Kapitel 4

"Morgenhimmel", hob Sturmstern an, doch die blaugraue Kätzin wirbelte bereits herum und verließ den Bau. "Lass mich einfach in Ruhe!", knurrte sie, "ich hasse es, wenn man mich so bedrängt! Es. Geht. Mir. Gut!"

Ohne auf eine Antwort zu warten, sprang sie den Baum Ast für Ast hinunter, landete geschickt auf dem Boden und trabte davon. Sie wollte einfach nur alleine sein.

Wieso verstand es keiner? Keiner konnte ihr helfen. Sie war alleine. Alleine mit ihren Sorgen. Alleine in diesem Horror. Keiner verstand sie. Der Einzige, der ihr hätte helfen können, war Habichtfeder gewesen.

Doch dieser war tot. Er war gestorben. In einer sinnlosen Schlacht hatte er sein Leben verloren. In einer sinnlosen Schlacht hatte sie ihn verloren. Sie alleine gelassen.

Mit herabhängendem Kopf tappte Morgenhimmel zurück zu dem Platz, an dem sie bereits zuvor gelegen hatte, rollte sich erneut dort zusammen und schloss die Augen. Sie wollte einfach nur noch weg.

Verzweifelt versuchte sie, sich wegzuträumen, doch das war alles andere als einfach. Jedes Geräusch im Lager ließ sie zusammenzucken. War viel zu laut, als dass sie es hätte ignorieren können.

Doch das schlimmste war nicht einmal, dass alles so laut war. Das schlimmste war, dass sie wusste, dass alles nicht laut war und dass sie sich das nur einbildete.

Sie spürte, dass sie verrückt geworden war. Dass sie anders war als ihre Clan-Gefährten. Sie wusste nicht, was mit ihr los war. Was für eine Krankheit sie hatte.

Wenn man es denn Krankheit nennen konnte. Doch irgendetwas war in ihr anders. Nicht in ihrem Körper. In ihr. In ihrem Herzen. In ihrer Seele. Sie war anders. Sie war gestört.

"Ich bin eine Schande für den ganzen Clan", murmelte Morgenhimmel und öffnete kurz ihr eines Auge, um sich zu vergewissern, dass niemand in ihrer Nähe war. Sie war alleine.

"Ich habe jeden enttäuscht. Meine Familie, meinen Clan, meine Wurfgefährten. Und ich werde es weiterhin tun. Es tut mir leid, dass ich so viele Fehler gemacht habe. Ich bereue es doch.

Aber WunderClan, wieso nimmst du mich nicht endlich zu dir? Ich möchte hier nicht mehr bleiben. Ich habe meine Lektion doch verstanden. Ich habe verstanden, was mit mir falsch ist."

Ihre Worte verstummten, als sie keinen Ton mehr herausbekam. Sie wusste nicht, was mit ihr los war. Ihr Schmerz ließ sich nicht in Worten beschreiben. Messen. Es war so viel mehr.

Langsam fiel sie in den Schlaf. Die Erschöpfung übernahm sie. Vielleicht hatte sie physisch nichts geleistet, doch psychisch schon. Psychisch arbeitete sie rund um die Uhr. War permanent am Ende.

Und das erschöpfte sie. So sehr, dass sie ihre Augen nicht mehr offen halten konnte. Dass sie nicht mehr wach bleiben konnte. Dass sie vor Erschöpfung ohnmächtig wurde.

Sie war zu erschöpft, um weiterzukämpfen. Sie wollte aufgeben. Sie konnte nicht mehr. Doch sie durfte nicht aufgeben. Denn der WunderClan zwang sie weiterzumachen. Dieses Leid weiterhin zu ertragen. Auch wenn sie nicht mehr wollte.

Jeder Zentimeter ihres Körpers schmerzte. Ihre Muskeln, ihre Augen. Doch am meisten ihr Herz. Von dem Leid, das ihre Depressionen verursachte. Von dem Leid, das sie selbst verursacht hatte.

