Schmerzhaft

Es waren Nebeljäger und Lilientau. Sprenkelschweif starrte und starrte. Ihr Herz schlug so schnell wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hörte Stimmen um sich rum. Stimmen voller Angst und Trauer und Sorge. Doch sie verstand nicht, was diese Katzen sagten. Was wollten sie überhaupt von ihr?

»Das ist nicht wahr«, flüsterte sie, mehr zu sich selbst. Dann schrie sie. »Nein! Nein! Beim SternenClan, nein!«

Sie hatte das Gefühl, zerspringen zu müssen. Sich in der Mitte auseinanderzureißen. Es tat so weh. Es tat so weh, ihre Körper zu sehen. Inmitten des Schnees. Das Fell von Eis verkrustet, mit einem frostigen Schimmer überzogen. Sie waren kalt, alle beide. Lange tot. Von der Lawine erschlagen oder später erfroren, sie wusste es nicht. Sie wollte es auch nicht wissen.

Wie von selbst stürzte ihr Körper zu Nebeljäger, ihrem Bruder, dessen Stimme sie nie mehr hören würde. Sprenkelschweif wollte ihre Schnauze in seinem Fell vergraben, doch jemand hielt sie auf. Eine Katze hatte sie am Nackenfell gepackt und zog sie zurück. WindClan-Geruch stieg ihr in die Nase. Sie riss sich los, stand danach aber nur noch still da. Betäubt.

Warum?, fragte sie sich. Die Trauer grub sich tief in ihr Herz und presste es so fest zusammen, dass sie leise wimmerte. Warum bist du nur weggelaufen?

Schwarzes Fell tauchte neben ihr auf. Schattenstern, ihre Mutter. Sprenkelschweif konnte nicht anders als sich an ihre Seite zu schmiegen. Sie wollte fliehen, einfach nur fliehen. Wenigstens in Gedanken.

»Er... ist tot«, hörte sie Dunkelherz' fassungslose Stimme von irgendwo her.

»Die beiden sind jetzt beim SternenClan«, miaute Sprungflügel sanft. Die Heilerin beugte sich über Nebeljäger und Lilientau und berührte sie leicht mit der Nase. Sprenkelschweif sah weg.

»Er war nur so kurz Krieger...«, ertönte Funkenlichts Stimme. »Ich hätte nicht gedacht, dass...« Er verstummte.

»Lilientau ist mit mir zusammen zur Kriegerin ernannt worden«, hauchte Fliegenschatten. Sprenkelschweif löste sich von Schattenstern, die schweigend vor ihrem toten Sohn stand, und sah hinüber zu ihrem Gefährten. Fliegenschatten war ein Teil der DonnerClan-Katzen, die nach vorne gerufen worden waren. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte er auf die beiden Toten.

»Wir hätten schneller sein müssen«, meinte Hellfleck mit zitternder Stimme. »Wenn wir sie nur vorher eingeholt hätten...«

»Sie hätten in erster Linie gar nicht weglaufen dürfen«, miaute Rosendorn kalt. »Es ist verboten, einen Gefährten in einem anderen Clan als dem eigenen zu haben. Der SternenClan hat sie für ihre Taten bestraft.«

Einige DonnerClan-Katzen murmelten zustimmend.

Die rote Kätzin wandte sich an Schattenstern. »Was denkst du?«, fragte sie herausfordernd. »Wusste dein Sohn nicht, dass er in den eigenen Tod laufen wird? Er ist doch sogar noch kurz vorher zum Krieger ernannt worden. Dabei hat er versprochen, seinem Clan treu zu sein, selbst wenn es ihn sein Leben kostet.«

»Schweig!«, fuhr Hechtkralle Rosendorn an. »Vielleicht ist es gegen das Gesetz der Krieger, dass sie beide geflohen sind, aber der SternenClan hätte sie nie im Leben so grausam dafür bestraft!«

»Sie waren ehrenvolle Krieger«, brach nun Schattenstern endlich ihr Schweigen. »Der SternenClan wollte sie bei sich haben und hat sie zu sich geholt.«

»Zu sich oder in den Wald der Finsternis?«, hörte Sprenkelschweif Rosendorn noch zischen, doch die rote Kätzin verstummte, als Wolfstern auftauchte.

Die Anführerin des DonnerClans blickte zu Nebeljäger und Lilientau und ihr Blick verdüsterte sich. »Wir werden sie begraben und die Totenwache für sie halten.«

Die Totenwache... Sprenkelschweifs Verstand weigerte sich, an den Tod ihres Bruders zu glauben, obwohl sie genau wusste, dass er Wirklichkeit war. Und Lilientau... Sie hat uns damals geholfen den Faucher als den Mörder zu enttarnen. All das schien eine Ewigkeit zurück zu liegen.

»Komm«, flüsterte jemand ihr zu. Es waren weder Schattenstern noch Dunkelherz oder Fliegenschatten, sondern zu ihrer Überraschung Mohnjunges. Die Kätzin war in den letzten Monden beachtlich gewachsen und sah ihrer Mutter Tannennadel erstaunlich ähnlich. Sie hätte eigentlich schon einige Zeit Schülerin sein müssen. Widerstandslos und schweigend folgte sie der hellbraunen Kätzin, bis sie etwas abseits all der Katzen waren, die Nebeljäger und Lilientau aus der Lawine befreiten und ihnen ihre Gräber gruben.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, miaute Mohnjunges. Ihre Stimme war sanft und beruhigend. »Es ist schrecklich, jemanden zu verlieren, den man liebt.«

»Du hast beide Eltern auf einmal verloren«, sagte Sprenkelschweif stockend. Ihr fiel auf, dass sie bisher noch nicht viel mit Mohnjunges zu tun gehabt hatte. Aber irgendwie war es gut, mit jemandem reden zu können. Oder schweigen zu können. Auch wenn sie sich wünschte, dass es Fliegenschatten wäre.

