Getäuscht
Die Nacht des Neumonds war angebrochen. Sonnenlauf hatte mit den anderen abgesprochen, dass nur Kräuselpfote Tiefenfrost zu der Stelle mit den Schnecken begleiten würde. Dann würde sie zu ihnen in die Schlafhöhle zurückkehren, während der angebliche Erlöser ihren Plan durchführte. Der FlussClan-Wächter, der diese Nacht Wache hielt, würde ganz sicher rechtzeitig alle anderen aufwecken.
Angespannt starrte Sonnenlauf hinaus in die Dunkelheit, hörte nur das Rauschen der Wellen und den Wind, der über die Dünen pfiff. Wasserflüstern neben ihm leckte ihm beruhigend über die Wange. »Das wird schon«, flüsterte sie ihm zu.
»Es muss werden«, beharrte Sternenpfote, der sich etwas tiefer in der Höhle verkrochen hatte. »Sonst wird es nicht mehr lange dauern, bis Seidenstern beschließt, dass wir eine Gefahr für ihre Macht sind.« Er stieß Sonnenlauf von hinten an. »Bist du dir sicher, was deinen unfreiwilligen Begleiter angeht?«
Damit meinte er Sonnenherz. Seit dem Kampf im Heiligen Felsen hatte seine frühere Geburt sich zurückgehalten und hielt sich offenbar an das, was sie abgemacht hatten: Sollte es zu einem Kampf um Leben und Tod kommen, würde Sonnenlauf ihn frei lassen, damit er ihn retten konnte. Ansonsten hielt er sich zurück.
»Ich bin mir sicher«, antwortete er leise. »Wir kommen zurzeit ohnehin nicht in die Mondkammer.«
»Sie ist wahrscheinlich auch kein heiliger Ort mehr«, meinte Wasserflüstern traurig. »So viel Blut, wie dort vergossen wurde...«
»Irgendwo muss der neue Anführer des FlussClans seine Leben aber her bekommen«, entgegnete Sternenpfote grimmig. »Außerdem muss Eicheltraum vom SternenClan als vollwertige Heilerin anerkannt werden.« Er schnaubte. »Seltsam genug, dass sie mit diesen vier Jungen bei uns angekommen ist. Ich glaube ihr nicht, dass sie sie einfach in den Dünen gefunden hat. Und Kräuselpfote sagt auch, dass sie gelogen hat.«
Unwillkürlich musste Sonnenlauf an die Jungen denken, die die DonnerClan-Heilerin ihnen gebracht hatte. Ein Kater und drei Kätzinnen. Fast alle mit dunklem Fell, nur eine der Kätzinnen war rotbraun gescheckt. Er fragte sich, wo ihre Eltern waren, aber wahrscheinlich würde das ein ewiges Geheimnis bleiben. Birkenblüte hatte sich ihrer angenommen, denn sie erwartete zurzeit Sommerfluts Junge und hatte schon etwas Milch, die sie den Waisen geben konnte.
Sonnenlauf fuhr aus seinen Gedanken hoch, als eine Gestalt vor der Schlafhöhle auftauchte und zu ihnen rein sprang. Es war Kräuselpfote, deren blaugraue Augen aufgeregt leuchteten.
»Es ist bald soweit!«, flüsterte sie mit gepresster Stimme. »Tiefenfrost ist so von Schneckenschleim durchtränkt, es muss einfach klappen!«
Gespannt kroch Sonnenlauf mit Wasserflüstern näher zum Rand der Höhle und spähte hinaus. Noch war nichts zu sehen. Da Neumond war, konnte er nicht einmal die Katze erkennen, die Wache hielt. Sie musste aber irgendwo am Strand sein. Im selben Moment hörte er auch schon Klippensprungs Stimme:
»Tiefenfrost!«, rief der FlussClan-Wächter. »Was tust du da? Beim SternenClan, komm zurück! Die Strömung wird dich hineinziehen! Nein!« Seine Stimme wurde immer schriller, bis er entsetzt aufkeuchte. Kurz war es still. Nur ein leises Plätschern war zu hören, als Klippensprungs ins Wasser watete, vermutlich auf der Suche nach Tiefenfrost. Doch dieser hatte natürlich seine Macht verwendet und war mit den Schatten verschmolzen.
»Tiefenfrost!«, rief der Wächter ein letztes Mal, bevor das Trommeln von Pfoten auf Sand zu hören war.
»Was ist los?«, erklang Wogenbrechers Stimme.
»Tiefenfrost! Er ist einfach ins Wasser gelaufen und dann verschwunden! Er... Er ist nicht mehr da!«
»Beruhige dich! Wo genau...«
Und dann erblickte Sonnenlauf das erste Leuchten. Ein kleiner, gelbgrüner Punkt, der an einer Stelle über dem Meer auftauchte. Immer mehr kamen dazu, sodass es immer heller wurde. Das Licht spiegelte sich im schwarzen Meerwasser und wurde von den herankommenden Wellen leicht verzerrt. Eine regelrechte Wolke der Leuchtkäfer sammelte sich um eine Gestalt herum und ließ sich auf ihr nieder. Sie strahlten so hell, dass nun die Silhouetten von Klippensprung und Wogenbrecher zu sehen waren.
