Willkommen
Je näher sie dem Meer kamen, desto klarer hörte Aqua das Rauschen der Wellen in den Ohren. Als sie noch in den Kanälen der Stadt gelebt hatte, hatte so ein ähnliches Rauschen sie jede Nacht in den Schlaf begleitet. Doch dieses hier war viel lauter. Gespannt folgte sie Ojiha und den anderen, die er ausgewählt hatte, die letzte Düne hinauf.
Der Schamane hatte insgesamt nur vier Katzen mit sich genommen. Sie und Kräuselsturm aus dem WindClan und Weißwind und Blumenduft aus dem DonnerClan. Er selbst schien den SchattenClan zu vertreten. Mittlerweile hatte Aqua verstanden, dass der FlussClan Kämpfe oder auch allgemein Narben und nicht vollständig verheilte Verletzungen als unheilig ansah. Und ihre kleine Gruppe bestand wohl aus Katzen, die vom FlussClan am ehesten akzeptiert werden würden.
»Was passiert, wenn wir da sind?«, fragte Blumenduft auf einmal, während sie zwei Sprünge nach vorne machte, um direkt neben Ojiha zu gehen. »Werden wir ihnen sagen, wer wir sind und warum wir da sind? Und dass sie sich uns auf der Suche nach dem letzten Clan anschließen müssen? So leicht wird es doch sicher nicht sein, oder?«
»So leicht wird es nicht sein, da hast du recht.« Ojiha seufzte. Endlich waren sie oben angekommen. Aqua schaute die Düne hinunter und ihr stockte fast der Atem.
Wie kann etwas so wunderschön sein?
Der Abhang der Düne endete in einer Ebene, die vollständig aus Sand bestand und nur zum Ufer hin in Kies überging. Dort brachen sich unaufhörlich Wellen, laut rauschend und mit weißem Schaum an ihren oberen Kanten. Und dahinter... Dahinter lag nur noch dunkelblaues, fast schwarzes Wasser. Endlos, bis zum Horizont, wo es mit dem Himmel zusammentraf. Es roch nach totem Fisch, Salz und irgendwas anderem, was sie nicht richtig einordnen konnte.
Auch Kräuselsturm, Weißwind und Blumenduft konnten sich nicht von dem Anblick losreißen. Letztere hatte sogar ihr Fell etwas gesträubt. »So viel Wasser habe ich noch nie in meinem Leben gesehen«, flüsterte sie leise.
»Das ist das Meer«, miaute Ojiha, offenbar zufrieden mit der Reaktion seiner Begleiter.
»Hier lebt der FlussClan?« Kräuselsturm reckte neugierig den Kopf. »Wo?«
»Der FlussClan ist keine Einheit, so wie eure Clans.« Der Schamane setzte sich und bedeutete ihnen mit einem Schwanzschnippen, dasselbe zu tun. »Die Katzen hier glauben an den SternenClan, aber auf eine andere und um einiges strengere Weise als ihr. Seht ihr die Felseninsel dort hinten?« Er nickte in eine bestimmte Richtung.
Aqua schaute hin und erblickte zu ihrem Erstaunen tatsächlich einen großen Felsen, der nicht weit vom Ufer entfernt, aber gleichzeitig auch zu weit weg, um ihn auf einfache Art zu erreichen, aus dem Wasser ragte. Regelmäßig brandeten Wellen gegen ihn und Wasser spritzte in unzähligen kleinen Tröpfchen in die Luft. Die einzige Verbindung zwischen dieser Felseninsel und dem Ufer schien so etwas wie ein Steinpfad zu sein – kleine und große Steine oder Felsen, die an einigen Stellen nur eine Haaresbreite über dem Wasser lagen. An anderen Stellen lagen sie wahrscheinlich sogar unter der Oberfläche, sodass man den Weg nicht gehen konnte ohne sich die Pfoten nass zu machen.
