Kapitel 98

Immer noch völlig erstaunt drehte sich Herbstbrise im Kreis. Die Größe der Schlucht nahm ihr den Atem.

So hoch und so breit wie sie war, hatte sie sie gar nicht mehr in Erinnerung. Ich bin wohl eine echte Überlebenskünstlerin, da ich sie schon einmal bezwungen habe.

Auch wenn das Klettern auf dem flachen und glatten Fels alles andere als leicht gewesen war.
Früher bin ich gefallen. Was für ein Glücksvogel ich war, dass ich den Sturz abbremsen konnte.

Doch Düsterfrost, Finkenblatt und Mondstrahl hatten sich damals auch gut geschlagen. Nur Salbeiherz hatte sich eine Verletzung zugezogen.

Dafür aber war es ihm gelungen, Mondstrahl vor dem Tod zu bewahren, wofür ihm Herbstbrise auf ewig dankbar bleiben würde.

Trommelnde Schritte ließen sie instinktiv herumwirbeln. Vor ihr bremsten Mondstrahl, Blaubeerfluss und Hagelbruch ab,

alle drei keuchend und schnaufend. Rabenschein machte sich ihre Erschöpfung zum Spaß und kletterte schnurrend über die drei älteren Katzen.

"Euch geht wohl die Puste aus!", bemerkte sie. Herbstbrise sah, wie Hagelbruch wütend die Lippen kräuselte.

Ihm ging das nervige kleine Junge wohl schon richtig aus den Geist. Das nahm ihm Herbstbrise allerdings auch nicht übel, nach den vielen Monden in denen er sein Gespött hatte ertragen müssen.

Um ihn ein wenig von der jungen Kätzin abzulenken, deutete sie auf die Felswand. Hagelbruch folgte verwirrt ihrem Blick, dann weiteten sich seine Augen.

"Herbstbrise, was hat das zu bedeuten?" ,erklang da Blaubeerfluss' ängstliches Miauen. "Müssen wir dort etwa drüber?"

Herbstbrise nickte langsam. "Leider ja. Wir haben sonst keine Möglichkeit, unseren Weg fortzusetzen."

Hagelbruchs Knurren, ließ sie zusammenschrecken. "Ich klettere da niemals hoch!" ,verkündete der weiß-bläuliche Kater. "Das ist viel zu riskant.

Blaubeerfluss, bitte sei so vernünftig und lass das auch sein! Du könntest sterben, bei dem Versuch, diese gewaltige Schlucht zu erklimmen."

Seine Augen blickte flehend und schienen die blaugraue Kätzin buchstäblich zu durchbohren.

Blaubeerfluss schritt nervös auf und ab. Sie wusste im Moment wohl nicht, was sie machen sollte. Nach einiger Zeit grübelnd im Kreis laufen,

blieb sie endlich stehen. "Hagelbruch hat recht" ,miaute sie, "wir können nicht über einen so glatten Fels wie diesen klettern. Vor allem nicht auf so einer Höhe.

Allerdings möchte ich genauso wie du, Herbstbrise, beim Himmelclan angekommen. Also schlage ich vor, dass wir eine geeignetere Stelle zum Klettern suchen."

Hagelbruch schien mit diesem Vorschlag zufrieden, nur Herbstbrise wusste nicht, was sie davon halten sollte.

Vielleicht stimmte ja, was ihre Tochter sagte und sie fanden einen Ort, der besser zu besteigen war als dieser. Allerdings konnte es auch sein, dass es gar keinen gab.

Dann aber schüttelte Herbstbrise sich. Ein Versuch, ihn zu finden ist es wert. Demnach nickte sie Blaubeerfluss zustimmend zu und trabte die Schlucht entlang.

Während sie lief, hing ihr Blick fest an dem Felsen. Sie wollte ja keine gute Kletterstelle verpassen. Auch die anderen, sogar Rabenschein,

hatten die Köpfe nach links gedreht, um eifrig mit zu suchen. Eine Weile lang merkte Herbstbrise gar keine Änderung an dem Felsmuster.

An jeder Stelle war die Schlucht gleich glatt. Als hätte man sie geschliffen. Irgendwann sah die Reisegruppe ein,

dass es keinen Sinn hatte, weiter in Richtung Osten zu laufen. Also gingen sie die ganze Strecke, die sie gewandert waren wieder zurück.

