Verschüttet
Du hilfst anderen nicht, um dich selbst gut zu fühlen. Du hilfst ihnen auch nicht aus Mitleid oder weil du möchtest, dass sie später in deiner Schuld stehen. Du hilfst ihnen, weil du es für richtig hältst. Weil es dir Freude bereitet, sie danach glücklich zu sehen. Letztendlich hilfst du ihnen, weil du es von ganzem Herzen möchtest. Doch erschöpfe dich dabei nicht. Es gibt andere, die deine Hilfe ausnutzen und sie immer wieder beanspruchen wollen, weil dann alles leichter ist. Deine Hilfe ist ein Geschenk. Verschenke es nicht leichtsinnig und gedankenlos.
~ Erzählung der Geschichtenerzählerin Terra an Morgenjunges über die Hilfe
***
Der erste Tag in der Höhle neigte sich dem Ende zu. Sprenkelschweif konnte das nur deshalb vermuten, weil weniger Licht durch die aufgeschüttete Schneewand kam als noch vor einiger Zeit. Die Sonne wanderte weiter und ließ sie wieder in einer grauen Dämmerung zurück. Den ganzen Tag über hatten Hellfleck, Dunkelherz und Funkenlicht versucht, einen Tunnel durch den Schnee zu graben, doch jeder ihrer Versuche war gescheitert. Nicht mal die Spuren ihrer Bemühungen waren mehr zu sehen. Es war einfach alles wieder zusammengefallen.
Während die drei Krieger an der weißen Wand gearbeitet hatten, hatte Sprenkelschweif mit Hasensturm die Höhle untersucht. Vielleicht gab es ja noch einen weiteren Ausgang, aber das war leider nicht der Fall.
Wie soll es jetzt weitergehen? Sie wollte gerade zu Dunkelherz gehen, um ihm zu helfen, als auf einmal etwas Schnee von oben hinunter fiel. Alle fünf Katzen schauten überrascht nach oben und erblickten eine große Pfote, die von außen in der Nähe der Decke offenbar Schnee zur Seite schaufelte.
»Hallo?«, rief Funkenlicht hoch. »Ist da jemand?«
Die Pfote verschwand und der Kopf einer riesenhaften Katze versuchte, sich durch die Lücke zwischen Höhlendecke und Schneewand zu quetschen, aber es funktionierte nicht. Also drehte die Katze sich zur Seite, sodass nur ein bernsteinfarbenes Auge zu ihnen hinab blickte, umrahmt von rötlich braunem Fell. Über dem Auge war ein senkrechter, schwarzer Strich.
»Seid verschüttet worden?«, fragte die Katze mit einem seltsamen Akzent. »Seid wie viele? Braucht Beute?«
»Wir sind fünf Katzen!«, antwortete Funkenlicht mit lauter Stimme. »Kannst du uns hier raus holen? Oder kannst du Hilfe holen? Unsere Clans sollten sich auf dem Weg hierher befinden!«
»Kann euch nicht raus holen«, meinte die Katze. Mittlerweile vermutete Sprenkelschweif, dass es eine Kätzin war, aber sie war viel größer als alle, die sie kannte! »Ist zu viel Schnee unten. Brauche viel zu lange dafür. Sagtest, Clans in der Nähe?«
»Ja, unsere Clans!«, erklärte dieses Mal Hellfleck. »Viele Katzen, die zusammen durch die Berge ziehen. Sie werden angeführt von zwei Kätzinnen – schwarz und hellgrau – und einem gefleckten Kater!«
»Und einer Wildkatze namens Ojiha!«, fügte Dunkelherz hinzu.
»Werde sie suchen«, sagte die fremde Kätzin. »Muss in welche Richtung gehen?«
»Dorthin, wo die Sonne aufgeht.« Hasensturm deutete nach links, von wo sie gekommen waren.
»Werde sie suchen«, wiederholte die Kätzin. Ihr Gesicht verschwand schon aus dem Loch, als Sprenkelschweif noch schnell rief: »Hast du meinen Bruder gesehen?«
Zum Glück kehrte das Gesicht mit dem Bernsteinauge zurück und musterte sie neugierig.