»Das liegt in der Vergangenheit«, entgegnete Mohnjunges ruhig. »Der Schmerz ist nicht vergessen, aber man gewöhnt sich an ihn und mit der Zeit wird er schwächer.«

Sprenkelschweif nickte langsam und rollte sich dann mitten im Schnee zusammen. Die Kälte tat ihr gut. Sie betäubte all ihre Gedanken und machte alles langsamer.

Nebeljäger, dachte sie. Wusstest du nicht, welche Gefahren hier auf dich warten? Bist du all das Risiko eingegangen, um mit Lilientau zusammen zu sein? Deine Liebe zu ihr muss so stark gewesen sein... Sie wimmerte leise. Hat der SternenClan dich wirklich dafür bestraft? Das glaube ich nicht!

Irgendwann kamen Dunkelherz und Laufherz zu ihr und legten sich neben ihr hin, spendeten ihr etwas Wärme. Es brauchte keine Worte, um ihre Trauer auszudrücken. Der ganze WindClan und auch der DonnerClan waren ungewöhnlich still. Nur das Kratzen der Krieger, die Löcher in den Schnee gruben, war zu hören. Irgendwo, weit entfernt, war das Heulen eines Wolfes zu hören. Sprenkelschweif fragte sich, wie es Ami, Keet und ihren Welpen ging. Waren sie zu ihrem Rudel zurückgekehrt? Wenigstens wussten sie, wo ihre Heimat war. Wo sie in Sicherheit waren.

Die Sonne war schon lange verschwunden und hatte Platz für die Dunkelheit der Nacht gemacht, als Schattenstern zu ihnen kam. »Es ist Zeit für die Totenwache«, sagte sie leise. »Verabschiedet euch von eurem Bruder und seiner Gefährtin.«

Steif erhob Sprenkelschweif sich auf die Beine und sah sich leicht schwankend um, konnte ihre Leichen aber nirgendwo entdecken.

»Wir haben sie bereits begraben«, erklärte ihre Mutter. »Es war besser so. Ihr sollt sie nicht in so einem Zustand sehen.«

»In was für einem Zustand?« Sprenkelschweif sah Schattenstern ungläubig an. »Er ist mein Bruder! Es ist mir egal, wie er aussieht! Wie soll ich mich so von ihm verabschieden?« Ihre letzten Worte brachte sie nur noch stockend heraus. Sie senkte den Kopf und ging davon, in Richtung der Stelle, wo Nebeljäger und Lilientau gefunden worden waren, ohne auf eine Antwort zu warten.

Es ist alles falsch, so falsch! An der Stelle, wo vermutlich die Gräber waren, denn der Schnee war von vielen Pfoten festgestampft worden, gaben ihre Beine einfach nach und sie fiel hin. Du wärst nicht weggelaufen, wenn du mit ihr zusammen sein dürftest, oder?, fragte sie ihren Bruder in Gedanken. Dann wärst du beim WindClan geblieben und all das wäre nicht passiert! Oder...

Ihr fiel etwas ein, was Nebeljäger sie kurz vor ihrer Kriegerzeremonie gefragt hatte.

»Habt ihr denn schon eine Entscheidung getroffen?«, hatte er gefragt. »Ich sehe, ihr habt auch schon darüber geredet. Wir auch.«

»Und?«, hatte sie sich erkundigt. »Was werdet ihr tun? Wirst du dich dem DonnerClan anschließen? Wenn du das machst, dann komme ich mit dir!«

»Das habe ich befürchtet«, hatte er gemurmelt. »Deswegen werde ich das nicht tun.«

Er hat es getan, weil ich mit ihm gekommen wäre, wenn er sich dem DonnerClan angeschlossen hätte, begriff sie voller Entsetzen. Er wollte nicht, dass der WindClan zwei Krieger auf einmal verliert. Oder dass Schattenstern zwei Junge auf einmal verliert. Wie konnte ich nur so dumm sein? So naiv? Es ist alles meine Schuld! Ich hätte ihm versichern sollen, dass ich nicht das tue, was er auch vorhat! Ich hätte meine eigenen Entscheidungen treffen sollen! Vergib mir, Bruder! Vergib mir!

Wahrscheinlich hätte sie die ganze Nacht dort gelegen, neben den Gräbern, wenn Dunkelherz nicht zu ihr gekommen wäre.

»Du musst zu den anderen«, miaute er leise. »Hier ist es viel zu kalt.« Sein Blick fiel auf den festgetrampelten Schnee. »Nebeljäger hätte nicht gewollt, dass du dich so quälst. Er und Lilientau schauen uns nun vom SternenClan aus zu.«

Schwerfällig stand Sprenkelschweif auf und folgte ihrem Bruder zu ihrem Schlafplatz. Ihre Pfoten, alles, was sie bewegte, fühlte sich viel zu schwer an. Hoffnungsvoll sah sie hinüber zu den Katzen des DonnerClans. Doch Fliegenschatten erwiderte ihren Blick nicht. Er hatte sich weiter weg als üblich zusammengerollt und schlief. Neben ihm hob und senkte sich die Brust von Moorpfote.

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Lied zum Kapitel: Dan Thiessen – There Will Be Generations Because of You

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