Verloren

Erst am Abend hatte Terra Gelegenheit, sich endlich die Pfoten zu vertreten. Tigerblume hatte ihr angeboten, sich um Abendjunges und Morgenjunges zu kümmern, bis sie wieder zurück war. Also war sie aus der Höhle gesprungen und in Richtung Wasser getrabt. Sie hatte eigentlich gehofft, eine der FlussClan-Katzen beim Jagen beobachten zu können, aber vermutlich war es schon zu spät.

»Terra!«

Bei Hechtkralles Ruf blieb sie stehen und drehte sich um. Ihr Gefährte lief mit großen Sprüngen auf sie zu und blieb schließlich vor ihr stehen.

»Machst du einen kleinen Spaziergang? Ich begleite dich!«

»Gerne!« Schnurrend strich sie ihm über die Flanke. »Wie war dein Tag heute?«

»Ich wollte Dachspfote ein paar Kampftechniken beibringen, doch dann sind ein paar Wächter aufgetaucht und haben mit uns geschimpft«, erzählte er. »Also bin ich stattdessen mit ihm jagen gegangen, aber in den Dünen gibt es nur wenig Beute. Dafür hat Dachspfote heute zum ersten Mal eine Blindschleiche gesehen.«

»Dass die FlussClan-Katzen jeden Kampf so sehr verurteilen...« Terra schüttelte ungläubig den Kopf. »Was machen sie denn, wenn jemand sie angreift?«

»Wer soll sie hier angreifen? Hier gibt es doch weit und breit niemanden.«

»Was ist mit dem Beutedieb, den der SchattenClan vertrieben hat?«, erinnerte Terra ihn. »Ich denke mittlerweile, dass der früher zum FlussClan gehört hat. Vielleicht wurde er ja verbannt, weil er irgendwann mal einen Kampf begonnen hat.«

Hechtkralle wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Meinst du? Aber stimmt, mir kommt es auch komisch vor, dass wirklich keine einzige Katze hier Narben hat.« Er hielt kurz inne. »Ich habe gehört, wie ein paar Schüler Dachspfote danach irgendwelche Tanzschritte zeigen wollten.«

»Tanzschritte?« Terra musste unwillkürlich an die Schrittfolge denken, die Ojiha durchgeführt hatte, als er den Fluch über Funkenstern gelegt hatte. Hat er sie hier gelernt?

»Anscheinend lösen die Katzen hier ihre Konflikte, indem sie miteinander tanzen«, erklärte Hechtkralle. »Eine Art Kampf, bei dem man sich aber nicht berühren darf. Geschweige denn verletzen.«

»Und dann? Wer ist der Gewinner?«

»Keiner. Danach ist der Konflikt einfach gelöst.«

Terra schnaubte belustigt. »Diese Szene muss ich mir gerade vorstellen. Zwei Katzen springen umeinander herum und gehen danach einfach wieder auseinander. Was soll so etwas bringen?«

»Es ist einfach ihre Tradition«, miaute Hechtkralle und deutete dann auf etwas, was halb von Sand bedeckt war. »Ich habe rausgefunden, dass das hier eine Muschel ist.« Er wischte mit der Pfote etwas Sand weg und legte so eine rundliche Form frei, die Terra ab und zu schonmal in der Nähe der Höhle gesehen hatte. Hechtkralle drehte diese Muschel um, doch darunter war nur noch mehr Sand. »Klippensprung hat erzählt, dass in einigen von ihnen kleine, glitzernde Kugeln sind. Das sind Perlen. Die Katzen hier haben auch die Tradition, dass sie ihren Geliebten Perlen schenken. Wenn die Perle angenommen wird, sind die beiden Katzen Gefährten geworden. Klippensprung meinte, dass er zwei Monde nach der Perle für seine Gefährtin Blauwasser gesucht hat.«

