Gestohlen
Ungläubig starrte Sonnenlauf auf die Hügel, die sich vor ihnen erhoben. Sie schienen vollständig aus Sand zu bestehen, waren aber trotzdem von hohen Gräsern und anderen kleinen Pflanzen bedeckt, die im Wind sanft hin und her wogten. Schon von Weitem hatte er sich gefragt, was das für seltsame Gebilde waren und jetzt war er nicht schlauer geworden.
»Ich dachte, Pflanzen brauchen Erde, um zu wachsen«, miaute Wasserflüstern ebenso verwirrt.
»Das ist normal«, miaute Ojiha, der sie offenbar gehört hatte. Der Schamane war immer nervöser geworden, je näher sie den Hügeln gekommen waren. Auch jetzt zuckten seine Schnurrhaare und Ohren und Ikalu flog flatternd in die Höhe, bevor er sicher auf einem Ast landete, der aus dem Sand herausragte. »Das sind Dünen.«
»Dü... Was?«, fragte Sonnenlauf.
»Dünen.« Ojiha vergrub eine Pfote in dem Sand und kniff die Augen leicht zusammen. »Auf ihnen wachsen Dünengräser.«
»Und hier lebt der FlussClan?«, fragte Wasserflüstern aufgeregt.
Der Schamane brummte zustimmend. »Auf der anderen Seite. Aber wir müssen noch fünf oder sechs der Dünenkämme überqueren, bis wir wirklich da sind. Ich frage mich nur...« Er schüttelte den Kopf und wandte sich dann ab. »Ich muss ein paar Sachen mit den Anführern besprechen.«
Sonnenlauf sah dem getigerten Kater mit den langen Beinen hinterher, bevor er wieder zu diesen Dünen blickte. Hinter ihnen ist wirklich der FlussClan. Es kam ihm irgendwie seltsam vor, es so sicher zu wissen. Als sie nach Schattenstern gesucht hatten, hatte Ojiha nicht genau gewusst, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatte. Nur ungefähr. Sie hatten eine Weile umherirren müssen, während Düsterer Mond und seine Wölfe ihnen dicht auf den Pfoten gewesen waren.
»Wir sind bald am Ziel!« Wasserflüstern hüpfte aufgeregt auf und ab. »Ist das nicht wunderbar! Ich frage mich schon, wie es dort aussehen wird! Denkst du, es stimmt, dass man das andere Ufer nicht sehen kann?«
»Wenn Ojiha es sagt, muss es wohl stimmen«, sagte er. »Schließlich kommt er von hier.«
»Ich frage mich, ob Sternenpfote mittlerweile herausgefunden hat, warum genau Ojiha den FlussClan verlassen hat.« Ihre Augen weiteten sich. »Denkst du, sie sind alle richtige Wildkatzen?«
Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. »Das werden wir ja bald sehen.« Er stupste sie an. »Komm, die Jagdpatrouille ist zurück. Lass uns etwas essen.«
Wasserflüstern folgte ihm zurück zu den anderen, wo Sommerflut gerade ein paar Mäuse auf den Frischbeutehaufen legte. Er hatte offenbar so viele gefangen, dass er sie nacheinander tragen musste. Gerade hatte er die vorletzte Maus aufgenommen und hatte sich ein Stück von der letzten entfernt, als plötzlich wie aus dem Nichts eine fremde Katze auftauchte, sich die herumliegende Maus schnappte und die Düne hoch rannte. Sofort ließ Sommerflut seine Beute fallen.
»Was soll das denn?«, rief er empört und nahm die Verfolgung auf. »Beutedieb!«
Sonnenlauf wechselte einen Blick mit Wasserflüstern und als sie ihm zunickte, stürmte er los. Solange er noch in Sichtweite seiner Clan-Gefährten war, durfte er seine Macht nicht benutzen, aber er war trotzdem um einiges schneller als Sommerflut. Behände sprang er die Düne hoch, wobei der Sand unter seinen Pfoten immer wieder ein Stück runterrutschte. Dennoch schaffte er es bis ganz nach oben und war dann nicht mehr zu halten.
Mit einem Blick entdeckte er den dunkelgrauen Kater, der mit der gestohlenen Maus im Maul durch das Dünengras den Hang hinunter sprintete. Sonnenlauf atmete tief durch, spürte wie die wohlbekannte Wärme ihn durchströmte. Dann raste er los. Die Landschaft um ihn herum verschwamm zu einem unsteten Gelbgrün. Die Grashalme um ihn herum spürte er gar nicht. Im nächsten Herzschlag war er schon da.
Mit voller Wucht rammte er den dunkelgrauen Kater und stieß ihn von den Beinen. Dieser fauchte verärgert, ließ dabei die Maus fallen und suchte gleichzeitig nach Halt, um nicht unkontrolliert den Dünenhang hinab zu rollen. Sogleich war Sonnenlauf zur Stelle und baute sich vor ihm auf, damit er nicht fliehen konnte. Seine Pfoten versanken teilweise im Sand.
