1. Kapitel

Knack! Angewidert spuckte Sturm den zerbissenen Floh aus und verzog das Gesicht.

«Das wars», miaute sie dann und streckte sich.

«Hat ja auch lange genug gedauert», brummte ein schwarzer, vernarbter Kater schlecht gelaunt.

Am liebsten hätte Sturm diesem Flohpelz, welcher er im wahrsten Sinne des Wortes war, gesagt, wie widerlich und räudig sein Fell war und dass die Fellpflege, die für Sturm jedes Mal eine Qual war, deshalb so lange dauerte. Die Worte langen ihr schon auf der Zunge, aber sie presste ihre Kiefer zusammen und schwieg. Der Alpha würde sie nicht unverletzt gehen lassen, wenn sie so etwas sagen würde. Das hatte die goldene Kätzin schon oft genug erfahren müssen.

«Kann ich jetzt gehen?», fragte sie ihren Gefährten stattdessen.
Der ältere Kater hob den Kopf und sah sie aus seinen grünen Augen misstrauisch an.

«Wohin?»

«Einfach zu den anderen», erwiederte Sturm möglichst ruhig, auch wenn in ihr die Wut über den unverschähmten Kater aufkam.

«Zu den anderen?», fragte der Alpha. «Was hast du bei ihnen verloren? Du bist meine Gefährtin und hast dich in meiner Nähe aufzuhalten, außer ich will es anders.»

«Drache, ich will doch nur kurz meinen Sohn besuchen», seufzte das Alpha-Weibchen gereizt.

«Deinen Sohn besuchen?», wiederholte der schwarze Kater provokativ langsam. «Ich glaube, dass er alt genug ist, um auf sich selbst aufzupassen. Er ist ein Kämpfer und ein erwachsener Kater, der schon selbst Vater sein könnte. Lass ihn in Ruhe und hock dich hier hin.» Er deutete mit dem Schweif auf den kleineren Heuballen neben seinem. Wiederwillig folgte Sturm dem Befehl. Sie schloss die Augen und dachte an die letzten Monde zurück.

***

Als Sturm neun Monde alt gewesen war, starb Draches ehemalige Gefährtin Feder an einer infizieren Wunde. Das Alpha-Paar hatte zwei gemeinsame Töchter, Nacht und Stein. Zudem hatte Kristall, die Nebengefährtin des Anführers, gerade zwei Junge geworfen, von welchen aber nur eines überlebt hatte. Auch die Kätzin war bei der Geburt gestorben. Drache hatte durch sie zwar einen Sohn und somit einen möglichen Nachfolger, aber das Gesetz des Rudels verlangte, dass der nächste Alpha der Sohn des Vorgängers und seiner Hauptgefährtin sein sollte. Deshalb suchte sich der Kater ein neues Alpha-Weibchen, welches nach den Bräuchen des Rudel dieselbe Augenfarbe haben musste, wie der Alpha. Und so fiel die Wahl auf Sturm, die grüne Auge hatte, genauso wie Drache.

Im Rudel gab es eine Regel, die besagte, dass Kater eine Kätzin unter zwölf Monden nur dann zur Gefährtin nehmen durften, wenn sie den Vater im Kampf besiegen konnten. Drache war noch viel weiter gegangen, als Sturms Eltern sich gegen die Wahl gewehrt hatten. Er ließ die beiden Katzen grausam ermorden, so wie er es auch bei seinen eigenen Geschwistern und vielen Rudelmitglieder bereits getan hatte. Sturms Bruder Flamme wollte seiner Wurfgefährtin ebenfalls zur Hilfe kommen, aber diese hatte ihn davon abgehalten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Sie akzeptierte ihr Schicksal und hoffte, dass sie durch ihren höheren Rang etwas bewirken konnte, aber da Kätzinnen im Rudel unterdrückt und für wertlos geachtet wurden, wurde Sturm vor allem von den Kämpfern nicht als Anführerin akzeptiert. Stattdessend brachte sie mit zwölf Monden drei Junge zur Welt, von welchen aber nur eines lebendig war. Sturm hatte befürchtet, Drache würde sie deshalb töten lassen, aber er kratzte sie nur, beleidigte sie und ließ anschließend ihre beiden toten Töchter, welche sie heimlich Schmetterling und Blume genannt hatte, wegbringen und gab seinem Sohn den Namen Kralle.

Kurze Zeit später brachte auch Schatten einen Sohn, Finsternis, zur Welt, dessen Vater ebenfalls Drache war. Dass der Alpha Nebengefährinnen hatte, war im Rudel eine Normalität. Und obwohl Schatten nie etwas gesagt hatte, wusste Sturm dennoch, dass die schwarze Kätzin sie hasste und neidisch auf ihren Rang war. Dies war auch bei Gift, Sturms Halbschwester, der Fall, welche es der goldenen Kätzin nicht verzeihen konnte, dass sie anstatt ihr zum Alpha-Weibchen gewählt worden war. Sturm hätte diesen Rang gerne abgelegt, aber dies war nur durch den Tod möglich oder falls sie Drache einmal besiegen würde...