Beim Startpunkt ihres Wegs angekommen, schritten sie diesmal nach Westen. Vielleicht fanden sie ja dort ihr Glück.

Die Hoffnung lohnte sich, denn nach mehreren Stunden, kam Herbstbrise endlich an einem Ort vorbei,

an dem die Schlucht flacher wirkte. Der Fels war uneben und somit viel geeigneter zum Klettern.

Zufrieden schnippte Herbstbrise mit dem Ohr in seine Richtung, um ihre Reisekameraden auf ihn aufmerksam zu machen.

Mondstrahls gelangweilter Gesichtsausdruck wich einem Lächeln. Auch Blaubeerfluss' und Hagelbruchs Mienen wurden heiter.

"Das ist die perfekte Stelle!" ,schnurrte Mondstrahl und legte eine Pfote auf die harte Felswand. "Ich hoffe nur, dass ich auch mit einem Auge dort oben zurechtkomme."

Herbstbrise stupste sie aufmunternd an. "Das wirst du bestimmt." Hagelbruch und Blaubeerfluss nickten sofort.

Rabenschein sprang von dem Rücken des weißen Kriegers und rannte zu ihr, um sich tröstend an sie zu schmiegen.

"Du schaffst das schon, glaub mir!" ,fiepste sie. "Ob dir ein Auge fehlt oder nicht: Du und Herbstbrise, ihr werdet immer die stärksten Katzen der Welt sein!"

Herbstbrise schmolz dahin, bei diesen zuckersüßen Worten. Sie ist so ein Schatz. Auch in Mondstrahls Augen trat ein Leuchten.

Sie beugte sich zu der schwarzen Katze hinab, um ihr liebevoll über das Ohr zu lecken. "Ich danke dir" ,flüsterte sie, "jetzt fühle ich mich schon gleich viel besser."

Rabenschein hob zufrieden den Kopf und wartete schweigend auf den Rest der Gruppe.

Herbstbrise stellte sich als erstes neben sie, gefolgt von Hagelbruch und Blaubeerfluss.

Sie schloss vorsichtig die Zähne um Rabenscheins Nackenfell, damit sie sie später tragen konnte.

Die kleine Kätzin ließ dies protestlos über sich ergehen. Gut so. Als Herbstbrise wieder den Blick auf die anderen richtete,

sah sie dass Hagelbruch bereits angefangen hatte, zu klettern. Blaubeerfluss krallte sich als nächstes an dem Fels fest,

um sich nach und nach an ihm hoch zu ziehen. Sobald sie ein gutes Stück weit oben war, begann Herbstbrise, die Schlucht empor zu steigen.

Ihre Krallen hatten sich fest um das Gestein geschlossen, während ihre Pfoten auf gefährlich kleinen Felskanten halt suchten.

Knurrend zog sich Herbstbrise vorwärts. Ihre Pfoten zitterten aufgrund der Kraft,

die sie benötigte, um ihr gesamtes Körpergewicht mit Hilfe ihrer winzigen Krallen nach oben zu befördern.

Zudem waren die Felsvertiefungen rund, wodurch die Gefahr bestand, auszurutschen. Rabenschein, welche wie ein totes Beutetier aus Herbstbrises Maul baumelte,

wimmerte pausenlos. Sie hatte anscheinend große Angst vor einem Sturz. Herbstbrise nuschelte ihr immer wieder durch das Fell beruhigende Worte zu,

die sie allerdings oftmals von dem Klettern ablenkten. Also musste sie es sein lassen, sie zu besänftigen.

Stöhnend versuchte Herbstbrise ihr Gehäul zu ignorieren und kraxelte weiter die unendlich hohe Felswand hinauf.

Nach einiger Zeit holte Mondstrahl sie ein. Mit Erleichterung bemerkte Herbstbrise, dass sie sich geschickt und entschlossen fortbewegte.

Ihr schien das Erklimmen der Schlucht gar nicht so schwer zu fallen. Freundlich nickte sie ihr zu und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fels.

Festkrallen, hochziehen, festkrallen, hochziehen. Das kann doch nicht so schwer sein! Mit etwas mehr Mut folgte Herbstbrise ihren stillen Anweisungen.