»Der Erlöser«, erklang Klippensprungs Stimme kaum hörbar. Und dann schrie er so laut, dass sicher alle Katzen aus ihrem Schlaf gerissen wurden: »Der Erlöser! Der Erlöser ist gekommen! Er hat sich offenbart in dunkelster Nacht! Er ist ertrunken und wieder auferstanden, umgeben vom Funkeln der Sterne!«
Nach und nach strömten die Katzen aus den Schlafhöhlen. Einige kreischten – ob vor Freude oder vor Entsetzen und Angst konnte Sonnenlauf nicht sagen. Andere jubelten und rannten zum Strand, warfen sich dort in den nassen Sand und begaben sich in eine Pose der totalen Unterwerfung. Unter ihnen war auch Federfall, die sich sogar in die Wellen stürzen wollte, jedoch von Braunlicht aufgehalten wurde.
»Jetzt können wir auch hin«, flüsterte Sternenpfote, stand auf und ging an ihnen vorbei nach draußen. Sie hatten abgesprochen, nicht als erste an den Strand zu kommen. Es durfte keinerlei Verdacht aufkommen, dass sie etwas damit zu tun hatten. Es musste ein totgeschwiegenes Geheimnis bleiben.
»Erlöser!«, riefen die FlussClan-Katzen um ihn herum, als Sonnenlauf seinem Bruder durch die Menge nach vorne folgte. »Erlöser! Vergib uns unsere Sünden! Wir haben so lange auf dich gewartet!«
Sie benehmen sich wie Verrückte, dachte Sonnenlauf. Sein Blick fiel auf seine Clan-Gefährten und die Katzen der anderen Clans, die sich etwas unschlüssig im Hintergrund hielten. Einige wunderten sich offensichtlich, dass die Prophezeiung doch noch eingetreten war, andere musterten den angeblichen Erlöser misstrauisch.
»Hört mich an!«, donnerte nun Tiefenfrosts Stimme über das Meerwasser hinweg. Sonnenlauf erschauerte. Er klang anders als normalerweise. Viel entschlossener, strenger und irgendwie... mächtiger. Die Leuchtkäfer umschwirrten ihn in einer so dichten Wolke, dass sein Fell praktisch unsichtbar war.
Auf seine Worte hin wurde es totenstill am Strand. Die FlussClan-Katzen kauerten sich unterwürfig in den Sand und schauten zu ihm. Sonnenlauf bemerkte, dass nur Wogenbrecher zögerte. Der dunkelgrau getigerte Kater sah zur Seite, suchend, bis sein Blick auf Ojiha fiel, der stocksteif neben Harzjäger stand und die Szene aufmerksam beobachtete.
Ahnt er, dass etwas nicht stimmt?, überlegte Sonnenlauf. Schließlich war es ursprünglich sein Plan. Aber er wird nichts dagegen tun können. Sonst würde sein eigener Clan auf ihn losgehen.
»Ich habe mich offenbart!«, grollte Tiefenfrost. »Ich bin ertrunken und mit dem Segen des SternenClans wieder aufgestiegen! Ihr wisst, wer ich bin! Ich bin der Erlöser!«
»Der Erlöser!«, riefen einige FlussClan-Katzen. »Vergib uns unsere Sünden!«
»Eure Sünden!« Tiefenfrost drehte sich in Richtung des Heiligen Felsens und die Leuchtkäfer folgten ihm. »Dort sind die Sündigen, die jeden sechsten Mond unschuldige Schüler getötet haben! Glaubt ihr wirklich, die Priester haben den Willen des SternenClans ausgeführt?«
Stille legte sich über den Strand.
»Ich bin der Wille des SternenClans!«, donnerte Tiefenfrost. »Und ich sage euch, dass ihr gesündigt habt, indem ihr diese Morde zugelassen habt! Ihr habt gesündigt, indem ihr den wahren Willen des SternenClans ignoriert habt! Fremde Katzen sind gekommen und haben euch von ihrer Mission erzählt! Folgt ihnen, denn das will der SternenClan von euch! Lebt nach dem Gesetz der Krieger!«
Ein leises Raunen ging durch die Menge. Mehrere Katzen sahen hinüber zum Heiligen Felsen, der irgendwo im Dunkeln lag. Sonnenlauf meinte, eine helle Gestalt in dieser Richtung zu erkennen. Einer der Priester, der das Geschehen am Strand beobachtete? Sicher würde die Hohepriesterin nicht begeistert sein.
»Klippensprung, komm nach vorne!«, befahl Tiefenfrost nun.
Der getigerte Kater trat vor. Seine Ohren zuckten unsicher.