»Diese Insel ist der Heilige Felsen«, erklärte Ojiha ihnen. »Dort lebt die Hohepriesterin mit ihren Leibwächtern und Priestern. Alle anderen dürfen ihn nicht betreten, denn er ist heiliger Boden. Nur die Hohepriesterin und ihre Priester dürfen in seiner Höhle Verbindung mit dem SternenClan aufnehmen. Was sie sagen, ist Gesetz, denn unsere Ahnen sprechen durch sie.«
»Der FlussClan hat also mehrere Heiler?«, fragte Kräuselsturm.
»Priester sind viel mehr als Heiler«, berichtigte Ojiha ihn. »Nur sehr wenige haben die Ehre, je einem Priester gegenüber zu stehen, geschweige denn, mit einem zu reden.«
»Und was machen sie dann?« Blumenduft schien verwirrt. »Ihre einzige Aufgabe ist es, mit dem SternenClan zu reden und den anderen zu sagen, was sie tun sollen? So viel kann der SternenClan doch gar nicht zu sagen haben!«
»So ist der Glauben des FlussClans.« Ojiha sah sie warnend an. »Unterschätzt sie nicht. Besonders nicht die Hohepriesterin. Wenn sie sagt, dass der SternenClan uns nicht hier haben möchte, haben wir unsere Chance vertan. Der FlussClan wird uns vertreiben und dann vergessen.«
Allmählich verstand Aqua, in welche Richtung die Denkweise des FlussClans ging und was Ojiha mit ›strenger‹ gemeint hatte. Ein Clan, der praktisch von Heilern angeführt wird, die den Willen des SternenClan verkünden... Irgendwie war ihr das auch unheimlich. Wie leicht könnte einer der Priester einen Befehl geben, der nicht vom SternenClan, sondern von eigenem Willen kam. Und die anderen würden ihn einfach ausführen, weil sie den Zorn ihrer Ahnen nicht riskieren wollten.
»Und wer sind die anderen?«, fragte sie. »Du hast noch andere Katzen erwähnt, die keine Priester sind.«
Ojiha nickte. »Die Wächter. Sie leben am Ufer. Die Baue haben sie in den Dünen, die sie mit Ästen verstärken, damit die Höhlen stabil bleiben. Angeführt werden sie vom Hohewächter. Allerdings muss auch er sich dem Wort der Hohepriesterin beugen. Dafür sind die Wächter diejenigen, die ihr Territorium beschützen und jagen gehen. Einen Teil der Beute lassen sie am Ufer zurück, für die Priester.«
»Also sind sie so etwas wie Krieger?«, hakte Blumenduft nach.
»Ja, aber sie kämpfen nicht. Kämpfe sind unheilig. Jegliche Narben davon oder von Unfällen. Sie glauben daran, dass der SternenClan ihnen ihre Körper geschenkt hat. Wer sie beschädigt, hat gegen den Willen des SternenClans verstoßen und wird vertrieben.«
Aqua stockte.
»War der Beutedieb, den der SchattenClan vertrieben hat, früher ein Wächter des FlussClans?«, kam Weißwind ihrer Frage zuvor.
Ojiha zuckte mit den Ohren. »Kann gut sein. Ich habe ihn leider nicht gesehen. Sonst hätte ich ihn vielleicht erkannt.«
»Wurdest du dann auch... vertrieben?«, fragte Blumenduft zögerlich. »Aber du hast doch gar keine Narben? Jedenfalls keine, die man jetzt noch sieht.«
»Habe ich auch nicht«, erwiderte der Schamane. »Ich bin freiwillig gegangen.« Er erhob sich auf die Pfoten. »Lasst uns die Düne runter gehen. Wahrscheinlich wissen sie schon, dass wir da sind, und warten auf uns. Sie werden uns zum Hohewächter bringen.«
»Wie ist sein Name?«, wollte Aqua wissen.
»Als ich gegangen bin, war es Graustern«, miaute der Schamane. »Wenn er gestorben ist, ist jetzt sein Sohn Wogenbrecher der Hohewächter.«
»Sein Sohn?«
»Das Amt des Hohewächters wird immer in der Familie weitergegeben«, erklärte Ojiha, während er bereits den Abhang hinunter ging. »Das der Hohepriesterin nicht. Sie wählt ihren Nachfolger kurz vor ihrem Tod aus ihren Priestern aus. Es ist also eine große Ehre, als Schüler von ihr ausgewählt zu werden, um auf den Heiligen Felsen zu kommen und Priester zu werden.«
»Ausgewählt?«, fragte Aqua, doch Ojiha winkte ab.
