Entdeckt
»Tiefenfrost?«, fragte Sonnenlauf ungläubig. Auf dem Weg zu den Dünen hatten er und Sternenpfote sich angehört, was Wasserflüstern und Kräuselpfote zu erzählen hatten. Und es war nicht gerade wenig.
»Ja«, bestätigte Kräuselpfote aufgeregt. »Terra hat gesehen, wie er mit den Schatten verschmolzen ist, und ihn dann zu uns gebracht. Und es stimmt. Er besitzt die Macht der Schatten. Er hat nicht gelogen.«
Sternenpfote nickte nachdenklich. »Dann fehlen uns jetzt noch die Macht von Gestern und Morgen, die zweite Macht des Lichts und die Macht des Mondes. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass wir sie hier finden.« Seine restlichen Worte waren nur ein leises Murmeln.
»Und wohin führt ihr uns jetzt?«, erkundigte sich Sonnenlauf bei den zwei Kätzinnen, während er alle Mühe hatte, sich die Düne hoch zu kämpfen. Der Sand klebte überall an seinem nassen Pelz, auf dem sich mittlerweile an einigen Stellen eine Salzkruste gebildet hatte. Es würde sehr unangenehm werden, sich zu putzen. Wenigstens brannte das Meerwasser nicht mehr in seinen Wunden.
»Zu einer sehr wichtigen Stelle«, sagte Wasserflüstern geheimnisvoll.
Sonnenlauf beschloss, geduldig zu sein, und folgte ihnen weiter, bis sie auf der anderen Seite der Düne waren. Dann ging es wieder runter und hinein in einen Wald aus Dünengras, in dem auch etwas anderes wuchs. Kleine, gelbe Blumen. Als er zwischen die Halme eintauchte, flog um ihn herum plötzlich ein Schwarm Insekten in die Luft. Unwillig schlug er mit den Pfoten um sich, bis Wasserflüstern ihn aufhielt.
»Warte!«, rief sie und bedeutete ihm, zu Kräuselpfote zu schauen.
Die schwarz-weiße Kätzin stakste durch das Gras und schien nach etwas zu suchen. Schließlich beugte sie sich runter und nahm eine Art kleinen Stein auf, mit dem sie zu ihnen zurückkam. Sonnenlauf starrte verwirrt auf das, was sie mitgebracht hatte. Es war kein Stein.
»Ein Schneckenhaus?«, fragte er verwundert.
»Eine Schnecke«, sagte Wasserflüstern stolz. »Streck mal deine Pfote aus.«
Er tat wie ihm geheißen und zwang sich dazu, nicht zurückzuweichen, als Kräuselpfote die Schnecke darauf legte. Dann traten die beiden Kätzinnen zurück. Es dauerte eine Weile, bis die Schnecke ihre Fühler ausstreckte und langsam an Sonnenlaufs Pfote entlang kroch, wobei sie eine glänzende Schleimspur in seinem Fell hinterließ. Er verzog angeekelt das Gesicht.
»Kann mir jemand erklären, was gerade passiert?«, fragte Sternenpfote leicht gereizt.
»Kräuselpfote hat mir eine Schnecke auf die Pfote gesetzt, die mich jetzt vollschleimt«, antwortete Sonnenlauf.
»Was?«
»Das sollte reichen«, meinte Kräuselpfote und stupste die Schnecke an, die sich sofort zurück in ihr Haus verkroch und ohne Halt von Sonnenlaufs Pfote herunter fiel. Zurück blieb nur die Schleimspur.
»Jetzt halt deine Pfote hoch«, befahl Wasserflüstern.
»Was soll das alles?« Sternenpfote klang zunehmend gereizter. »Ich dachte, ich wolltet uns zeigen, wie ihr all unsere Probleme lösen könnt.«
»Ja, das tun wir auch gerade.«
Sonnenlauf hielt gehorsam seine Pfote hoch und wartete. Erst geschah nichts, doch dann landete ein Käfer in der Nähe der Schleimspur und fing an, herumzukrabbeln. Er kämpfte seinen Instinkt, das Insekt einfach abzuschütteln, nieder und beobachtete weiter. Der Käfer folgte der Schleimspur bis zum Ende, drehte sich noch eine Weile, wobei seine Antennen unruhig zuckten, und flog dann wieder weg. Gleichzeitig landeten zwei weitere Käfer auf seiner Pfote. Und dann noch einer. Fasziniert sah er, wie immer mehr dieser Käfer die Schleimspur untersuchten und dann hochflogen. Sie umschwirrten ihn in einem kleinen Schwarm.
»Ist das nicht toll?«, platzte es aus Kräuselpfote heraus.
Sonnenlauf sah sie verständnislos an, während Sternenpfote wortlos mit den Ohren zuckte.
»Vielleicht hätten wir sie abends hierher bringen sollen«, überlegte Wasserflüstern.
