Allein

Ojiha hatte sie nicht ausgewählt. Natürlich nicht. Warum auch? Der Faucher hatte ihr ein schönes Andenken unter dem Kinn hinterlassen – eine Narbe. Sollte sie den Kopf auch nur leicht anheben, würden die FlussClan-Katzen sie sofort sehen.

Und jetzt kann ich nur warten, dachte Sprenkelschweif leicht frustriert. Dunkelherz hatte recht damit gehabt, dass der Fluss direkt zum Meer führte, aber das war auch das einzige Gute, das ihr gerade einfiel. Missmutig blickte sie hinüber zum DonnerClan. Ich muss mit Fliegenschatten reden. Am besten heute Nacht.

Ojiha war bereits gestern mit einigen ausgewählten Katzen losgezogen und hatte angekündigt, Ikalu zu ihnen zu schicken, sobald sie nachkommen konnten. Er wollte erstmal mit dem Anführer des FlussClans sprechen und ihn auf die Ankunft der anderen Clans vorbereiten. Das sollte nicht mehr als zwei Tage in Anspruch nehmen, also war heute Nacht die letzte Möglichkeit, mit Fliegenschatten zu reden, ohne dass jemand es mitbekam. Diese Dünen eigneten sich besonders gut dafür.

»Hast du schon etwas gegessen?«, fragte auf einmal Mohnpfote, die sich ihr gerade näherte. Dachspfote war an ihrer Seite und hielt zwei Mäuse im Maul.

»Nein«, antwortete Sprenkelschweif. »Und ich habe auch keinen Hunger.«

Dachspfote warf Mohnpfote einen kurzen Blick zu, die daraufhin enttäuscht seufzte. »Wie du willst. Wir wollen dir nur helfen.«

»Helfen? Wobei denn helfen? Mir geht es gut!«

»Seit dem Tod deines Bruders bist du die ganze Zeit so niedergeschlagen«, miaute die Schülerin zögernd. »Früher warst du voller Lebensfreude und verrückter Ideen, aber jetzt bist du irgendwie so... alleine.«

»Ich bin nicht alleine!«, fauchte Sprenkelschweif schärfer als beabsichtigt. »Danke, aber ich brauche eure Hilfe nicht!« Ohne nachzudenken rannte sie an Mohnpfote und Dachspfote vorbei in Richtung der Dünen.

Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich bin nicht allein oder einsam oder sonst irgendwas! Doch sobald sie das dachte, fühlte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Als würde ihr Herz sich fest zusammenziehen. Ihre Schritte wurden langsamer und sie kauerte sich in das hohe Gras, unterdrückte ein wehleidiges Jaulen.

Als sie Schülerin war, hatte sie die meisten Sachen mit Nebeljäger gemacht, nicht mit Dunkelherz. Und jetzt, wo Nebeljäger tot war, Dunkelherz alles zusammen mit Laufherz unternahm und Fliegenschatten ihr aus dem Weg ging... Wen hatte sie dann noch?

Sogar meine Mutter hat jemanden, mit dem sie ihre tiefsten Geheimnisse teilen kann! Mit dem sie reden und sich beraten kann. Und ich? Ich habe alle verloren und habe jetzt niemanden mehr. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass Mohnpfote nicht freiwillig versuchte, sie aufzumuntern, sondern dass Dunkelherz sie geschickt hatte. Das würde zu ihm passen. Als ob ich so dumm bin und es nicht bemerke! Sie wollte früher nie mit mir befreundet sein!

Nach einer Weile ließ der Schmerz nach und Sprenkelschweif stellte fest, dass die Abenddämmerung bereits hereingebrochen war. In der Dunkelheit sahen die Gräser auf den Dünen aus wie die Rückenhaare einer riesigen Katze. Sie fragte sich, wo der Kater lebte, der dem SchattenClan fast eine Maus gestohlen hatte. War er gefährlich? Vielleicht sollte ich vorsichtshalber zurückkehren.

Sie war gerade aufgestanden, als plötzlich ein angenehmer Duft zu ihr herüber wehte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie drehte sich um. In einiger Entfernung sah sie Fliegenschatten, fast unsichtbar in der einbrechenden Dunkelheit. Er bahnte sich einen Weg zu ihr und blieb vor ihr stehen. Sie konnte es kaum glauben.

»Du bist zu mir gekommen!« Ein lautes Schnurren stieg in ihrer Kehle auf und sie wollte sich eng an Fliegenschatten schmiegen, doch dieser wich auf einmal zurück. Verwirrt und verletzt zugleich zog sie sich wieder zurück.

»Ich habe gesehen, wie du hierher gerannt bist und bin dir gefolgt«, sagte er strenger als sie es gewohnt war. »Wir müssen reden.«

»Reden?« Sprenkelschweif spürte, wie eine unbändige Angst in ihr aufstieg. Da war ein lautes Rauschen in ihren Ohren, sodass sie seine nächsten Worte kaum hörte.

»Über uns reden.«

»Über... über uns?« Sie wollte wegrennen, einfach fliehen. Sie wollte es nicht hören. Doch ihre Pfoten blieben fest am Boden. Als wäre sie festgewachsen wie die Dünengräser.