Die Atmosphäre im Rudel war noch nie gut gewesen. Immer wieder kam es zu brutalen Auseinandersetzungen zwischen den Streunern und auch fremde Katzen wurden stets mit Krallen und Zähnen vertrieben. Katzen, die rebellierten oder fliehen wollten, wurden bestraft oder sogar getötet. Die einzige Katze, die es geschafft hatte, das Rudel heimlich zu verlassen, war Spritzer, eine junge Kätzin, die Drache unbedingt zur Nebengefährtin haben wollte. Sturm hatte sie bei der Flucht gesehen und die Kämpfer in der Nähe abgelenkt, damit die Schildpatt-Kätzin ungehindert fliehen konnte. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihr gesehen oder gehört, weshalb sie davon ausging, dass die Flucht erfolgreich gewesen war.

Richtige familiäre Verhältnisse gab es im Streunerrudel auch nur selten und viele Gefährten gingen wieder auseinander, sobald ihr Nachwuchs den vierten Mond erreichte. Gab es zu wenig Jungkatzen, ließ Drache junge Hauskätzchen entführen. Die beiden Schwestern Asche und Nebel waren solche Katzen. Wurzel, ein junger Kater, wurde ebenfalls vom Rudel entführt, nachdem seine Mutter, eine fremde Einzelläuferin, getötet worden war.

In letzter Zeit hatte sich die Situation im Rudel verschlimmert. Es gab nicht genug Ratten für alle und so musste die Katzen auch im Abfall nach Nahrung suchen. Manche Katzen fraßen dabei versehentlich von Zweibeinern vergiftete Beute und starben. Aber das war nicht das Schlimmste. Vor ein paar Sonnenaufgängen hatten die Zweibeiner begonnen, die alten Nester in der Nähe des Streunerlagers zu zerstören. Deshalb hatte Drache beschlossen, mit seinen Katzen den Zweibeinerort zu verlassen und in der Wildnis zu leben. Viele Katzen waren gegen diesen Plan, da der Blattfall sich bereits ankündigte, aber der Alpha hatte es geschafft, seine Katzen mit Drohungen zum Schweigen zu bringen und so waren sie an diesem Tag im Morgengrauen aufgebrochen und waren den ganzen Tag durch den Zweibeinerort gelaufen. Am Abend hatten sie den Waldrand erreicht und sich in einer leeren Scheune niedergelassen.

***

Das Trommeln vieler Pfoten auf dem Holzboden riss die Kätzin aus ihren Gedanken. Ein zerzauster, weißer Kater mit schwarzen Ohren und abstehendem Fell eilte triumphierend jaulend zu Drache. Der schwarze Kreis um eines seiner listigen, gelben Augen ließ ihn ein wenig unheilmlich aussehen. Eine schwarze Kätzin mit weißem Bauch und ein großer schwarzer Kater mit weißem Brustfell folgten ihm. Den Schluss bildete ein braun getigerter Kater mit zu Schlitzen verengten, grünen Augen. Sie traten alle vor den Alpha und verneigten sich.

Sturms Herz verkrampfte sich, als sie die beiden Fellbündel sah, die Blitz und Nacht nun vor ihr und ihrem Gefährten ablegten. Es waren zwei Jungkatzen, etwa fünf Monde alt. Die eine braun getigert mit weißen Pfoten und die andere weiß mit braunen Flecken. Die beiden Kätzchen drängten sich eng aneinander und schauten ängstlich zu Drache hoch. Mitleid und mütterliche Liebe stiegen in Sturm auf und sie erhob sich auf ihre Pfoten, um zu den beiden schutzlosen Jungkatzen zu gehen.

«Bleib weg», zischte Drache und peitschte genervt mit dem Schwanz. Verunsichert blieb die Kätzin auf ihrem Heuballen stehen und beobachtete Blitz, der kurz das weiße Brustfell glättete, bevor er sich an Drache wandte.

«Wir haben deinen Auftrag erfüllt und die beiden Hauskätzchen aus ihrem Garten entführt. Sie sind alt genug, um sofort die Ausbildung zu Jägern anzufangen», miaute er und schaute den Alpha stolz an.

Sturm schnaubte leise. Sie konnte keine der vier Katzen, die vor ihr standen, wirklich leiden. Aber am meisten hasste sie Drache, den grausamen und herzlosen Alpha.

«Ihr habt euch aber Zeit gelassen», knurrte dieser gerade und schaute eine Katze nach der andere skeptisch an.

«Du hast uns gesagt, dass wir erst zurückkommen sollen, wenn wir die beiden Jungkatzen geschnappt haben», entgegnete der weiße Kater, wurde aber sofort von Drache unterbrochen.

«Ich weiß, was ich gesagt habe, Splitter.» Er schaute die Katzen misstrauisch an. «Stachel und Splitter, ihr seid entlassen. Mit euch beiden» er nickte Nacht und Blitz zu, «will ich noch einmal reden.» Die beiden Jäger trotteten mit gesenkten Köpfen davon, während Drache die anderen beiden Katzen zu sich winkte.

Das ist meine Chance, entschied Sturm. Sie sprang vom Heuballen hinunter und tappte zu den beiden Kätzchen, die verängstigt auf dem Scheunenboden kauerten. Drache ist so herzlos!

«Hallo, ihr Beiden. Mein Name ist Sturm. Und wer seid ihr?», fragte sie freundlich.

«Ich heiße Tobi», miaute der braun getigerte Kater, «und das ist meine Schwester Minka.»

«Willkommen im Streunerrudel», schnurrte das Alpha-Weibchen und legte den ängstlichen Kätzchen ihren Schwanz um die Schultern. «Haben die Katzen, mit denen ihr gekommen seid, von eurem Zuhause entführt?» Tobi nickte.

«Sie haben gesagt, dass wir jetzt woanders leben werden.»

