39. Kapitel
W I L D P F O T E
Blicke. Überall Blicke, die sich in ihren Pelz bohrten wie tödliche Klauen. Überall wurde sie beobachtet von ihren eigenen Clangefährten. Ihr Clan, der ihr eigentlich vertrauen sollte.
Der Clan, dem sie selbst eigentlich vertrauen sollte.
Doch sie tat es nicht. Und auch sonst tat es niemand. Niemand glaubte ihr, dass sie nicht sie selbst gewesen war, sondern dieses Monster, das in Augenblicken unerträglicher Wut Besitz von ihr ergriff.
Außer Blitzpfote. Blitzpfote, die selbst das Opfer gewesen war. Aber vermutlich lag es genau daran. Ihre Schwester glaubte ihr, weil sie es selbst gesehen, gespürt hatte.
Wildpfote wusste, dass Aschenschwinge ihre Anführerin gebeten hatte, sie zu verbannen, da sie »eine Gefahr für den Clan« darstellte. Aschenschwinge, der ihr im Wald der Finsternis vorgeworfen hatte, sein Leben zerstört zu haben.
Als er es getan hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass es der dunkelgraue Krieger war. Sie war so dumm und naiv gewesen. Noch immer hatte sie keine Ahnung, was genau es mit der Prophezeiung auf sich hatte, doch etwas sagte ihr, dass Aschenschwinge nicht gelogen hatte.
Wie ironisch, dass ich ausgerechnet ihm glaube!
Den Morgenhimmel über ihr überzogen goldene Wolkenfetzen, am Horizont schoben sich feuerrote Strahlen in den Himmel und ließen die Heide flammend aufleuchten und Wildpfotes Pelz mit Blut durchtränken, während sie vom Lager wegstapfte. Ihre Wunden schmerzten mit jedem Schritt, doch ihre Pfoten trugen sie unaufhörlich voran, bis vor ihr wie ein riesiger Reißzahn der Falkenberg aufragte und den finsteren Schatten auf die junge Kätzin warf.
Ohne zu zögern stopfte sie jede Angst, jeden Überlebensinstinkt tief in eine der entlegensten Ecken ihres Kopfes und setzte eine Pfote nach der anderen auf, krallte sich mit aller Kraft in den Schlitzen des Felsen, wo sich Wind und Pflanzen in unzähligen Monden Pfade gegraben hatten.
Es war dumm, das wusste sie. Doch es war die einzige Möglichkeit, den Kampf und den Wald der Finsternis zu vertuschen. Einen Schüler oder Krieger konnte sie vielleicht täuschen, doch Moosstrahl würde sofort erkennen, dass diese Wunden von Krallen gerissen wurden.
Wenn sie behauptete, sie hatte einen Falken fangen wollen, um zu beweisen, dass sie eine treue und für den Clan wertvolle Katze war, würde jede Katze ihr glauben.
Bis auf Aschenschwinge. Der dunkelgraue Krieger wusste davon, was wirklich passiert war und selbst, wenn er es nicht tun würde, hätte er ihr nie Glauben geschenkt, einfach aus Prinzip.
Immer war der Bruder ihres Vaters für ihre Probleme verantwortlich! Immer...
Wobei der Rest des Clans auch nicht gerade hilfreich war, wie sie sie anstarrten, als würde Wildpfote plötzlich die Beherrschung verlieren und ihnen allen die Kehlen aufschlitzen.
Als ihre Pfote kurzzeitig den Halt verlor, riss der Schock sie in die Wirklichkeit zurück und schon ertönte über ihr der erste durchdringende Falkenschrei.
Seit Katzengedenken nisteten die Falken auf der Spitze des Berges, zogen ihre Jungen auf und beschützten diese brutal und ernergisch mit Krallen und Zähnen.
