Vergessen

Es dauerte nicht lange, bis Funkenlicht und Blendfeuer angerannt kamen und ohne zu fragen anfingen, die Erde über Terra wegzuschaufeln. Aqua starrte geschockt auf das Loch, in dem ihre beste Freundin verschwunden war. Wie konnte das passieren? Warum habe ich es nicht verhindert? Warum sind wir überhaupt so herumgerannt? Wir kannten das Gelände noch gar nicht!

»Terra!« Achtlos stieß Hechtkralle sie zur Seite und fing ebenfalls an, wie wild zu graben. Erdbrocken flogen durch die Luft und endlich schien er auf etwas zu stoßen. Aqua sah an dem blaugrauen Kater vorbei und entdeckte den Kopf ihrer besten Freundin.

Kein einziges Stück Erde klebte an ihrem Fell. Sie sah aus, als wäre sie nie in diesem Loch gewesen. Doch sobald Hechtkralle sie über den Rand und in Sicherheit gezogen hatte, schrie Terra auf und krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Etwas stimmte nicht. Aqua erblickte ihre nassen Hinterbeine und verstand sofort.

»Sprungflügel!«, schrie sie so laut sie konnte und hockte sich neben Hechtkralle hin, dessen Augen vor Angst und Panik weit aufgerissen waren.

»Was ist los?«, fragte er sie immer wieder, doch Terra schien ihn überhaupt nicht zu hören.

»Sie bekommt eure Jungen«, flüsterte Aqua ihm leise zu. »Der Sturz... Er muss die Wehen ausgelöst haben.«

»Aber es ist doch viel zu früh!«

»Beim SternenClan«, ertönte Sprungflügels Stimme. Die Heilerin scheuchte Blendfeuer und Funkenlicht zur Seite. »Steht nicht einfach so rum. Bringt mir Moos und etwas Weiches, auf dem sie liegen kann. Und holt Glanzpfote her! Sie soll die Kräuter mitbringen, die ich ihr heute gezeigt habe.«

Während die zwei Krieger davon rannten, ließ Sprungflügel sich neben Terra nieder und tastete über ihren Bauch. Ihr Gesicht zeigte keine Regung.

»Was ist los?«, fragte Hechtkralle besorgt. »Es ist doch zu früh, oder? Was wird jetzt passieren?«

»Sie wird ihre Jungen bekommen«, miaute die Heilerin entschlossen. Ihr Blick fiel auf das aufgewühlte Erdloch. »Da ist sie reingefallen? Gut, dass ihr sie schonmal gesäubert habt. Das verhindert eine Entzündung.«

Hechtkralle schien die letzte Bemerkung vollkommen zu überhören, doch Aqua horchte auf. Es war keine Erde an ihrem Fell... Vorerst ignorierte sie das jedoch. Sie leckte Terra aufmunternd über die Flanke, um sie zu beruhigen.

»Alles wird gut«, flüsterte sie ihr zu.

»Es wäre gut, wenn ihr beide uns erstmal alleine lassen würdet«, miaute Sprungflügel streng. »Du auch, Hechtkralle. Ich werde mein Bestes tun, um deine Gefährtin und deine Jungen zu retten.«

»Zu retten?« Der blaugraue Kater riss entsetzt die Augen auf. »Aber...«

»Geht jetzt!«

Aqua stupste Hechtkralle vorsichtig an und führte ihn dann von Terra weg, zurück in Richtung des provisorischen Lagers. Wenigstens würden die anderen Clans nichts von der Geburt mitbekommen. Der Felsen, von dem Terra gesprungen war, verdeckte die Sicht auf sie vollständig. Als sie fast da waren, kam ihnen Glanzpfote entgegen. Die junge Schülerin hielt einen Haufen von Kräutern im Maul und rannte zu ihrer Mentorin.

»Ihr wird doch nichts passieren, oder?«, fragte Hechtkralle auf einmal. Seine Stimme zitterte.