Und sie schlief einfach ein. Ruhig schlief sie. Sie träumte nicht einmal. Denn dazu war sie schon nicht mehr in der Lage. Oder vielleicht träumte sie, aber sie würde sich nicht erinnern, wenn sie aufwachen würde.

Immer wieder kamen Katzen vorbei, Clan-Gefährten, die versuchten, sie zu wecken. Doch es würde ihnen misslingen, denn sie schlief viel zu fest.

Sie war zu erschöpft, um aufzuwachen. Ihr Körper musste sich erholen. Er brauchte eine Pause vor ihr. Ihr Körper konnte nicht mehr. Und so schlief sie, bis die Sonne unterging.

"Morgenhimmel! Wir wollen jetzt mit dem Clan essen!" Erschrocken zuckte die blaugraue Kätzin zusammen, riss die Augen auf und streckte sich. Mit einem gewaltigen Gähnen war sie auf den Pfoten.

"Was?", entgegnete sie knapp, "ich will nichts essen." Dämmerrose seufzte theatralisch. "Du musst etwas essen", erwiderte sie, "du hast den ganzen Tag über fast nichts zu dir genommen."

Morgenhimmel schwieg. Sie würde nichts dazu sagen. Sie hatte keine Energie mehr, um zu diskutieren. Sie fühlte sich eh schon wieder total erschöpft. Sie wollte einfach nur wieder schlafen.

Sturmstern und Seerose eröffneten bereits die Zeremonie. Alle Katzen stürmten sofort los, um sich Beute zu schnappen, nachdem die Ältesten sich etwas genommen hatten. Dann ließen sie sich in Gruppen nieder und tratschten.

Alle bis auf Morgenhimmel. Sie aß nichts. Sie sprach nicht. Sie war alleine. Beobachtete nur. Sie wollte nicht einmal etwas essen. Wieso kann ich nicht so glücklich sein wie sie?

Warum bin ich so anders? Morgenhimmel ließ ihren Blick durch die Reihen gleiten, bis er an Seerose hängenblieb, die neben ihrem Gefährten und mit diesem Sprach. Doch dabei beobachtete sie ihre blaugraue Schwester genauestens, was diese unruhiger machte.

Morgenhimmel wollte aufstehen. Einfach zurück in ihr Nest gehen. Ihre Sorgen im Schlaf ersticken. Aber sie riss sich zusammen. Sie war still.

Müdigkeit floss durch ihren ganzen Körper. Übernahm sie immer mehr. Egal, wie sehr sie es zu unterdrücken versuchte, sie konnte nicht mehr. Schließlich gab sie der Erschöpfung nach.

Da sie eh nur am Rande der Versammlung saß, konnte sie sich unbemerkt zusammenrollen und einfach sanft in den Schlaf gleiten. Nun, sanft war es nicht. Denn ihre Gedanken trieben sie wieder einmal in den Wahnsinn.

Sie hielt es nicht mehr aus. Sie konnte nicht mehr. Sie wollte nicht mehr. Sie wollte nur noch alle wiedersehen. Sich entschuldigen. Ein winziger Tropfen Trauer bildete sich in ihrem Inneren, als würde er vom Himmel fallen.

Dann begann es zu nieseln. Der Niesel wurde zu einem Regen, der immer weiter zu einem Sturm anstieg, bis er schließlich ein ganzes Meer aus Trauer erschaffen hatte. Ein Meer, in dem sie ertrank. Sie wollte schreien, doch konnte es nicht. Sie schluckte nur noch mehr Wasser.

Sie wollte sich wenden vor Schmerz, aber konnte es nicht. Sie war gelähmt. Sie wollte es beenden, jedoch war es unmöglich. Denn sie konnte nichts tun, außer sich selbst beim Zugrundegehen zuzusehen. Und sie machtlos. Machtloser als je zuvor in ihrem Leben.

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