»Du wirst den FlussClan in eine neue Zeit der Gerechtigkeit und Ehre führen!«, verkündete Tiefenfrost so laut, dass alle es hören mussten. »Geh in die Mondkammer und empfange dort deinen Anführernamen und deine neun Leben vom SternenClan!«
Klippensprung klappte der Mund auf, doch er konnte nicht widersprechen. Gehorsam neigte er den Kopf vor dem angeblichen Erlöser. »Es ist mir eine Ehre, aber... was ist mit den Priestern? Was ist mit der Hohepriesterin und Graustern? Bisher haben sie uns geführt!«
»Diese Zeiten sind vorbei!« In Tiefenfrosts Stimme schwang ein Hauch von Verärgerung mit. »Der FlussClan muss von einer einzigen Katze angeführt werden und die wirst du sein! Graustein wird seinen Wächter-Namen annehmen. Die Hohepriesterin hingegen ist eine Sünderin, die die Strafe des SternenClans verdient hat! Deine Stütze, deine Heilerin, die dir den Willen des SternenClans verkündet, wird Regenpfote sein!«
Sonnenlauf war etwas überrascht von diesem Entschluss. Er war sich sicher, dass die junge Kätzin eine gute Heilerin sein würde, aber sie war noch eine Schülerin! Sie wusste nichts vom Heilen und hatte sicher noch nie Träume von SternenClan gehabt. Wer würde sie ausbilden?
»Nun wähle deinen Stellvertreter, der nach dir Anführer wird«, fuhr Tiefenfrost fort, »und gehe zur Mondkammer wie ich es dir befohlen habe!«
Es dauerte eine Weile, bis Klippensprung seine Stimme wiederfand. »Was ist mit Tiefenfrost?«, fragte er auf einmal. »Wird er zu uns zurückkehren?«
Er denkt, dass Tiefenfrost wirklich ertrunken ist, schoss es Sonnenlauf durch den Kopf.
»Ich spreche mit seiner Kehle«, erklärte der angebliche Erlöser. »Er wird zurückkehren, sobald ich fort bin.«
»Dann soll er mein Stellvertreter sein«, antwortete Klippensprung entschlossen.
»So soll es sein«, sagte Tiefenfrost und verschwand im selben Augenblick. Er hatte seine Macht verwendet. Und als die Leuchtkäfer allmählich verschwanden, wusste Sonnenlauf, dass der schwarze Kater untergetaucht war. Kurz darauf erschien sein Kopf wieder über der Wasseroberfläche. Prustend und schnaufend schwamm er in Richtung Strand, wo er sofort von Braunlicht an Land gezogen wurde. Die gestreifte Kätzin sah ihn ehrfürchtig an und fragte ihn etwas, woraufhin er nickte.
»Wer kommt mit mir, um der Hohepriesterin ihre Strafe zu verkünden?«, rief Klippensprung im selben Moment. »Wer betritt mit mir die Mondkammer?«
Alle FlussClan-Katzen jaulten ihre Zustimmung und stürmten los in Richtung Steinsteg. Eine nach der anderen kletterten sie auf die rutschigen Steine und liefen sie entlang in Richtung des Eingangs. Als Klippensprung darin verschwand, ertönte nach wenigen Herzschlägen ein panisches Kreischen.
»So sollte es nicht sein!«, flüsterte Wasserflüstern Sternenpfote zu, dessen Ohren unwillig zuckten. »Sie werden sie töten!«
»Bestimmt nicht alle«, miaute der verbrannte Kater unbeeindruckt. »Aber danach wird der Ort gesäubert sein. Tiefenfrost hat gute Arbeit geleistet.«
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Das hier ist das vorletzte Kapitel. Es folgt danach noch ein Prolog und die übliche Hymne an die Gefallenen, Fakten usw. Dieser Band ist von allen bisherigen der längste und ich fürchte, dass der nächste (und letzte) noch länger wird. Ich werde ihn wieder erst ganz zu Ende schreiben, bevor ich ihn nach und nach veröffentliche. Ihr werdet euch also etwas gedulden müssen :) Wenn er fertig ist, werde ich euch natürlich wieder in einem separaten Kapitel Bescheid sagen. Den Zwischenstand (z.B. den Titel, bei dem ich noch etwas schwanke) werdet ihr in meinem Info-Buch »Meine (verrückten) Ideen« verfolgen können.
Im sechsten Band wird es natürlich um den WolkenClan und auch sehr viel um die zwölf Mächte gehen. Keine Sorge, zu den Mächten werde ich im nächsten Band einen kurzen Überblick geben :)
Außerdem überlege ich, ein Special Adventure zu schreiben, das erklärt, wie die Gesetze des Windes entstanden sind. Es wird also um Krallenstern Leben gehen. Ich wollte mal fragen, ob euch das interessieren würde. Keine Ahnung, wann genau ich das Buch dann schreiben werde, aber es würde dann auf meiner To-do-Liste stehen :)
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