»Später«, sagte er. »Und eines noch: Solltet ihr durch irgendeinen dummen Zufall Katzen auf dem Steinpfad zwischen dem Ufer und dem Heiligen Felsen sehen, schaut auf keinen Fall hin! Die Hohepriesterin könnte unter ihnen sein. Und es ist strengstens verboten, sie direkt anzusehen! Nur durch die Spiegelung im Wasser ist es erlaubt!«
Aqua nickte ernst, obwohl der Schamane vor ihr ging und sie natürlich nicht sehen konnte. Sie folgte ihm zusammen mit den anderen immer weiter runter. Doch kurz bevor sie auf die flache Sandebene treten konnten, tauchte eine Gruppe aus drei Katzen ganz in ihrer Nähe auf. Es schien, als hätten sie im Gras einer nahe gelegenen Düne nur darauf gewartet, dass sie herunter kamen.
»Bleibt stehen«, befahl Ojiha ihnen im Flüsterton. Ikalu flatterte aufgeregt um ihn herum, bevor er sich wieder zwischen seinen Schultern niederließ. »Dies ist ihr Territorium. Wir lassen sie zu uns kommen.«
Es dauerte nicht lange, bis die FlussClan-Katzen bei ihnen angekommen waren. Angeführt wurden sie von einem großen Kater mit einem dunkelgrau getigerten Fell. Rechts von ihm lief eine hellgraue Kätzin mit einem überaus buschigen Schweif und links von ihm eine dunkelgraue Kätzin, die eher wie eine Schülerin aussah. Aqua fiel auf, dass alle drei ein extrem dichtes Fell hatten. Wahrscheinlich schützte es gut gegen den Wind, der manchmal wirklich stark vom Meer aus in ihre Richtung wehte.
»Bist du das, Ojiha?«, fragte der große Kater mehr erstaunt als feindselig und ignorierte Aqua und die anderen vorerst.
»Ja, ich bin es«, entgegnete der Schamane und neigte respektvoll den Kopf. Vorsichtshalber taten Aqua und die anderen es ihm nach.
»Wir haben uns schon gefragt, ob du jemals wieder zurückkommst. Und jetzt bist du wirklich da! Gesund und unversehrt! Der Segen des SternenClans muss auf dir liegen! So, wie Wogenbrecher es schon immer gesagt hat!«
Aqua bemerkte, wie eine Veränderung mit Ojiha vorging. Lag es an der Erwähnung des Namens? Der getigerte Kater sträubte für einen kurzen Moment das Fell, hatte sich gleich darauf aber wieder gefasst. Seine Ohren und Schnurrhaare zuckten. Ikalu flatterte aufgeregt mit den Flügeln.
»Also ist Graustern immer noch Hohewächter?«
»So stark und weise wie eh und je«, bestätigte der andere Kater mit einem Nicken. »Er würde sich sicher freuen, dich wiederzusehen. So wie wir alle.« Erst jetzt schien er zu bemerken, dass Ojiha nicht alleine war. Seine bernsteinfarbenen Augen richteten sich nacheinander auf Aqua, Kräuselsturm, Weißwind und Blumenduft, bevor er sich – scheinbar zufrieden – wieder an den Schamanen wandte. »Möchtest du uns deine Freunde nicht vorstellen?«
»Ich reise nicht nur mit ihnen«, wich Ojiha seiner Frage geschickt aus, »sondern mit einer viel größeren Gruppe von Katzen.«
Die grünen Augen der FlussClan-Schülerin weiteten sich. »Was wollen sie alle hier?«
»Wir sind hier, weil der SternenClan es so gewollt hat«, antwortete Ojiha und die Augen der Schülerin wurden noch größer. »Ich habe Wichtiges mit Graustern zu besprechen. Es wäre gut, wenn du uns zu ihm führen würdest, Klippensprung.«
Der große Kater namens Klippensprung nickte. »In Ordnung. Folgt mir.«
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