»Sprungflügel ist eine gute Heilerin«, beruhigte Aqua ihn und seufzte dann. »Es tut mir leid. Wir hätten nicht so stürmisch durch eine Gegend laufen sollen, die wir nicht kennen.«

Der Krieger schwieg eine Weile. »Es ist nicht deine Schuld. Terra war schon immer so. Nichts hält sie auf, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat. Sie ist so mutig und stark...« Seine Stimme brach. »Ich möchte sie nicht verlieren.«

»Das wirst du nicht.« Aqua spürte, wie ihre Kehle sich zusammenzog. Ihr Herz schmerzte. Sie hatte schon einmal eine Königin gesehen, deren Junge zu früh gekommen waren. Keines der Jungen hatte die Geburt überlebt. Wie kann ich etwas versprechen, das ich nicht mit Sicherheit weiß?

Zum Glück hörte man auf diese Entfernung und wegen des Felsen die Schreie kaum. Aqua wich keinen Augenblick von Hechtkralles Seite. Selbst dann nicht, als Vogelschweif sie fragte, ob sie sich die Maus teilen wollten, die ihre Schülerin Laufherz heute erjagt hatte – ihre erste Frischbeute.

Irgendwann wurde es Abend. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu und ließ die Schatten zu langen, nicht enden wollenden Linien werden. In diesem goldenen Licht löste sich endlich eine Gestalt aus der Silhouette des Felsens und kam auf sie zu. Es war Glanzpfote. Ihre weißen Pfoten hatten rote Sprenkel.

»Ihr könnt kommen«, miaute sie mit einer dünnen Stimme. »Terra ist sehr erschöpft und schläft jetzt.«

»Aber sie lebt?« Hechtkralle war sofort auf den Beinen. »Und die Jungen?«

Glanzpfote sah unsicher zwischen ihnen hin und her, bevor sie ein paar Schritte zurückwich. »Ich bin noch nicht so gut darin... Bitte...«

»Bestimmt geht es ihnen gut«, sagte Aqua schnell. Die Unsicherheit der Heilerschülerin schlug auf Hechtkralle über, der nervös mit dem Schweif peitschte. Gemeinsam folgten sie Glanzpfote. Schon aus einigen Schritten Entfernung war der Geruch nach Blut wahrzunehmen.

»Terra!« Hechtkralle stürzte sofort zu seiner Gefährtin, als er sie sah. Die gefleckte Kätzin lag tatsächlich in einem um sie herum gebauten Nest aus Moos und Federn und schlief. Der Krieger rollte sich neben ihr zusammen und schaute voller Liebe zu den zwei Jungen, die sich eng an ihren Bauch gekuschelt hatten.

Sie sind so klein, dachte Aqua. Und sie sehen so schwach aus.

»Es sind zwei Kater«, flüsterte Sprungflügel ihnen zu. »Sie haben noch keine Namen. Terra war zu schwach.«

»Aber es geht ihnen gut?«, versicherte Hechtkralle sich. »Sind sie gesund?«

Die Heilerin zögerte kurz, bevor sie nickte. »Ja, sie sind gesund. Doch sie wurden zu früh geboren. Ich werde zu Schattenstern gehen und ihr sagen, dass sich unsere Abreise so lange verzögert wird, bis sowohl Terra als auch eure Jungen sich erholt haben.«

»Danke!« Hechtkralle klang überglücklich.

Aqua hingegen folgte Sprungflügel, die sich abwandte und zu Glanzpfote ging. Die Heilerschülerin hatte in der Nähe gewartet, dabei jedoch auch etwas gemacht. Ihre vorher blutbesprenkelten Pfoten waren nun von Erdklumpen verschmutzt. Hatte sie etwas gegraben?