Sturm seufzte. Drache hatte erneuert Katzen beauftragt, unschuldige Hauskätzchen zu entführen, um sie zu Rudelmitgliedern zu machen. An diesen beiden Kätzchen schien er schon länger Interesse gehabt zu haben, aber bis jetzt war es noch keiner Katze gelungen, sie zu holen, da sie ihr Zweibeinernest kaum verließen. Heute hatten Blitz, Nacht, Splitter und Stachel es aber leider geschafft, den herzlosen Plan des Alphas umzusetzen.

«Kommt, ich bringe euch zu einem gemütlichen Plätzchen, wo ihr ein paar andere junge Katzen kennenlernen könnt», schlug Sturm vor und führte die beiden Wurfgefährten an den anderen Rudelmitgliedern vorbei zu einer mit Heu ausgelegten Ecke der Scheune, wo bereits ein paar jüngere Katzen kauerten. Eine schwarze Kätzin mit silbernem Bauchfell hob neugierig ihren Kopf, neigte ihn aber sofort wieder, als sie Sturm erkannte.

«Sei gegrüßt, Sturm», murmelte sie. Hinter ihrem ehrfürchtigen Blick verbarg sich Neugier und das Alpha-Weibchen musste schnurren.

«Hallo Mond. Ich habe euch jemanden mitgebracht. Das sind Minka und Tobi.»

«Das sind aber seltsame Namen», murmelte die junge Jägerin, während sie langsam näher kam. «Werden sie bei uns bleiben?» Sturm nickte.

«Sie haben bis jetzt noch keine Rudelnamen bekommen.» Sie schob die beiden Hauskätzchen vorsichtig nach nach vorne.

«Eine Kätzin!», jubelte Mond. «Endlich habe ich eine Freundin. Du willst doch meine Freundin sein, oder?» Die schwarze Kätzin tappte zu Minka und berührte sie Nase an Nase. Dann begrüßte sie Tobi.

«Bedränge sie doch nicht so», schnurrte das Alpha-Weibchen.

«Hallo Sturm», miaute jemand aus der Dunkelheit. Zwei grüne Augen leuchteten ihr entgegen und einen Augenblick später trat ein kleiner, helbrauner Kater aus dem Schatten und neigte flüchtig seinen Kopf. Pilz. Die Kätzin nickte ihm knapp zu.
 
«Wer ist das?», fragte Pilz und deutete auf die beiden Wurfgefährten. Er klang nicht unbedingt unfreundlich, aber Sturm sah, wie Tobi und Minka sich ängstlich duckten.

Die Armen, Blitz und die anderen scheinen sie nicht gerade freundlich behandelt zu haben.

«Hast du nicht zugehört?», rief Mond vergnügt und verpasste dem hellbraunen Kater einen freundschaftlichen Klaps. Ihre hellblauen Augen funkelten frech, aber dem Alpha-Weibchen enging nicht, wie ihr Blick sanft wurde, als sie den grünen Augen des Katers begegnete.

So jung und schon verliebt. Sturm schnurrte, musste aber gleichzeitig daran denken, dass ihr Gefährte niemals solche Gefühle für sie gehabt hatte und haben würde.

«Ich habe ein wenig gedöst», murmelte Pilz und wich dem Blick der Kätzin verlegen aus. «Wurzel schläft immer noch.»

«Das war doch nur Spaß», erwiederte Mond schnurrend. «Das sind Minka und Tobi. Sturm hat gesagt, dass sie jetzt bei uns leben werden.»

«Wurzel wird nicht begeistert sein», murmelte Pilz. Sturm warf ihm einen warnenden Blick zu. Der Kater war zwar freundlich und redselig, aber mit seinen Kommentaren richtete er immer wieder unbewusst Schaden an.

«Sturm!», rief jemand von hinten. Die goldene Kätzin erkannte die Stimme ihres Sohnes und wandte sich glücklich um, aber als sie den kühlen Blick des braun getigerten Katers sah, erstarb das Schnurren in ihrer Kehle.

«Was ist, Kralle?», fragte sie.

«Drache hat mich beauftragt, mich um Adler umd Wolke zu kümmern. Dich will er sofort sprechen.»

«Adler und Wolke?»

«Die beiden Hauskätzchen», erwiederte der junge Kämpfer und peitschte etwas ungeduldig mit dem Schwanz. «Lass Drache lieber nicht auf dich warten oder beschwere dich nicht, wenn er dich wieder kratzt.»

«Ich beschwere mich nie», fauchte Sturm gekränkt. Es tat weh, den eigenen Sohn so sprechen zu hören. Er schien von Tag zu Tag seinem Vater ähnlicher zu werden.

«Kralle», flüsterte eine kleine, braun getigerte Kätzin und legte dem Kater ihre Schwanzspitze auf die Schulter. Unter ihrem sanften aber bestimmtem Blick entspannte sich der Kämpfer etwas.

Wenn Wind bei ihm ist, sind Tobi und Minka - oder Adler und Wolke, wie sie jetzt heißen - in Sicherheit. Sturm gab es nur ungern zu, aber sie vertraute ihrem Sohn nicht ganz. Er war noch jung, sechzehn Monde alt, und wurde von seiner Geburt an von seinem Vater erzogen. Sie selbst hatte ihn nur gesäugt und sich um ihn gekümmert, wenn der Alpha beschäftigt war. Hatte sie ihrem Sohn beibringen wollen, mehr Milde und Freundlichkeit zu zeigen, bekam sie Probleme mit ihrem Gefährten.