Auf ihren schildpattfarbenen Pelz fiel der Schatten des Raubvogels, Krallen gruben sich schmerzhaft in ihren Rücken und rissen sie in die Luft, doch der Falke konnte sie nicht tragen und ließ sie fallen. Einen Moment lang rauschte sie von Angst gelähmt durch die Luft und machte sich auf den kurz darauf folgenden Aufprall gefasst, der ihr alle Luft aus den Lungen presste. Sie verkniff sich ein Jaulen, als der Vogel ihr den Schnabel in den Nacken schlug, sammelte all ihre Kräfte, kam strauchelnd auf die Pfoten, drehte sich und schlug dem Falken ihrerseits die Krallen in den Flügel.
Ein grausiger Schrei drang aus der Kehle ihres Gegenübers, als sie ihre Zähne tief in den Bauch des Greifvogels grub. Sie rollte sich herum, die Zähne tief im Fleisch vergraben, sodass sie nun oben lag, und fetzte dem Feind wütend die Federn vom Leib.
Die heftige, schmerzhafte Gegenwehr des Falken wurde zu einem schwachen Zucken. Wildpfote nutzte ihre Chance und verbiss sich im Hals des geschwächten Vogels.
Tiefer, immer tiefer drangen ihre Fangzähne ein. Dann ein Knacken.
Der Falke erschlaffte, sein Kopf sackte zur Seite und ein dünnes Rinnsal aus Blut quoll aus seinem Hals.
Stolz und Triumph stiegen in ihr auf. Sie hatte es geschafft! Sie hatte tatsächlich ihren ersten Falken erlegt und somit zwei Fliegen mit einer Pfote geschlagen. Angestrengt hievte sie den Falken am Genick hoch und zerrte ihn mit aller Kraft in Richtung Lager zurück, während der glühende Feuerball am Himmel seine Reise begann.
***
»Heiliger SternenClan, Wildpfote! Was hast du nur gemacht? Wo warst du? Und woher kommen diese Wunden?«
Besorgt beschnupperte Ahornsprung ihre Tochter und putzte ihr hektisch die Ohren, während sie ängstlich einen Schauer aus Fragen über Wildpfote niedergehen ließ.
»Hör auf!«, sagte diese, halb genervt, halb amüsiert, und unterdrückte ein Kichern. »Das kitzelt!«
Sie schüttelte ihre Mutter ab und erklärte: »Ich... ich wollte beweisen, dass ich eine treue Schülerin bin, also habe ich einen Falken gefangen - aber der hat sich ordentlich gewehrt!«
Sie hatte kein schlechtes Gewissen bei diesen Worten, schließlich waren sie nicht gelogen. Sie fühlte sich nur schlecht für die Worte, die sie nicht aussprach. Ahornsprung mochte eine strenge, übertrieben besorgte Kätzin sein, aber sie war ihre Mutter. Und sie hatte stets zu ihr gehalten, hatte sich sogar mit Falkenfeder anlegen wollen, obwohl sie Junge erwartete.
»Oh, das ist nicht dein Ernst! Wildpfote, du musst doch keine solchen Verletzungen riskieren, nur um so einen Vogel zu fangen. Na los, geh zu Moosstrahl und Flammenpfote.«
Die schildpattfarbene Schülerin wusste, dass es keinen Sinn hatte, Ahornsprung zu widersprechen, also trottete sie erst zum Frischbeutehaufen, wo sie den Falken fallen ließ, dann in den Heilerbau. Moosstrahls murrende Stimme klang durch den Bau, vermutlich erklärte er Flammenpfote etwas. Wildpfote zögerte kurz, trat dann aber ein und erklärte ungefragt, was sie auch schon ihrer Mutter gesagt hatte.
Während Flammenpfote - eifrig, wie die kleine rotgoldene Kätzin nunmal war - ihre Wunden säuberte, fiel Wildpfote blitzartig etwas ein.
»Ach, wie konnte ich das nur vergessen! Ist die Kampfpatrouille schon zurück?«
Sie hatte zwar Löwenmut bei den Ältesten sitzen sehen, doch Blitzpfotes helle Stimme hatte sie nicht gehört.