»Du hast nicht alles gesagt«, wandte Aqua sich im Flüsterton an Sprungflügel. »Was ist noch passiert?«

Die Heilerin seufzte. »Es haben nicht alle Junge überlebt«, erklärte sie genauso leise. »Zwei sind gestorben. Glanzpfote hat sie hier begraben. Es hat Terra das Herz gebrochen. Sie hat kein einziges Wort geredet, bis sie eingeschlafen ist.«

Aqua starrte Sprungflügel ungläubig an. »Du musst es Hechtkralle sagen!«

»Noch nicht«, meinte die weiße Kätzin. »Lass ihn erst seine zwei Söhne auf der Welt begrüßen. Er hat sich schon genug Sorgen gemacht.« Sprungflügel drückte einen Teil der aufgewühlten Erde, den Glanzpfote offenbar übersehen hatte, nochmal platt und machte das Grab somit unsichtbar. »Ich bleibe in der Nähe, falls etwas ist.«

Aqua nickte und warf einen Blick zurück zu Terra und Hechtkralle, der mittlerweile auch schon fest schlief. Sind die zwei Jungen wegen mir gestorben?, fragte sie sich. Hätte ich sie aufhalten müssen? Wird sie mir die Schuld geben? Diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Terra war ihre beste Freundin. Mit niemandem hatte sie mehr zu tun gehabt als mit ihr. Sie hatte ihr geholfen, über ihren eigenen Schatten zu springen und wieder zu kämpfen, obwohl sie sich geschworen hatte, es nie wieder zu tun.

»Ich schaue nur noch kurz nach den Jungen und gehe dann zurück zum Lager«, sagte sie und wandte sich nach Sprungflügels Nicken um. Vor Terras Nest blieb sie stehen.

Ist es richtig, was ich vorhabe? Es wird ihr doch helfen, oder?

Vor sich sah sie die zwei grünen Augenpaare schweben. Flosse und Wolke. Sie hatten ihr erzählt, wie sie ihre Macht nutzen konnte. Was sie alles tun konnte. Zwar hatte sie sich geschworen, es nicht zu tun, und sie damit verärgert, aber diese Situation war doch etwas Besonderes, oder nicht?

Ich werde ihr nur helfen, ihre Trauer zu überwinden, redete sie sich ein. Sie hat schon so viele verloren, die ihr etwas bedeuteten. Und sie hat sich so sehr auf ihre Jungen gefreut.

Langsam beugte sie sich zu Terra hinab, zögerte. Tat sie es wirklich nur für Terra? Oder auch für sich selbst? Wenn sie es tat, könnte niemand ihr die Schuld für den Tod der zwei Jungen geben.

»Deine Jungen sind nie gestorben«, flüsterte Aqua und spürte, wie eine Welle aus Hitze durch ihren Körper fuhr. »Du hattest nie vier Junge. Nur zwei. Und diese zwei haben überlebt.«

Dann erhob sie sich. Terra schlief immer noch, doch sie wusste, dass es geklappt hatte. In der Dunkelheit, die sich mittlerweile über die kahle Landschaft gelegt hatte, leuchteten zwei grüne Augenpaare.

»Du hast dich also entschieden, was?«, höhnte Wolke.

»Ich werde meine Macht nie benutzen!«, äffte Flosse sie nach. »Ja, das habe ich damals auch gedacht.«

»Hechtkralle war noch wach«, log Aqua, als sie an Sprungflügel und Glanzpfote vorbeikam. »Ich habe ihm von den toten Jungen erzählt. Ihr müsst es nicht mehr tun. Wir sollten die vier jetzt ruhen lassen.«

Die Heilerin nickte ihr dankbar zu.

Aqua ging an ihr vorbei und zurück in Richtung Lager. Flosse und Wolke folgten ihr eine Weile, bevor sie begriffen, dass sie sie weiterhin ignorieren würde, und verschwanden dann. Vermutlich zu Ignis, dem sie mittlerweile auch schon von seiner Macht erzählt hatten. Der Macht des Feuers.

Wann wird er sie das erste Mal einsetzen?, fragte sie sich. Oder hat er das schon?

Das schlechte Gewissen bohrte sich schmerzhaft in ihre Brust und begleitete sie noch bis in den Schlaf.

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Lied zum Kapitel: Eternal Eclipse - Shape of Lies

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