»Ja, über uns«, wiederholte Fliegenschatten. »Ich habe nämlich viel überlegt und nachgedacht. Und ich denke, dass der Tod von Lilientau und Nebeljäger ein Zeichen war. Sie haben gegen das Gesetz der Krieger verstoßen und der SternenClan hat sie bestraft, weil...«

»Nein!«, unterbrach Sprenkelschweif ihn. »Ich will das nicht hören! Es ist mein Bruder über den du da redest! Mein Bruder

»Ja, dein Bruder. Und dein Bruder hat einen Fehler gemacht. Wir sollten seinen Fehler nicht wiederholen.«

Sie starrte ihn fassungslos an, während er einfach weiter redete:

»Ich finde, wir sollten aufhören, uns zu treffen, Sprenkelschweif. Es ist nicht gut für uns. Für keinen von uns. Ich möchte nicht, dass der SternenClan auch uns mit dem Tod bestraft, so wie Lilientau und deinen Bruder. Das Gesetz der Krieger ist schon wichtig und ich möchte meinem Clan ein guter und loyaler Krieger sein.«

»Du...« Sprenkelschweif keuchte. Ob vor Schmerzen oder vor Unglauben wusste sie selber nicht. »Du verlässt mich? Du hast gesagt, du würdest mich nie verlassen! Damals, nach meiner Kriegerzeremonie, hast du es gesagt! Du hast es versprochen

»Ich weiß, aber es kann nicht alles so sein, wie man es sich wünscht.« Fliegenschatten trat einen Schritt auf sie zu, doch diesmal war sie es, die zurückwich. »Es tut mir wirklich leid. Ich habe mich für meinen Clan entschieden.«

»Und ich dachte, ich könnte dir vertrauen!«, schrie Sprenkelschweif ihn an. Der Schmerz und die Traurigkeit hatten sich in Wut verwandelt. »Ich dachte, wir würden eine Möglichkeit finden, um zusammen zu sein! Du willst das alles einfach so wegwerfen?«

Fliegenschatten sah weg.

»Es ist wegen Moorpfote, oder?«, zischte sie und legte die Ohren an. Ihr ganzes Nackenfell war gesträubt. »Sie hat dich verführt mit ihren honigsüßen Worten! Du magst sie, ja? Was für ein Zufall, dass sie auch schwarze Sprenkel im Fell hat! So wie ich!«

»Sprenkelschweif...«

Sie fauchte und hinderte ihn daran, noch irgendwas zu sagen. »Dann geh zu ihr! Werde ein loyaler Krieger deines krähenfraßfressenden DonnerClans! Fuchsherz! Fuchsherz und Verräter! Und Feigling!«

Auf der Stelle wirbelte sie herum und stürmte davon. Das Dünengras verhakte sich in ihrem Fell, aber sie riss es einfach mit sich. Vielleicht nahm sie auch ein paar Disteln mit, aber das war ihr egal. Ohne anzuhalten rannte sie die nächste Düne hoch und wieder hinunter. Dann stolperte sie.

Kreischend rollte sie den Hang hinab, wobei der Sand ihr in Ohren, Nase und Mund drang. Sie hustete und spuckte, kam irgendwann zum Stehen. Sofort rappelte sie sich wieder auf und schüttelte ihr Fell aus, was jedoch nicht viel brachte. Dann rannte sie weiter. Es tat gut, einfach nur zu rennen. Der Traurigkeit und Wut und Enttäuschung in sich drin Platz zu machen. Vor einem Busch mit scharfkantigen Blättern blieb sie stehen und fing an, wie wild auf ihn einzuschlagen. Zerfetzte Stängel und Blätter flogen durch die Luft. Dann Blut, als sie sich einen ihrer Ballen aufschnitt.

Keuchend hielt sie inne. Er hat es wirklich getan. Er hat mich verlassen! Einfach so! Weil er daran geglaubt hat, dass Nebeljägers Tod eine Warnung vom SternenClan war! Aber warum sollte der SternenClan zwei Liebende bestrafen? Es war nur ein Unfall! Benommen schaute sie auf die roten Punkte, die sich unter ihrer Pfote im Sand bildeten. Er hat es wegen Moorpfote getan.

Da war der Schmerz wieder. Ihre Brust wurde so eng, dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Leise wimmernd rollte sie sich unter dem Busch zusammen und legte sich die Schwanzspitze auf die Nase. Tief atmete sie ein und aus.

Jetzt habe ich wirklich niemanden mehr, dachte sie. Warum sollte ich zum WindClan zurückkehren?

Mittlerweile hatte der Himmel sich schon fast vollständig verdunkelt. Schatten von Wolken zogen vor dem Halbmond vorbei, der über den Dünen stand. In der Richtung, in der wohl auch das Meer lag. Bestimmt hatte Schattenstern schon einen Suchtrupp nach ihr losgeschickt. Oder vielleicht auch nicht. Es war ihr egal. Sie wollte ohnehin nicht zurück.

Langsam schloss sie die Augen und versuchte zu schlafen, was ihr irgendwann auch gelang. Sie träumte von einer undurchdringlichen Schwärze.

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Lied zum Kapitel: Audiomachine – Deceit and Betrayal

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