilst Träume mit dem SternenClan und heilst deine Clan-Gefährten. Beides geht nicht. Der SternenClan kann nicht entscheiden, also musst du es tun."

Er schluckte. Wie sollte er sich entscheiden? Er hasste kämpfen und konnte nicht töten, aber irgendwie wollte er gern ein Krieger werden. Als Heiler wäre ich nützlicher für meinen Clan. Aber so konnte er nicht gemeinsam mit Kleepfote und Eulenpfote Krieger werden. Ein wahrer Krieger tut, was für seinen Clan das beste ist. Und ein wahrer Heiler auch... Es war nie mein Traum, Krieger zu werden oder gar Anführer, ich wollte immer meinem Clan dienen. Und als Krieger kann ich das nicht. Wenn ich jetzt Mitleid mit Beute habe, wird sich das sicher nicht so schnell ändern. Sonnenglanz und meine Geschwister werden es verstehen.

Damit war seine Entscheidung gefällt. Er hoffte, entschlossen zu klingen, als er verkündete:"Ich will Heiler werden."

Etwas überrascht, aber auch erfreut blickte Honigwolke ihn an. "Das freut mich! Wir werden es Federstern sagen und nächsten Halbmond wirst du ein richtiger Heilerschüler sein."

Schattenpfote nickte. Das fühlte sich richtig an. Den Gedanken, er könnte viel zu leichtfertig entschieden haben, verbannte er möglichst weit weg.

Als sie das Lager erreichten, tappten ihnen schon Efeubrand und Federstern entgegen.

"Was hat er jetzt schon wieder angestellt?", knurrte Efeubrand gereizt.

"Er hat nichts angestellt. Er will mein Schüler werden", verteidigte Honigwolke ihn.

"Ein Heiler? Bist du nicht taff genug, um ein Krieger zu werden, Schattenpfote? Nach einer vermasselten Jagd?"

"Ich...", miaute er kleinlaut, "will... kein Krieger werden. Ich will... nicht töten."

Efeubrand fauchte nur verächtlich. "Wenn du es nicht hinbekommst, tötet die Beute ein anderer!"

"Lass ihn selbst seinen Pfad wählen", miaute Federstern ruhig. "Und nun kommt mit, wir müssen eine Zeremonie durchführen!"

Doch noch bevor Federstern dies auch tun konnte, durchschnitt ein gellender Schrei die Luft wie eine Kralle. Entsetzt raste er ins Lager.

Überall kämpften Katzen, Blut spritzte und befleckt ein Boden wie Wasser in einem Gewitter.

In der Mitte des Lagers stand ein gewaltiger weißer Kater, das schneeweiße Fell blutbefleckt, ebenso wie seine langen, dornenscharfen Krallen.

Den Boden unter ihm überzog eine Art Frost, wie auf Blättern in der Blattleere. Die weiße Kälte breitete sich aus, und wo sie Katzen traf, fielen diese reglos zu Boden.

Geschockt schrie er auf, hörte seinen Namen. Langsam verblasste der Kater, die Schreie verhallten und der Frost verschwand.
Zurück blieb das NebelClan-Lager.

"Was beim SternenClan ist los mit dir?" fragte Efeubrand.

"Ich... ich habe...", seine Stimme versagte. Keinen Herzschlag später knickten seine Beine ein und er brach kraftlos zusammen.

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