«Wir sehen uns später», rief sie den beiden ehemaligen Hauskätzchen möglichst fröhlich zu und tappte dann durch die Scheune zu Drache.

«Wo bist du, elender Flohpelz?», brüllte der Alpha. Als er seine Gefährtin erblickte, sprang er von seinem Heuballen hinunter und schlug Sturm - ehe diese sich versah - mit ausgefahrenen Krallen auf den Kopf.

«Habe ich dir nicht gesagt, dass du von den Kätzchen wegbleiben sollst?», schrie er wütend. In seinen Augen brannte grünes Feuer und sein pechschwarzes Fell war gesträubt. Sturm schwieg.

Ich habe nichts Unrechtes getan. Stolz hielt sie dem flammendem Blick des Alphas stand.

«Ich habe dich was gefragt, du elender Haufen Fuchsdung! Antworte gefälligst.»

«Ja, du hast es gesagt», seufzte die Kätzin und schaute hinunter auf ihre Vorderpfoten. Sie spürte, wie sich die Blicke der anderen Katzen aus der Dunkelheit heraus in ihren Pelz brannten.

«Und warum hast du meinen Befehl missachtet?»

«Oh Drache!», rief das Alpha-Weibchen aus. «Ich bin eine Mutter und ich kann mir nicht ansehen, wie herzlos du die armen Kätzchen behandelst. Ich habe mich nur um sie gekümmert, das ist alles.»

«Ihr Kätzinnen seid alle gleich. Schwach und ungehorsam», miaute der Kater abwertend. Sturm spürte, wie rasende Wut in ihr hochstieg. Sie spannte ihre Muskeln an und fuhr ihre Krallen aus.

«Sag das noch einmal und- !» Mehr schaffte sie nicht zu sagen. Ein Schlag traf ihr rechtes Ohr mit solcher Wucht, dass sie für eine Weile nur ein Klingeln hören konnte. Der zweite Schlag hinterließ brennende Krallenspuren auf der Schnauze der Kätzin.

«Geh mir aus den Augen» knurrte Drache und wandte sich ab. «Außerdem will ich, dass du dich von Adler und Wolke fernhälst und diesmal wirklich! Kralle kümmert sich um sie. Hast du mich verstanden?» Sturm nickte. «Hast du mich verstanden?», brüllte Drache noch einmal.

«Ja, Drache. Ich habe dich verstanden», seufzte Sturm.

«Gut», nickte der Alpha knapp und verschwand in den Schatten der Scheune.

Dreckiges, elendes Schlangenherz, wetterte die Kätzin, während sie müde durch die Scheune tappte. Ihr Ohr fühlte sich immer noch betäubt an und aus den Kratzern auf ihrer Nase trat Blut.

Aus den Schatten erschien eine kleine Kätzin mit langem, silbergrauem Fell. Nebel. In ihren dunkelblauen Augen schimmerte Besorgnis, als sie Sturm genauer betrachtete.

«Ich hole Spinne», murmelte sie und verschwand zwischen ein paar Heuballen. Einen Augenblick später kam sie zurück. Eine ältere, schwarze Kätzin folgte ihr. Sturm konnte erkennen, dass sie etwas im Maul trug. Die Jägerin hatte lange als Einzelläuferin gelebt und kannte deshalb einige Kräuter, weshalb sie leichtere Verletzungen heilen konnte.

«Setzt dich», wieß Spinne sie an. Das Alpha-Weibchen setzte sich wortlos auf den Boden und schloss die Augen. Es tat gut jemanden zu haben, der sich um sie kümmerte, dem sie nicht egal war. Spinne leckte ihre Wunden sauber, dann schmierte sie einen Pflanzenbrei auf ihre Schnauze und legte Spinnenweben darauf.

«Danke», murmelte Sturm und entspannte sich ein wenig. Spinne sah sie eine Weile nachdenklich an.

«Du bist mutig, Sturm. Sehr mutig und du hast ein gutes Herz. Das sind Eigenschaften, die eine gute Anführerin braucht. Aber sei vorsichtig. Mit Drache ist nicht zu spaßen.» Sturm nickte.

«Danke dir, Spinne. Ich bin froh, dass nicht alle so sind wie Drache. Dass es Katzen gibt wie dich», schnurrte sie.

«Es gibt viel mehr Katzen als du denkst, die die Lebensweise des Rudels verachten und auf eine Veränderung hoffen, aber sie haben Angst es zu zeigen», erklärte die schwarze Kätzin. «Nun, ich muss gehen. Pass auf dich auf Sturm, wir brauchen dich.» Sturm nickte der Kätzin zum Abschied zu und rollte sich dann zusammen. Eine unbekannte Energie und Hoffnung durchströmte sie, als sie über Spinnes Worte nachdachte. Was hatte das zu bedeuten? Was wollte ihr die ältere Kätzin damit sagen?

***

Das Licht der aufgehenden Sonne brach durch die silbrigen Nebelschwaden und sprenkelte das Fell der Katzen, die sich vor der Scheune aneinander kuschelten.

«Können wir nicht hier bleiben?», flehte Regen. «Hier ist es sicherer und wärmer als in der Wildnis. Sprich bitte mit Drache, Sturm. Es geht schließlich um meine Kleinen.»

«Ich versuche es», versprach das Alpha-Weibchen, «aber mach dir keine großen Hoffnungen. Wenn Drache etwas vorhat, kann ihn niemand davon abbringen, es zu tun.»