Terra schnurrte. »Bin ich froh, dass du das nicht tun musstest!«

»Ich würde es aber tun!«

»Das weiß ich doch!« Sie leckte ihm über die Wange und blickte dann zusammen mit ihm zum Horizont, wo die Sonne gerade unterging. Vor dem rötlichen Himmel zeichnete sich der Umriss des Heiligen Felsens ab. Terra wusste zwar, dass sie eigentlich nicht in diese Richtung schauen sollte, weil sie versehentlich die Hohepriesterin sehen könnte, was für den FlussClan eine schwere Beleidigung wäre, aber sie konnte nicht anders. Und tatsächlich entdeckte sie die Gestalt einer schildpatt-weißen Katze, die aus einer Öffnung im Felsen auftauchte und in Richtung Ufer eilte. Es sah so aus, als würde sie über das Wasser laufen, aber natürlich waren da in Wirklichkeit einfach aufgeschichtete Steine knapp unter der nassen Oberfläche.

»Hast du gehört, dass ein paar Heiler auf den Heiligen Felsen wollen?«, fragte Hechtkralle, der ihren Blick gesehen hatte. »Wahrscheinlich bringt diese Priesterin gerade die Antwort, ob sie das dürfen.«

»Die Heiler? Auch Sprungflügel?« Terra fühlte sich leicht unwohl bei dem Gedanken, dass die Heilerin nicht da wäre. Immerhin kamen entweder sie oder Glanzpfote regelmäßig vorbei, um nach Abendjunges und Morgenjunges zu schauen.

»Nein, sie nicht und Glanzpfote auch nicht«, beruhigte Hechtkralle sie. »Aber dafür Sternenpfote vom SchattenClan. Weises Reh wollte auch aufbrechen.«

Terra nickte und beobachtete, wie die Priesterin am Ufer ankam, wo bereits Klippensprung auf sie wartete. Die beiden unterhielten sich kurz, bevor die schildpatt-weiße Kätzin einige der bereitgelegten Fische aufnahm und sich auf den Rückweg machte. Klippensprung hingegen wandte sich ab und verschwand in Richtung Grausterns Bau.

»Es ist schon spät«, miaute Hechtkralle. »Du solltest jetzt auch schlafen.«

»Ja. Gute Nacht, mein Liebster.« Sie gingen noch ein Stück gemeinsam zurück zu den Dünen, bevor ihre Wege sich trennten. Hechtkralle hatte eine etwas größere Höhle abbekommen, in der er zusammen mit zwölf weiteren Katzen schlief. Terra schnurrte belustigt, als er bereits von Rindenschatten erwartet wurde, der ihn freundschaftlich in die Seite stieß und in die Höhle bugsierte. Da sie beide Schüler mit einem ähnlichen Charakter hatten, hatten sie sich in letzter Zeit angefreundet.

Kurz bevor Terra die Höhle betreten konnte, in der ihre Jungen bestimmt schon auf sie warteten, bemerkte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Zu ihrer Überraschung sah sie Glanzpfote auf sich zueilen. Was macht sie so spät noch draußen? Sollte sie nicht schon lange schlafen?

»Terra, ich muss mit dir reden!«, miaute die schneeweiße Kätzin schon von Weitem und blieb keuchend stehen. »Es ist wichtig. Ich weiß nicht... Ich denke, ich... Ich weiß aber, dass es so war!«

»Was war?«, fragte sie verwirrt.