»Was fällt dir ein, unsere Beute zu stehlen!«, fauchte er den fremden Kater an, hielt jedoch inne, als er sah, wie abgemagert dieser war. Er hatte auf den ersten Blick zwar wohlgenährt ausgesehen, doch das hatte nur an seinem dichten und dicken Pelz gelegen. Als der Kater zu ihm aufschaute, stellte Sonnenlauf auch fest, dass ihm ein Auge fehlte. Anscheinend war es von einer Entzündung zerfressen worden. Am Rand der Kruste waren Spuren einer Verletzung zu sehen. Das andere Auge starrte ihn verängstigt an.
»Bitte tu mir nichts!«, flehte der dunkelgraue Kater. »Du hast gewonnen! Es ist deine Maus!«
Sonnenlauf wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte nicht das Recht, ihn einfach zum SchattenClan zu bringen, nachdem er ihnen Beute gestohlen hatte. Das Gesetz der Krieger sagte, dass er ihn einfach vertreiben sollte. Und der Fremde hatte sich ja schon ergeben.
Schwächling, meckerte Sonnenherz in seinem Kopf. Etwas Blut hat noch nie geschadet.
Diese Bemerkung reichte Sonnenlauf. Er trat einen Schritt zurück und nickte dem Kater zu. »Du kannst gehen, aber stiehl nie wieder unsere Beute!«
Der Fremde sagte nicht mal etwas, sondern sprang nur auf die Pfoten und flitzte davon. Seine dunkelgraue Schwanzspitze verschwand irgendwo zwischen den Gräsern einer anderen Düne.
»Hast du ihn erwischt?«
Sonnenlauf drehte sich um und sah Sommerflut, der gerade erst am oberen Rand der Düne angekommen war. Der blaugraue Krieger hatte Sand im Fell, war also in aller Eile vermutlich gestolpert und hingefallen. Hinter ihm tauchte jetzt auch Birkenblüte auf.
»Ja!«, rief Sonnenlauf, schnappte sich die Maus, die nicht weit entfernt lag, und kam zu ihnen.
»War es einer vom FlussClan?«, fragte Birkenblüte neugierig.
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Der Kater war viel zu mager. Er sah nicht so aus, als würde er zu einem Clan gehören, der seine Beute teilt. Oder der einen Heiler hat. Sein eines Auge war von einer Entzündung völlig zerfressen.«
»Oh.« Birkenblüte blickte betreten zu Boden, während Sommerflut die Maus aufnahm und anfing, die Düne wieder hinunter zu klettern.
»Wahrscheinlich nur ein Streuner«, vermutete Sonnenlauf.
Zurück bei dem provisorischen Lager wurde er sogleich von Wasserflüstern begrüßt. Sie warf ihn vor Begeisterung fast um. »Ich wusste, dass du ihn einholen wirst!«
»Wäre auch seltsam, wenn nicht«, schnurrte er. Sein Blick fiel auf Ojiha, der ja zuvor angekündigt hatte, mit den Anführern reden zu wollen, jetzt jedoch alleine zwischen den Katzen aller Clans umher ging und einige von ihnen von oben bis unten musterte. Ikalu flatterte neben ihm her. »Was macht Ojiha da?«
»Er hat gemeint, wir sollten erstmal eine kleinere Gruppe mit ihm zusammen zum FlussClan schicken«, erklärte Wasserflüstern. »Wahrscheinlich sucht er sich gerade die Katzen zusammen.«
»Warum er?« Sonnenlauf schaute dem Schamanen verwirrt nach. »Warum schicken die Anführer nicht einfach ein paar Krieger los?«
»Keine Ahnung.«
»Weil er uns offenbar verschwiegen hat, dass der FlussClan auf eine sehr besondere Weise an den SternenClan glaubt.«
Sonnenlauf fuhr herum und atmete erleichtert aus, als er sah, dass es nur Sternenpfote war. Sein Bruder hatte es irgendwie geschafft, sich wieder fast völlig lautlos zu ihnen zu schleichen.
»Auf eine besondere Weise?«, hakte er nach. »Was soll das denn heißen? Entweder man glaubt an ihn oder halt nicht.«
Sternenpfote schüttelte den Kopf. Er wirkte seltsam angespannt. »Anscheinend sieht der FlussClan alle Kämpfe als unheilig, weil sie gegen den Willen des SternenClans verstoßen. Man darf nicht um Beute kämpfen, nicht um Territorium, man darf nicht mal jemandem einen Schlag verpassen, wenn er gerade nervt.«
»Na gut, dann sind sie halt die friedlichsten Katzen, die es gibt«, meinte Sonnenlauf. »Das ist doch gut für uns.«
Sein Bruder schnaubte. »Sie sehen Kämpfe als unheilig an. Weißt du nicht, was das für uns bedeutet? Beim SternenClan, über die Hälfte von uns sind Krieger und haben schonmal gekämpft!«
»Ja, aber woher soll der FlussClan das...«, begann Wasserflüstern und wurde dann immer langsamer, »...wissen?«
»Narben«, flüsterte Sonnenlauf. »Fast alle Krieger haben Kampfnarben.«
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Wer wohl der seltsame Kater ist? Was denkt ihr? Jedenfalls: Es ist bald so weit! Der FlussClan wartet! Seine Hierarchie wird kommen, sobald die meisten seiner Mitglieder eingeführt worden sind :)
Lied zum Kapitel: Peter Crowley - Hunt or Be Hunted
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