«Danke», flüsterte die hellgraue Kätzin und presste die beiden Kätzchen an sich.

«Drache», rief Sturm und tappte zu dem schwarzen Kater, der sich gerade mit ein paar Kämpfern besprach. Der Alpha wandte sich zu seiner Gefährtin um. Die Kätzin erschauderte, aber der Grund war nicht die kühle Morgenluft sondern der eisige Blick des Katers.

Er sieht nicht so aus als ob er mich sehen will. Wenn ich ihn jetzt noch frage...

«Nun?», fragte Drache. «Es muss wohl einen sehr dringenden Grund geben, dass du mich hier unbedingt stören musst.» Seine Stimme wurde schärfer und seine Augen schmaler. Sturm entging nicht, dass auch die Kämpfer sie missbilligend anschauten. Vor allem Kralle.

«Drache, ist es in der Scheune nicht nicht sicherer? Da ist es trocken und nicht so kalt. Außerdem sind wir da gut geschützt, vor allem die Jungkatzen.»

«Ist schon wieder dein sogenannter mütterlicher Instinkt mit dir durchgegangen oder hast du auf das Geheule der Jungenmütter gehört?», fragte der Alpha verächtlich.

«Auf meinen Verstand», entgegnete die Kätzin kühl. Bleib ruhig und lasse dich nicht von diesem Flohpelz provozieren, redete sie sich ein.

«Auf deinen Verstand?», spottete Drache. «Nun, das merkt man.»

Lass dich nicht provozieren, Sturm! Lass dich nicht provozieren! Sie holte tief Luft, konnte ihre Nackenhaare jedoch nicht flach halten. Die Kämpfer warfen sich gegenseitig verächtliche Blicke zu. Kralle schien sogar etwas sagen zu wollen, schloss dann aber wieder sein Maul.

Nanu? Warum sagt er doch nichts? Das ist nicht seine Art. Im nächsten Moment entdeckte Sturm jedoch den Grund für das Verhalten ihres Sohnes. Es war leider nicht die Liebe zu ihr und auch nicht die Vernunft, sondern eine kleine, schlanke, braun getigerte Kätzin mit freundlichen, gelben Augen, die gerade an ihm vorbeilief. Wind. Kralle liebte die Kätzin, schien sich aber nicht zu trauen, sie zu seiner Gefährtin zu machen, obwohl es eigentlich auf sein Befehl hin geschehen könnte. Der Kämpfer schien sie wirklich zu lieben, im Vergleich zu vielen anderen Katern in diesem Rudel. Sein Vater hingegen hielt nicht viel von solchen Gefühlen, leider...

«Ich sage dir jetzt was, Möchtegern-Schlaukopf», knurrte Drache. «Ich habe beschlossen, dass wir auf dem Moor leben werden, von welchem die Einzelläufer berichten, und dabei bleibt es auch. Verstanden?»

«Auf dem Moor? Nicht im Wald?», fragte die Kätzin überrascht. Sie war davon ausgegangen, dass die unter den Bäumen ihr neues Lager aufschlagen würden, aber der Alpha hatte scheinbar vor, auf dem kalten, windigen, ungeschützten Moor zu leben.

«Sind wir Eichhörnchen?»

«Sind wir Kaninchen?» Sturm sah, wie sich die Kämpfer bei ihren Worten gegenseitig überraschte Blicke zuwarfen. Sie schienen nicht damit gerechnet zu haben, dass sie ihrem Gefährten in so einem Ton antworten würde und mittlerweile fragte sie sich, ob es nicht zu mutig gewesen war.

«Werd nicht frech», knurrte der Alpha. «Ich weiß was ich mache und du solltest jetzt ruhig sein, wenn du nicht willst, dass ich dir die Wunden von gestern wieder aufreiße.»

«In Ordnung», seufzte Sturm und trottete zu den anderen zurück.  Fuchsherz.

«Und sag den Jungenmüttern, dass sie aufhören sollen, sich zu beschweren. Sonst bekommen sie ganz schnell Probleme mit mir», rief  ihr Drache hinterher. Sie schnippte mit dem Schwanz als Zeichen, dass sie ihn gehört hatte.

«Tut mir leid, Regen. Ich habe es versucht», sagte sie im Vorbeigehen zu der Jungenmutter. Diese seufzte und ließ die Schultern hängen.

«Trotzdem danke.»

«Nichts zu danken», murmelte Sturm und sah sich nachdenklich um.

«Hey Schwesterherz», rief jemand hinter ihr.

«Hey Flamme», schnurrte die Kätzin und trottete zu ihrem Wurfgefährten. Der rote Kater hatte sich mit seinem besten Freund Fluss, einem großen, silbergrau-schwarz gestreiftem Kater, die Zungen gegeben. Jetzt sprang er auf und lief auf sie zu.

«Hast du dich schon wieder mit Drache angelegt?», fragte er liebevoll und fuhr ihr mit seiner Zunge übers Gesicht. In seinen goldenen Augen schimmerte Besorgnis.

«So ungefähr», murmelte Sturm und vergrub ihre Schnauze in seinem Schulterfell. Sie wollte nicht darüber sprechen.

«Willst du dich zu uns setzen?», schlug Flamme vor. «Wir könnten ein wenig plaudern.»

«Wirklich?»

«Natürlich», rief jetzt Fluss. «Komm zu uns. Du musst auch mal mit anderen Katzen Zeit verbringen als nur mit Drache.»