»Bei mir hätte das keinen Unterschied gemacht«, blaffte Sternenpfote. »Erklärt uns doch einfach, was diese Lösung all unserer Probleme ist.«
»Diese Käfer«, Wasserflüstern deutete auf den Schwarm, der sich allmählich wieder legte, »leuchten im Dunkeln. In einem gelbgrünen Licht. Erinnert ihr euch noch, wie die Heiler die Katze, den angeblichen Erlöser, aus ihrer Vision beschrieben haben?«
»Sie leuchtete in einem gelbgrünen Licht und war über und über von diesem Leuchten bedeckt«, sagte Sternenpfote. »Um sie herum leuchtete es auch. Und das Spiegelbild im Wasser leuchtete ebenfalls.« Er stockte. »Diese Leuchtkäfer werden von Schneckenschleim angelockt, nicht wahr?«
»Wasserflüstern und ich haben sie beobachtet«, erklärte Kräuselpfote aufgeregt. »Wir haben ja von dem Gespräch zwischen Wogenbrecher und Ojiha erzählt. Es muss also eine Möglichkeit geben, die Leuchtkäfer an eine bestimmte Stelle zu locken. Nach einiger Zeit haben wir bemerkt, dass die Leuchtkäfer Jagd auf Schnecken machen, indem sie ihrer Schleimspur folgen. Wenn wir also Schnecken über eine Katze kriechen lassen und diese ins Meer bringen...«
»... wird sie von den Leuchtkäfern umschwirrt werden und wird genauso aussehen wie in der Vision der Heilerkatzen«, beendete Sonnenlauf ihren Satz.
»Ihr vergesst eine Sache«, entgegnete Sternenpfote. »Der FlussClan glaubt, dass ihr Erlöser ins Meer gehen und ertrinken wird, bevor er wieder aufersteht. Wie soll das funktionieren? Selbst wenn die Katze kurz untertaucht – der ganze Schneckenschleim wird weg sein.«
»Deswegen wird Tiefenfrost den Erlöser spielen«, miaute Wasserflüstern.
»Tiefenfrost?«
»Ja«, bestätigte die graue Kätzin. »Er kann mit den Schatten verschmelzen, schon vergessen? Der FlussClan weiß nichts von den Mächten und wird denken, dass er unter Wasser ist. Wenn er lange genug die Macht der Schatten benutzt, wird es so aussehen, als wäre er ertrunken. Er muss nur mit einer Pfote auf das Wasser schlagen oder so, damit die Katzen glauben, dass er danach wieder auftaucht.«
Sternenpfote schwieg eine Weile und auch Sonnenlauf überlegte. Wenn Tiefenfrost sich als Erlöser ausgibt, wird der gesamte FlussClan auf ihn hören. Sein Wort würde sogar über dem der mäusehirnigen Hohepriesterin stehen. Er war immer noch wütend, dass die Priester auf diese dreiste Weise gelogen hatten.
»Weiß Tiefenfrost schon Bescheid?«, fragte Sternenpfote schließlich.
Wasserflüstern und Kräuselpfote schauten sich an und schüttelten dann den Kopf. »Nein«, miaute die Heilerschülerin. »Wir wollten erst mit euch über diese Idee reden.«
»Es ist eine gute Idee«, meinte Sternenpfote. »Gut gemacht, ihr beiden.«
Die beiden Kätzinnen rissen überrascht die Augen auf. Er hatte sie noch nie so ehrlich und offen gelobt. »Ich hole ihn her!«, ereiferte sich Kräuselpfote sofort und sprang davon.
Sonnenlauf hatte gerade den Schneckenschleim und einen Teil der Salzkruste entfernt, als die schwarz-weiße Kätzin auch schon zurückkam. Ihr folgte tatsächlich Tiefenfrost, der sich viel eleganter über die Düne bewegte als sie alle. Mit glänzenden Augen blieb der schwarze Kater vor ihnen stehen.
»Ich habe gehört, ihr habt einen Plan, wie ihr diesem Wahnsinn ein Ende bereiten könnt?«, fragte er in die Runde und wandte sich dann an Sonnenlauf und Sternenpfote. »Es ist schrecklich, was euch auf dem Heiligen Felsen passiert ist. Er sollte ein heiliger Ort des Friedens sein. Jetzt zu wissen, dass dort so viele Katzen ermordet worden sind...« Er senkte den Kopf. »Mein eigener Bruder war eine von ihnen.«
»Du glaubst nicht, was Lichtwasser erzählt hat?« Sonnenlauf blinzelte überrascht.