»Ich habe Ärger bekommen, weil ich Sprungflügel gefragt habe. Sie hat gefragt, wie ich es wagen kann, solche Lügen zu erzählen, aber es war so! Ich weiß es! Ich kann mich daran erinnern! Und du doch auch! Du musst es doch wissen!« Glanzpfote sah sie flehend an. »Ich bin nicht verrückt! Ich hab mir das nicht ausgedacht!«

»Was ist denn los?« Terra war vollkommen verwirrt. »Worüber redest du?«

»Deine Jungen«, flüsterte die Heilerschülerin leise. »Ich habe sie mit eigenen Pfoten begraben.«

Terra erstarrte. »Was?« Ihre Pfoten zuckten und sie wollte sofort in die Höhle, um nach Abendjunges und Morgenjunges zu sehen, doch sie wusste, dass mit ihnen alles in Ordnung sein musste. Tigerblume passte auf sie auf. »Was redest du da? Meine Jungen sind in ihrem Nest und schlafen!«

»Zwei deiner Jungen.« Glanzpfote duckte sich leicht als fürchtete sie sich vor ihrem Zorn. »Zwei andere sind bei der Geburt gestorben. Deswegen hat Sprungflügel dir doch immer wieder Kamille gegeben. Damit du deine Trauer überwindest und dein Herz sich beruhigt. Du warst so traurig, als sie nicht gelebt haben. Danach hast du nicht mehr über sie geredet. Sprungflügel meinte, dass das bei einigen Königinnen so sein kann. Dass du Zeit brauchst, um deinen Schmerz zu überwinden und dass du sie deswegen verdrängst. Aber jetzt... Jetzt möchte sie dir keine Kamille mehr geben! Und sie weiß nicht, wovon ich rede! Aber ich weiß es! Ich war dabei! Ich... Terra?«

Sie war wie betäubt. Und ihr war schlecht. Abendjunges. Morgenjunges. Ihre Söhne. Hatte sie noch mehr Junge gehabt? Nein, unmöglich. Sie hatte nur diese zwei. Sie würde sich doch wohl erinnern, wenn sie weitere gehabt hätte!

»Was redest du da?«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und baute sich vor der Heilerschülerin auf. »Ich hatte nur zwei Junge! Warum lügst du über so offensichtlich falsche Sachen?«

»Du... du kannst dich auch nicht mehr erinnern?« Glanzpfote riss erschrocken die Augen auf und legte die Ohren an. Ein Zittern lief durch ihren Körper, während sie sich ängstlich zusammenkauerte. »Aber... Ich lüge nicht! Du musst mir glauben! Warum hätte Sprungflügel dir sonst Kamille geben sollen? Ich verstehe das nicht...«

Angesichts der völlig verängstigten Kätzin trat Terra einen Schritt zurück. Sie sieht nicht so aus als würde sie lügen, aber das ist unmöglich! Andererseits hat Sprungflügel mir wirklich Kamille gegeben, was keine Königin außer mir bekommen hat. Aber, nein, unmöglich. Ich würde mich doch erinnern...

Und plötzlich begriff sie etwas. Etwas so Schreckliches, dass sie es nicht glauben wollte. Doch es war die einzige Erklärung. Die einzige Erklärung für diesen Verrat.

Aqua, warum hast du es getan? Wie betäubt starrte sie Glanzpfote an, die sich nun wieder aufgerichtet hatte. »In welcher Höhle ist Aqua?«, fragte sie benommen.

»Was hat sie damit zu tun?«

»Mehr als du denkst«, zischte Terra, beachtete die Heilerschülerin nicht weiter und machte sich selbst auf die Suche. Sie entdeckte den Geruch ihrer besten Freundin fast sofort. Er kam aus einer ebenfalls großen Höhle, in der viele Katzen schon schliefen. Ohne auf das protestierende Gemurmel zu achten, arbeitete sie sich zu Aquas Schlafplatz vor und rüttelte die getigerte Kätzin dann, bis sie wach war.

»Terra?« Sie blinzelte sie überrascht an, doch als sie die Wut in ihren Augen sah, blitzte Erkenntnis auf ihrem Gesicht auf.

»Warum hast du das getan?«, fauchte Terra.

»Ich...«

Doch Terra wollte keine Erklärungen mehr hören. Mit ausgefahrenen Krallen stürzte sie sich auf ihre ehemalige Freundin, die ihrem ersten Schlag nur mit Mühe ausweichen konnte.

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Oh shit O.o

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