«Danke» schnurrte die Kätzin und wollte sich gerade auf dem von Tau benetzten Gras niederlassen, als der Alpha ein lautes Jaulen von sich gab.

«Es geht weiter!» Er sah sich suchend unter den Katzen um. Als er seine Gefährtin erblickte, wurde sein Blick böse. «Sturm, bring deinen flohverseuchten Pelz sofort hierhin!»

«Sagt der Richtige» brummte die Kätzin aufstehend. Flamme legte ihr den Schwanz um die Schultern.

«Wir kommen mit dir mit und werden dich beschützen», miaute er leise. «Nicht wahr, Fluss?» Der gestreifte Kater nickte.

«Danke, aber ich glaube, dass Drache nur noch wütender wird, wenn ihr mitkommt», murmelte Sturm. «Er will wahrscheinlich nicht, dass ich mit anderen Katern Zeit verbringe.» Dies war nicht unbedingt eine Lüge, aber auch nicht der Hauptgrund, weshalb sie die Kater davon abhalten wollte, sie zu begleiten. Sie fürchtete, dass es eine Eskalation - womöglich mit Blut und Verletzten - zwischen Drache und den beiden Katern geben würde.

«Bist du dir sicher?», fragte Flamme eindringlich.

«Ja, Bruderherz. Mach dir keine Sorgen.» Sie leckte ihm vorsichtig über die Wange, bevor sie zu ihrem Gefährten eilte.

«Und wieder lässt du auf dich warten», grummelte dieser, sobald sie nah genug war. Er holte mit der Pfote aus und zielte auf Sturms Ohr, doch diese hatte die Bewegung vorhergesehen und duckte sich blitzschnell weg. Drache war zu stolz, um seinen Fehler zu zeigen. Deshalb wandte er sich gelangweilt ab und trottete zu seinen Kämpfern.

«Hallo Sturm!», rief eine hohe Stimme in unmittelbarer Nähe. Das Alpha-Weibchen wandte sich um und entdeckte Adler, der mit Wolke und Kralle an ihr vorbeilief.

«Hallo Adler! Hallo Wolke!», erwiederte die Kätzin den Gruß. Die beiden Wurfgefährten sahen nicht mehr so verängstigt aus wie am Abend. Scheinbar war Kralle nicht so grob zu ihnen, wie sie erwartet hatte. Gerne hätte sie ihnen ein paar Fragen gestellt, aber in diesem Moment ertönte erneut ein lauter Ruf.

«Stellt euch in vier Reihen neben dem Donnerweg auf», befahl Drache. «Wenn ich jetzt sage, überquert die erste Gruppe den Donnerweg. Dasselbe gilt für die anderen Gruppen.»

Sturm beobachtete, wie die Katzen murmelnd vier Reihen bildeten. Regen führte ihre beiden Jungkatzen an den Rand der harten Fläche. Sie schien niemanden zu haben, der das zweite Kätzchen tragen könnte.

«Lass mich ein Junges nehmen», schlug das Alpha-Weibchen vor. Die hellblauen Augen der Jungenmutter leuchteten dankbar auf. Scheinbar half Tiger, ihr Gefährte, ihr nicht mit den Kleinen. Er war eigentlich ein guter Vater, aber da er ein Kämpfer war, musste er sich an besondere Vorschriften des Alphas halten zu denen gehörte, dass er seiner Gefährtin nicht beim Versorgen der Jungkatzen helfen musste und sich stattdessen in Draches Nähe aufzuhalten hatte, um jederzeit seine Befehle erfüllen zu können.

Gerade wollte Sturm Eis aufheben, als Drache ungehalten losbrüllte.

«Lass doch die jämmerlichen Wesen. Es ist nicht deine Aufgabe Sturm. Als Alpha-Weibchen hast du andere Pflichten als die übrigen Kätzinnen. Komm her, du bist in der ersten Gruppe, die den Donnerweg überquert.»

Seufzend folgte die Kätzin dem Befehl. Der Rest ihrer Gruppe war bereits versammelt: Kralle, Wind, Adler, Wolke, Finsternis, Donner, Splitter und Rabe. Alle schienen einigermaßen ruhig zu sein, da sie im Zweibeinerort immer wieder Donnerwege überqueren mussten. Nur die beiden ehemaligen Hauskätzchen zitterten am ganzen Körper. Kralle und Wind versuchten sie zu beruhigen.

«Keine Sorge», miaute Sturm den beiden Geschwistern zu. «Um diese Tageszeit sind kaum Monster unterwegs. Hört einfach auf Drache und lauft schnell rüber.»

«Wir schaffen das auch ohne deine Hilfe, Sturm», brummte Kralle. «Misch dich nicht ein.»

«In Ordnung», nickte die Kätzin und schluckte. Sie wusste nicht, was mehr weh tat: Dass ihr eigener Sohn ihr gegenüber so kalt war, oder dass ihre Hilfte so grob abgewiesen wurde. Spinne hat gesagt «Wir brauchen dich», aber wer ist wir? Keiner braucht hier meine Hilfe. Was hat sie gemeint?

Tief in Gedanken versunken, überhörte sie fast Draches Kommando. Erst alls die anderen Katzen neben ihr auf den Donnerweg sprangen, kehrte sie ruckartig in die Realität zurück. Mit wenigen Sprüngen überquerte sie die harte Fläche und ließ sich dann im weichen, aber feuchten Gras nieder.

