Gefunden
Terra blieb stehen, weil Hechtkralle neben ihr und alle anderen vor ihr plötzlich auch innehielten. Seit einigen Tagen hatte sich ihr Geruchssinn erstaunlich verbessert, was wohl mit ihrer Trächtigkeit zusammenhing – jedenfalls hatte Sprungflügel es so erklärt. Deswegen fiel ihr sofort der seltsame Duft auf, der in der Luft hing. Es roch nach nassem Schnee, vermischt mit einem starken Moschusgeruch. Erst dachte sie, es wäre einer der Steinböcke – wie Ojiha die gehörnten Tiere nannte – in der Nähe, aber dann hätten sie schon lange sein Hufgeklapper gehört.
»Bleib dicht bei mir«, flüsterte Hechtkralle ihr zu, während er seine Muskeln anspannte.
»Was ist dort denn?«, fragte sie. Der Geruch wurde immer stärker und im nächsten Moment ertönte von vorne ein erschrockenes Kreischen.
»Ein Wolf!«, schrie Blumenduft alarmierend.
Terra zuckte vor Schreck zusammen und trat einige Schritte zurück. Gleichzeitig reckte sie den Kopf, um zu sehen, was dort vor sich ging. Dann entdeckte sie es. Das riesige Tier. Es kam in großen Sätzen einen leichten Hang hinunter gesprungen. Dabei landete es so elegant, dass man meinen könnte, seine breiten Pfoten würden über dem Schnee schweben.
»Das ist kein Wolf«, sprach Vogelschweif an ihrer anderen Seite das Offensichtliche aus. Dennoch wichen die Katzen immer weiter nach hinten. Angst glitzerte in ihren Augen. Terra schaute nach hinten und sah wie befürchtet, dass einige zum Rand des Pfades gedrängt wurden. Sofort stemmte sie sich gegen Kräuselsturm, der seinerseits von jemandem vor ihm nach hinten geschoben wurde.
»Bleibt ruhig!«, ertönte im selben Moment Ojihas Stimme. Der getigerte Kater war fast der einzige, der völlig ruhig geblieben war. Ikalu flatterte mit den Flügeln, erhob sich in die Luft und begann, Kreise über dem Schamanen zu drehen. »Es ist nur eine Berglöwin! Wahrscheinlich sind wir in ihr Territorium eingedrungen!«
Er wollte sich gerade an das Tier wenden, als dieses selbst das Wort ergriff: »Seid Clans?«
Terra wunderte sich, dass diese Berglöwin überhaupt ihre Sprache sprechen konnte – wenn auch mit einem ungewöhnlichen Akzent. Woher weiß sie, dass wir Clans sind? Ist sie vielleicht Funkenlicht und den anderen begegnet? Haben sie ihr von uns erzählt? Vielleicht, damit sie uns durch ihr Territorium lässt?
»Wir sind insgesamt drei Clans«, bestätigte Ojiha. »Wir entschuldigen uns dafür, dein Territorium betreten zu haben. Aber wir sind nur auf der Durchreise.«
Die Berglöwin warf unwillig ihren Kopf zur Seite. »Ist nicht wichtig. Wurde geschickt von euren fünf Spähern.«
»Sie redet von Funkenlicht und den anderen!« Die Freude in Vogelschweifs Stimme war nicht zu überhören.
»Ist sie ihnen begegnet?«, fragte Kleinjunges, der zwischen ihren Pfoten stand, aber sie legte ihm die Schwanzspitze auf die Schnauze, damit er schwieg.
»Was ist mit ihnen?«, fragte nun Schattenstern und trat vor. »Ist ihnen etwas zugestoßen?«
»Gab Lawine«, erklärte die Berglöwin. »Wurden in Höhle verschüttet. Kriege den Schnee nicht alleine weg. Folgt mir. Zeige euch die Stelle.«
Sie wurden verschüttet? Terra wechselte einen besorgten Blick mit Hechtkralle. Ojiha hatte sie alle vor Lawinen gewarnt und erzählt, dass nicht wenige Katzen schon in ihnen gestorben waren.
»Waren es nur fünf?«, wollte Schattenstern wissen. »Nicht sieben?«
Die Berglöwin schüttelte den Kopf. »Waren fünf. Haben mich auch nach anderen Katzen gefragt. Habe sie aber nicht gesehen.«
»Führ uns zu der Stelle«, forderte Wolfstern sie auf. »Möglichst schnell.«
Die Berglöwin musterte die vielen Katzen abschätzend. »Wird nicht schnell gehen. Müssen über Berghang. Sind nur dann schnell.«
»Wir lassen niemanden zurück«, knurrte die DonnerClan-Anführerin. »Es muss einen Weg geben, den auch unsere Ältesten und Jungen schaffen können.«
»Folgt mir«, meinte die Berglöwin schließlich. Sie sprang nicht wieder den Berghang hinauf, sondern führte sie den Pfad entlang, den sie ohnehin gegangen wären.
Terra kämpfte sich mühsam vorwärts. Allmählich machte sich das Gewicht ihrer Jungen bemerkbar. Sie hatte sich erst vor wenigen Tagen von Sprungflügel untersuchen lassen, die ihr gesagt hatte, dass sie wohl drei oder vier Söhne oder Töchter haben würde. Bei dem Gedanken daran wurde ihr warm ums Herz.
Sie werden wunderschön sein, dachte sie. Ihre einzige Angst war, dass sie die Berge nicht rechtzeitig vor der Geburt verlassen würden. Sie wollte nicht, dass ihre Junge dieser gnadenlosen Kälte ausgesetzt waren. Sie sollten grünes Gras sehen und langsam dahinfließende Flüsse. Nicht diese kahlen, schneebedeckten Felsen.