»Natürlich nicht«, presste Tiefenfrost hervor. »Ich hatte schon lange das Gefühl, dass dort etwas nicht stimmt. Der Heilige Felsen ist zu klein für so viele Katzen. Und was tun sie mit ihren Toten? Ich habe noch nie gesehen, dass ein Priester an den Strand gekommen ist, um einen anderen zu begraben.«
Sternenpfote schnaubte. »Wir wissen jetzt, dass sie sie offenbar einfach ins Meer werfen.«
Sonnenlauf bemerkte, wie Tiefenfrost kaum merklich zusammenzuckte. Es muss schwer für ihn sein, jetzt erst zu erfahren, dass sein Bruder ermordet wurde. Von eben jenen Katzen, denen alle hier so sehr vertrauen.
»Du warst es, der die zwei Diener der Hohepriesterin getötet hat, oder?«, wandte Tiefenfrost sich auf einmal an Sonnenlauf.
»Ja«, gab er zu.
»Einer von ihnen, Fluchauge, ist der Vater von Federfalls Jungen.« Tiefenfrost leckte sich über das Maul, als wäre es ihm peinlich, darüber zu reden. »Und gleichzeitig der Bruder unserer Mutter.«
Sonnenlauf hätte sein Gesicht beinahe vor Ekel verzogen.
»Nur blinde Katzen dürfen Diener der Hohepriesterin werden«, erklärte der schwarze Kater. »Manchmal werden Junge zufällig blind geboren. So wie Muschelkralle, der andere Diener. Aber öfter bekommen die Diener gezielt mit Katzen aus ihrer eigenen Familie Junge, weil so die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass eines davon blind geboren wird.«
»Wie grausam«, keuchte Wasserflüstern.
»Meine Schwester ist stolz darauf, möglicherweise ein blindes Junges in ihrem Bauch zu tragen«, fuhr Tiefenfrost fort. »Doch häufiger werden sie einfach tot oder irgendwie anders entstellt geboren.« Er sah sie nacheinander an. »Ich bin froh, dass das bald ein Ende haben wird. Sagt mir, was ich tun soll.«
Sonnenlauf schwieg, so wie alle anderen auch. Er war immer noch geschockt von dem, was Tiefenfrost soeben offenbart hatte. Sind die Katzen hier wirklich so verrückt?
Sternenpfote war der erste, der sich fing. »In einigen Tagen ist Neumond, die dunkelste Nacht. Du wirst etwas machen müssen, was dir vielleicht nicht gefallen wird.«
»Und das wäre?«
»Du wirst vortäuschen müssen, der Erlöser zu sein.«
»Was?« Der schwarze Kater sah ungläubig vom einen zum anderen. In seine blaugrünen Augen war eine leichte Panik getreten. »Aber... Aber das geht nicht! Der Erlöser wird sich selbst offenbaren! Man darf nicht...«
»Der Erlöser ist eine Illusion«, miaute Sternenpfote streng. »Hast du noch nicht begriffen, dass die Hohepriesterin und all ihre Priester euch die ganze Zeit angelogen haben? Wir waren dort! Ich habe mit meiner eigenen Nase gerochen, dass sie alle nach Blut stinken! Und sie sollen Zeichen des SternenClans empfangen? Seit wann duldet der SternenClan Mörder?«
Tiefenfrost senkte betreten den Kopf, nickte dann. »Was soll ich genau tun?«
Zögerlich, aber dann immer entschlossener, erzählten Wasserflüstern und Kräuselpfote ihm, was sie vor hatten. Als sie bei den Schnecken angekommen waren, verzog er angeekelt das Gesicht, sagte aber nichts. Schließlich hatten die beiden Kätzinnen geendet und sahen ihn erwartungsvoll an.
»Und was wird danach passieren?« Tiefenfrosts Stimme klang leicht verzweifelt. »Der FlussClan wird mich für den Erlöser halten. Alle werden auf mich hören, egal, was ich sage!«
»Du wirst ihnen sagen, dass der FlussClan sich den anderen Clans anschließen soll«, bestimmte Sternenpfote. »Und dass es der Wille des SternenClans ist. Du wirst einen Anführer wählen, der seinerseits einen Stellvertreter wählen soll. Es muss auch einen Heiler geben.« Er wiegte unzufrieden den Kopf hin und her. »Dafür kommt wohl nur einer der Priester in Frage. Auf keinen Fall die Hohepriesterin!«
Tiefenfrost nickte, etwas eingeschüchtert.
»Alle müssen sich an das Gesetz der Krieger halten«, fügte Sonnenlauf noch schnell hinzu.
»Und was passiert mit mir?« Tiefenfrost trat verunsichert von einer Pfote auf die andere. »Sie werden doch verlangen, dass ich der Anführer werde! Aber das kann ich nicht!«
»Sie werden dir alles glauben, was du sagst«, meinte Sternenpfote. »Denk dir einfach etwas aus.«
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Wir nähern uns dem Finale! O.o Was wird Tiefenfrost wohl machen? Was hättet ihr an seiner Stelle getan?
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