«Gar nicht so übel, wenn wir ab jetzt so etwas Weiches unter unseren Pfoten haben werden» murmelte sie vor sich hin.

«Sehe ich genauso, Schwesterherz.» Flamme hatte den Donnerweg mit der zweiten Gruppe überquert und ließ sich jetzt neben Sturm nieder. Sein Freund Fluss ebenfalls.

Kaum hatte die letzte Gruppe die schwarze Fläche passiert, als der Alpha zum Weitermarsch antrieb. Der Nebel hatte sich bereits gelichtet. Nur hier und da zogen sich noch silbrige Schwaden durch den lichtdurchfluteten Brikenwald. Die ersten Vögel zwitscherten fröhlich in die klare Morgenluft des frühen Blattfalls hinein. Überall roch es nach frischem Tau.

Sturm atmete tief ein und aus. Der Waldgeruch fühlte sich in ihrer Lunge befreiend an. Sie war an den Gestank des Zweibeinerorts gewöhnt und war immer gut damit zurecht gekommen, aber nachdem sie die frische Waldluft gerochen hatte, stand eines für sie fest: Sie würde nie wieder an den von Zweibeinern gemachten Ort zurückkehren. Hier in der Natur war sie frei. Naja, zumindest teilweise...

«Sturm, du bleibst in meiner Nähe», brüllte Drache ein paar Fuchslängen vor ihr. «Flamme und Fluss, ihr bleibt bis zum Ende des Tages ganz hinten bei den letzten Katzen, verstanden?»

«Aber Drache!», wollte das Alpha-Weibchen protestieren, doch Fluss schüttelte unauffällig den Kopf und trat Flamme auf die Pfote, als dieser ebenfalls etwas sagen wollte. Wahrscheinlich wollte er vermeiden, dass sie und ihr Bruder Probleme mit dem Alpha bekamen.

«Also, geht ihr jetzt?» Draches Stimme wurde von Wort zu Wort ungeduldiger.

«Ich sehe zwar nicht ein, dass wir etwas falsch gemacht haben, aber wir werden deinem Befehl Folge leisten, wenn du versprichst, dass du Sturm nichts tun wirst», erklärte der silbern gestreifte Kater ruhig.

Wie kann man so gelassen mit einer Katze reden, der man am liebsten das Fell abziehen würde, fragte sich Sturm bewundernd. Ihr war bekannt, dass Fluss den Alpha mindestens genauso wenig ausstehen konnten wie sie.

«Forderungen willst du also stellen?», knurrte Drache. «Was glaubst du wer du bist?»

«Ein einfacher Jäger deiners Rudels, Drache, der sich um das Wohlergehen der Wurfgefährtin meines besten Freundes sorgt. Flamme ist wie ein Bruder für mich und Sturm somit wie eine Schwester.»

Wie süß! Bei diesen Worten musste die goldene Kätzin leise schnurren. Es tat gut, jemanden so von ihr sprechen zu hören.

«Hör auf damit, Fluss», brummte der Alpha und verdrehte gelangweilt die Augen. «Sturm passiert nichts, wenn sie auf meine Befehle hört. Geht jetzt.» Die beiden Kater neigten kurz ihre Köpfe, bevor sie sich zum Ende des Reisetrupps aufmachten.

«Bis später», flüsterte Sturm ihnen zu und obwohl keiner der Jäger etwas sagte, erkannte die Kätzin an ihren Blicken, dass sie sie gehört hatten. Sobald sie gegangen waren, holte sie zu ihrem Gefährten auf, sodass sie leicht versetzt hinter ihm lief. So wanderten sie die nächste Zeit durch den Wald. Sturm hatte die Vermutung, dass Drache keine Ahnung vom Weg hatte, aber er würde es niemals zugeben.

Nach einiger Zeit entdeckte Sturm ein schimmerndes Band zwischen den schlanken Birken. Bei näherem Hinsehen stellte sie fest, dass es sich um einen Bach handelte, der sich durch den Wald schlängelte.

«Da können wir nicht rüber», rief Echo, eine der Jungenmütter, von hinten, doch Drache ignorierte den Einwand und steuerte zielstrebig auf den Bach zu.

Als Sturm ans Ufer trat, stellte sie erleichtert fest, dass das Wasser seicht war un die Strömung sehr schwach. Der Gedanke, ein reißendes Gewässer überqueren zu müssen, war ihr nähmlich überhaupt nicht geheuer.

«Los!», rief Drache. «Wir verschwenden Zeit.» Ehe sich jemand versah, war er ins Wasser gesprungen und ohne Mühe ans andere Ufer gewatet. «Jetzt macht schon, ihr Feiglinge!»

Eine Katze nach der anderen stürzte sich in den Bach. Auch Sturm nahm all ihren Mut zusammen und watete in das Gewässer hinein. Das kalte Gebirgswasser umspülte ihren Körper. Das Bauchfell fühlte sich schwer und vollgesogen an. Eine Pfote vor die andere setzten durchquerte die Kätzin das Hindernis. Am anderen Ufer angekommen, sprang sie aus dem Bach und begann sofort damit, ihr Fell zu trocknen. Währenddessen beobachtete sie Kralle und Wind, die Wolke und Adler durch den Bach führten. Finsternis, der Halbbruder des jungen Kämpfers, schaute ihnen verächtlich zu. Unweit von ihm halfen Nebel und Asche den beiden Jungenmüttern Regen und Echo mit ihren Jungen.