Der Weg war länger als sie erwartet hatte. Bald schon blieben die ersten Katzen zurück oder mussten von anderen gestützt werden. Auch Terra merkte, dass sie langsamer wurde. Aber sie durfte nicht aufgeben! Ihre Clan-Gefährten brauchten ihre Hilfe!
»Wie lange ist es noch?«, fragte dann auch Windstern, der mittlerweile ebenfalls außer Atem war.
»Sind gleich da.«
Hinter der nächsten Biegung waren sie dann tatsächlich da. Ein weißer, glitzernder Hang aus lockerem Schnee erstreckte sich vor ihnen. Nur an einigen Stellen waren große Pfotenspuren zu sehen. Dort war die Berglöwin vermutlich hochgeklettert, um mit Funkenlicht und den anderen zu reden.
»Habe oben ein kleines Loch für Beute gegraben«, erklärte sie. »Müsst dort hoch, um mit ihnen zu reden.«
»Du bleibst hier«, sagte Hechtkralle sofort, bevor Terra auch nur das Maul öffnen konnte. »Es ist zu gefährlich. Denk daran, was Ojiha gesagt hat. So lockerer Schnee kann jederzeit wieder zu einer Lawine werden und dich mit sich reißen.«
»Kräuselsturm und Blendfeuer«, ertönte sogleich die Stimme von Schattenstern. »Ihr kommt mit mir zu diesem Loch.«
Nachdem auch Wolfstern zwei Krieger ausgewählt hatte, kletterten sie hinter der Berglöwin her den Hang hinauf. Der Schnee schien an einigen Stellen nicht ganz fest zu sein. Terra schnappte nach Luft, als Blendfeuer kurz bis zum Bauch darin einsank und von Kräuselsturm am Nackenfell wieder nach oben gezogen werden musste.
»Hechtkralle?«
Terras Kopf ruckte herum zu Windstern, der sich in Begleitung von Harzjäger zu ihnen durch gearbeitet hatte. Ein ernster Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Aus einer anderen Richtung näherte sich Tigerblume. Terra trat beiseite, um ihr Platz zu machen. Ich kann verstehen, warum Wolfstern sie als Gefährtin ausgewählt hat, dachte sie. Aber war es wirklich klug, sie auch zur Zweiten Anführerin zu ernennen?
»Wir sollten schonmal überlegen, wie wir die Krieger aus der Höhle befreien«, erklärte der SchattenClan-Anführer sein plötzliches Auftauchen. »Es wird wahrscheinlich mehrere Tage dauern, bis wir genug Schnee weggeschaufelt haben, damit sie raus können.«
»Da der Schnee so locker sitzt, sollte es aber recht einfach sein«, fügte Harzjäger hinzu und peitschte mit dem Schweif. »Jeder soll einen Beitrag leisten. In Notsituationen halten alle Clans zusammen.«
»Recht einfach?« Alle Blicke richteten sich auf Tigerblume, die nachdenklich mit dem Kopf wiegte. »Ich denke, dass es eher schwieriger sein wird, eben weil der Schnee so locker sitzt.«
»Was verstehst du schon von Schnee?«, blaffte Harzjäger sie an, aber Windstern unterbrach ihn.
»Sie hat recht«, sagte er. »Der Schnee über der Höhle ist ebenfalls ziemlich locker. Wenn wir den Hang einfach so wegschaufeln, wird von oben immer neuer Schnee nachrutschen.«
Vielleicht ist sie doch eine gute Wahl, dachte Terra und musterte die golden getigerte Kätzin beeindruckt. So weit hatte sie gar nicht gedacht.
»Dann sollten wir zuerst den Schnee über der Höhle fest treten«, schlug Hechtkralle vor.
»Und zusätzlich mit Ästen oder ähnlichem stabilisieren«, stimmte Tigerblume ihm zu.
»Jeder von uns bestimmt zwei oder drei Katzen für diese Aufgabe«, befahl Windstern. »Dann sollten wir das schnell schaffen. Erst danach dürfen wir anfangen, den Schnee vor der Höhle wegzuschaufeln. Schärft das allen ein! Es dürfen keine Fehler passieren!«
»Wird gemacht!« Hechtkralle nickte dem Anführer respektvoll zu und machte sich sogleich auf den Weg nach hinten, wo Efeubein und Spritzklang gerade mit Seelensplitter redeten. Auch die anderen zwei Stellvertreter und Windstern verschwanden, sodass Terra alleine mit Vogelschweif und ihren Jungen zurückblieb.
»Ich habe nicht gewusst, dass es so große Katzen gibt«, hauchte die gelbbraune Königin fasziniert.
Terra folgte ihrem Blick und beobachtete, wie Schattenstern, Wolfstern und ihre Begleiter sich über das Loch beugten und offenbar mit den verschütteten Kriegern redeten. Die Berglöwin hingegen war bereits weiter hinauf geklettert und fing an, den Schnee dort fest zu treten. Natürlich. Da sie scheinbar in den Himmelsbergen Zuhause war, wusste sie, was nach einer Lawine zu tun war.
»Hat sie eigentlich gesagt, wie sie heißt?«, fragte Terra. »Wir sollten uns bei ihr bedanken.«
»Ich habe den Namen nicht ganz mitbekommen«, antwortete Vogelschweif entschuldigend.
»Aer!«, miaute Glanzjunges auf einmal ganz laut. »Sie heißt Aer!«
Terra spürte, wie ihr ganzer Körper zu Eis erstarrte.
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