»Er hat dunkelgraues, fast schwarzes Fell!«, miaute sie schnell. »Und er war mit einer hellgrau getigerten Kätzin unterwegs!«
»Hab niemanden gesehen«, brummte die Kätzin. »Ist alles runtergestürzt. War viel Chaos und Kälte.« Sie hielt kurz inne. »Sollte vielleicht doch erst etwas jagen. Seht sehr hungrig aus. Seid nicht an Himmelsberge gewöhnt.«
»Du bist keine Katze, oder?«, fragte Hasensturm auf einmal. »Du bist viel zu groß für eine Katze. Lebst du hier in den Bergen?«
»Lebe in den Bergen«, bestätigte sie. »Bin Berglöwin. Ist mein Zuhause hier. Klettere überall hoch und runter und jage. Macht Spaß. Außer Lawinen.« Wie auf Kommando fiel ein weiterer Schneeklumpen runter in die Höhle und zerbrach in mehrere Stücke. »Bin bald wieder da.«
Dieses Mal verschwand sie wirklich.
»Eine Berglöwin?« Sprenkelschweif sah die anderen vier fragend an. »Was ist das?«
»Das ist nicht wichtig«, meinte Hellfleck. »Hauptsache, sie holt uns hier raus!«
»Ojiha wird es wissen«, miaute Dunkelherz und stupste sie aufmunternd an. Dennoch lag Sorge in seinem Blick. Es gefiel ihm offenbar genauso wenig wie ihr, dass diese Berglöwin Nebeljäger und Lilientau nicht gesehen hatte.
Sie sind ganz sicher irgendwo in Sicherheit, beruhigte sie sich. So ist es auch besser. Nebeljäger wird weiterhin mit Lilientau zusammen sein können. Unwillkürlich musste sie an Fliegenschatten denken. Wie es ihm wohl ging? Bestimmt machte er sich schon Sorgen um sie.
Es dauerte nicht lange, bis die Berglöwin tatsächlich zurückkehrte. Ihr Schatten wanderte über die Schneedecke, die am oberen Rand der Höhle etwas dünner zu sein schien. Dann ließ sie einen weißen Hasen durch das Loch nach unten fallen. Es folgte noch einer. Sprenkelschweif lief das Wasser im Maul zusammen.
Wie konnte sie so schnell Beute finden und sie dann auch noch erlegen? Sie lebt aber bestimmt schon sehr lange hier. Dann ist das wahrscheinlich kein Wunder.
»Danke!«, rief Funkenlicht zu ihr hoch, bevor er sich mit Hasensturm den kleineren Schneehasen teilte. Sprenkelschweif, Dunkelherz und Hellfleck machten sich über den anderen her.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Sprenkelschweif die Berglöwin, bevor diese wieder verschwinden konnte.
»Aer«, antwortete diese. »Bedeutet Luft auf Sprache der Mächte.«
Sprenkelschweif wusste zwar nicht, was diese Sprache war, aber sie war furchtbar neugierig. »Lebst du schon lange hier in den Bergen? Kannst du deshalb so gut jagen? Wie bist du der Lawine entkommen?«
»Wurde hier geboren«, kam die Antwort von oben. »Habe nie gehungert. Habe von Mutter gelernt. War gute Berglöwin, aber sehr alt. Ist schon tot. Bin der Lawine entkommen...« Sie verstummte abrupt. »Hatte einen schlechten Tag gestern. Wollte Steinbock erlegen, aber hat mich fast eine Klippe runtergestoßen. Musste schnell wegklettern. Habe mich dann auf anderer Seite vom Berg versteckt.«
»Was ist ein Steinbock?«, wollte Sprenkelschweif wissen.
»Hat gebogene Hörner auf Kopf«, erklärte Aer.
»Wir haben sie schonmal gesehen!«, rief Sprenkelschweif aufgeregt. »Das Tier mit der Schnecke auf dem Kopf!«
»Du bist gerade die einzige, die sich darüber freut«, grummelte Hellfleck. »Du hältst die Berglöwin nur auf. Wenn du ihr noch weitere Fragen stellst, wird sie nie los können, um unsere Clans zu holen.«
»Entschuldige...« Sprenkelschweif senkte beschämt den Kopf.
»Gehe eure Clans suchen«, verkündete Aer, die Hellfleck offenbar verstanden hatte. »Waren in Richtung Sonnenaufgang?«
»Ja.« Funkenlicht nickte bestätigend. »Vielen Dank für deine Hilfe!«
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Lied zum Kapitel: Peter Roe - Winter's Tale
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