«Jetzt mach schon», brüllte Blitz, einer der Kämpfer, plötzlich und stieß eine kupferfarbene Kätzin ins Wasser.

Ratte! Erschrocken schnappte das Alpha-Weibchen nach Luft. Ratte war die älteste Kätzin des Rudels, schwach, vernarbt und hatte nur ein Auge. Würde sie es durch den Bach schaffen? Es war nicht tief, aber die Kätzin war geschwächt und Blitz' grobes Verhalten machte die Situation nun wirklich nicht besser.

«Du kannst dich an meiner Schulter abstützen», miaute ein großer, dunkelgrauer Kater. Es war Strom, Echos Gefährte und einer der Kämpfer. Erleichtert wandte Sturm ihren Blick ab. Strom würde gut auf die alte Kätzin aufpassen.

Sobald alle Katzen das andere Ufer erreicht hatten, zog Drache weiter. Das Rudel folgte ihm schweigend. Alle waren müde und durchnässt, die Stimmung angespannt. Der zauberhafte Birkenwand hatte sich mittlerweile in einen Laubwand mit riesigen Bäumen verwandelt.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand fast erreicht und Sturms Muskeln schrien nach einer Pause. Als sie sich nach einem geeigneten Rastplatz umsah, viel ihr auf, dass sich der Wald in nicht allzu weiter Ferne lichtete. Auch Drache schien dies bemerkt zu haben, denn seine Nackenhaare stellten sich auf und er beschleunigte das Tempo.

Sind wir etwa schon am Ziel? Die Kätzin beschleunigte ebenfalls ihr Tempo, um die entstandene Lücken zwischen ihr und dem Alpha zu schließen. Doch als sie ihn einholte, bemerkte sie, dass etwas nicht zu stimmen schien. Der Alpha stand wie versteinert am Waldrand und starrte vor sich hin. Seine Muskeln waren angespannt und seine Krallen ausgefahren.

«Was ist los, Drache?», fragte sie.

«Vor uns ist eine größere Sumpflandschaft», murmelte der ältere Kater. An das Rudel gewandt rief er: «Wir halten jetzt an. Jagt und ruht euch aus.» Dann winkte er die Kämpfer zu sich.

Nachdem sie sich vergewisstert hatte, dass der Alpha sie nicht beachtete, lief Sturm zu ihrem Brudes und dessen Freund. Zu dritt streckten sie sich auf dem Gras aus und genossen die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Pelz.

«Tut das gut», schnurrte das Alpha-Weibchen und gähnte. Doch die Entspannung dauerte nicht lange. Bald schon meldete sich der Hunger und so machten sie sich auf die Jagd.

Sturm entdeckte bereits nach kurzer Suche ein Eichhörnchen. Zwar war sie nur an das Jagen im Zweibeinerort gewöhnt, aber instinktiv wusste sie dennoch, was sie tun musste. Vorsichtig schlich sie sich an das Tier heran. Jedoch bemerkte es die Jägerin und wollte sich flink auf einen Baum retten, doch Sturm war schneller. Mit einem gewaltigen Satz sprang sie auf einen der Äste und folgte dem Eichhörnchen. Ein paar Sprünge und schon hing das Tier tot in ihrem Maul.

«Bravo!», riefen Flamme und Fluss gleichzeitig. Sie hatten bereits einen Vogel und eine Maus gefangen. Sturm überließ nach der Tradition des Rudels ihrem Gefährten die Beute, welcher sie ohne zu danken verschlang. Flamme und Fluss teilen mit ihr den Vogel und die Maus, da es keine Zeit gab, um noch etwas zu jagen.

Kaum hatte Sturm die Mahlzeit beendet, als das Rudel schon weiterzog. Drache führte sie am Waldrand entlang - vorbei an einem Kreis aus fünf großen Felsen, die Sturm magisch anzogen - auf das Hügelland in der Ferne zu, welches die Katzen erreichten, als Sonnenuntergang nicht mehr weit war.

Hier sind ja überall Kaninchenbaue, stellte Sturm fest. Während einige Katzen loszogen, um ein paar der scheuen Tiere zu besorgen, suchte der Rest nach einem geeigneten Schlafplatz. Unweit von einem riesigen, von Heide bedektem Hügel ernannte Drache schließlich eine von kleineren Hügeln umgebene Kuhle zum neuen Lager des Streunerrudels.

«Dies ist unser neues Zuhause. Morgen werden wir die Kaninchentunnel hier zu Bauen vergößern. Diese Nacht müssen wir noch im Freien schlafen. Kralle», er winkte seinem Sohn zu, «teile die Nachtwache ein.»

Sturm hatte den Worten des Alphas still gelauscht. Jetzt wandte sie sich ab und beobachtete die untergehende Sonne, die einem glühenden Feuerball glich. Ein Neuanfang würde nicht leicht sein, dass wusste sie, aber sie wollte dennoch zuversichtlich bleiben. Die neue Heimat hatte viele Veränderungen mitgebracht, aber die Kätzin hatte das Gefühl, dass noch andere Veränderungen bevostanden. Große und folgenschwere Veränderungen, die ihr Leben und das Leben aller Katzen hier beeinflussen würden. Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Wir brauchen dich, Sturm. Wir brauchen dich.

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5528 Wörter

Das war das erste Kapitel des Buches. Ist länger geworden als geplant. Die nächsten werden (hoffentlich) ein bisschen kürzer sein.

Was sind eure ersten Eindrücke vom Rudel?
Und von den einzelnen Katzen?

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