Ach, Blitzpfote...
Wie gerne hätte sie ihrer Schwester das alles erzählt! All die Kämpfe, die Prophezeiung, die Sache mit Aschenschwinge und von Eis. Doch irgendetwas hielt sie zurück wie eine Ranke, die ihre Läufe umschlang. Blitzpfote war definitiv nicht dumm, nur unwissend, dass nicht alle Katzen am sternenlosen Ort fuchsherzige Mörder waren. Und sie würde sich Sorgen machen, versuchen, ihr das alles auszureden.
So sehr Wildpfote der schwarz-roten Kätzin vertraute, manchmal benahm sich ihre Schwester wie Ahornsprung!
»Naja, einige. Also, die meisten. Aber ein paar Katzen sind nochmal los, um Blitzpfote zu suchen, die ist irgendwie weg. Weißt du, es ist etwas unfassbares passiert! Windstern hat...«
Die letzten Worte hörte Wildpfote kaum, denn beim Klang von Blitzpfotes Namen war sie wie ein verschrecktes Reh aufgesprungen.
»Wo sind sie hingelaufen?«, fuhr sie Flammenpfote an.
Etwas überrumpelt stotterte die Schülerin etwas wie: »Ich bin mir nicht sicher, aber sie müssten etwa bei der Sterneneiche aus dem Wald rausgekommen sein...«
Wildpfote strauchelte mit wirbelnden Pfoten, preschte blitzschnell aus dem Bau und raste durch das Lager, durchstieß rücksichtslos die Heidemauer und jagte durch die Heide. Ihr Stolz auf den Falken und die Schmerzen der Wunden rückten in weite Ferne, nur noch die Angst um ihre Schwester steuerte ihre Pfoten, die immer schneller durch ihr Territorium donnerten. Schon von weitem sah sie den schier endlos hohen Wipfel der Sterneneiche aufragen, hielt weiterhin darauf zu.
Auch, als die Schatten der Bäume auf ihren Pelz fielen und ihre Lungen zu bersten schienen, raste sie weiter, nur getrieben vom Bild der smaragdgrünen Augen in ihrem Gedächtnis, da brach sie aus dem Wald und beschleunigte ihre Sprünge nur noch, als zahllose Baumlängen vor ihr einige Silhouetten auftauchten, die aus ihrer Entfernung kaum größer aussahen als Ameisen.
Keuchend, mit brennenden Lungen, erreichte sie die Katzen und ihr fiel ein felsengroßer Stein vom Herzen, als sie Blitzpfote erkannte, die mit bebenden Flanken vor einer größeren Gruppe fremder Katzen kauerte.
Neben ihrer Schwester erkannte sie einige SturmClan-Krieger, darunter Wolkennacht, doch auch einige kräftige Katzen, die stark nach Wald und feuchtem Moos rochen. Bestimmt FlammenClan.
Die Fremden, nichts weiter als ein Haufen von einem halben Dutzend abgemagerter Katzen, starrten die Krieger aus weit aufgerissenen Augen an, während Wildpfote zu ihrer Schwester herübertappte und sich erleichtert an sie schmiegte, die anderen Katzen jedoch aus dem Augenwinkel misstrauisch im Auge behielt.
»Wer seid ihr und«, grollte Wolkennacht tief wie ein Dachs, wurde jedoch von einem mitternachtsschwarzen Kater unterbrochen: »Was wollt ihr hier?«
Die hellblauen Augen, die Wildpfote etwas an die von Eis erinnerten, blitzten kalt, als er drohend auf die Mageren zustolzierte.
»Wir kommen in Frieden!«
Eine hübsche flammenfarbene Kätzin trat entschlossen vor und erklärte selbstbewusst:
»Wir sind der Stamm des jagenden Feuers. Wir haben euch gesucht und gefunden.
Und wir sind gekommen, um aus vieren fünf zu machen.«
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