Irgendwann wurden ihre Bewegungen gleichmäßiger und tacktvoller. Sie bereiteten ihr immer weniger Mühe.

Herbstbrise kam nun besser voran und auch Rabenscheins Gejammer verklang allmählich.

Sie vermied es, nach unten zu sehen oder die Entfernung zwischen ihr und ihrem Ziel abzuschätzen. Ihre Konzentration galt voll und ganz dem Steigen.

Doch nach einiger Zeit wurde Herbstbrise von dem ganzen Gekletter müde. Ihre Pfoten brannten von dem spitzen Gestein und dem vielen Hochziehen,

die Krallen waren stumpf und dreckig. Seufzend machte Herbstbrise halt. Sie hing wie ein schlaffer Sack vom Fels;

mit müden Beinen und so gut wie keiner Energie. Was sollte sie nun tun? Sie hatte zu wenig Kraft, um weiter zu steigen,

aber halten konnte sie sich nicht mehr lange. Würde sie loslassen, dann würde sie zusammen mit Rabenschein in den Tod stürzen.

Ein Triumphgeheul riss sie aus ihren Gedanken. Schwankend sah Herbstbrise über sich und erkannte Mondstrahl.

Sie stand mit stolzgeschwellter Brust auf dem Ende der Felswand und zog sich ein letztes mal hoch, um keuchend auf dem Gras zusammen zu brechen.

Sie hatte es geschafft und die Schlucht überwunden. Dann werde ich sie ebenso bewältigen können.

Herbstbrise fasste neuen Mut und kraxelte weiter. Sie ignorierte den Schmerz ihrer Pfoten und die schwindende Kraft.

So schlapp sie sich auch fühlte - sie musst weiter. Außerdem war der Weg nach oben nicht mehr weit, das hatte sie gerade gesehen.

Nach einer Weile verzweifelten Kletterns sah Herbstbrise, wie auch Blaubeerfluss und Hagelbruch das Ziel erreichten.

Sie war nun also die einzige, die sich noch mit dem Klettern abmühte. Zu allem Überfluss begannen ihre Gefährten auch noch, sie anzufeuern.

Herbstbrise versuchte ihren Ärger zu verbergen, schließlich wollten sie sie nur aufheitern. Trotz alledem entwich ihr ein leises Knurren.

Sie fühlte sich gehetzt. Kochend vor Wut über ihre Schwäche kletterte sie höher und höher, wild entschlossen sich zu beweisen.

Ich bin nicht langsam, ich bin stark! Rabenschein zitterte am ganzen Körper. Herbstbrises Knurren musste ihr Angst eingejagt haben.

Doch die rote Kriegerin schenkte ihr im Moment keine Beachtung. Sie durfte nicht auf sie aufmerksam werden.

Lieber lenkte sie ihre volle Konzentration auf ihre Bewegungen. Waren sie gleichmäßig, kraftvoll?

Immer noch jubelten die anderen Herbstbrise zu. Ihre Rufe klangen beinahe wie ein Fluch in deren Ohren.

Konnten sie nicht einfach leise sein? Mit dröhnendem Kopf wurde Herbstbrise schneller. Zornig schlug sie ihre Krallen in den Fels und hievte sich nach oben.

Dies wiederholte sie mehrmals, immer kräftiger und entschlossener. Doch ihr Mut machte sie waghalsig.

Sie krallte sich nun auch an rutschigen Felsabsätzen fest. Außerdem war Herbstbrise so schnell, dass sie irgendwann die Kontrolle über ihr Gleichgewicht verlor.

Sie geriet ins Schwanken. Entsetzt versuchte Herbstbrise zu stehen. Das Gejaule über ihr verebbte.

Herbstbrise suchte verzweifelt in der Felswand nach einer Lücke, die ihr halt schenkte, allerdings war das Gestein um sie herum wie glatt gemeißelt.

Ihre Pfoten rutschten langsam ab. In Panik versuchte eilig, sich weiter nach oben zu ziehen, verlor bei dem Versuch allerdings den halt und stürzte.

Kreischend fing sie sich mit den Vorderpfoten gerade noch auf. Sie waren fest um ein Stück Fels geschlugen, die Hinterbeine ruderten hilflos in der Luft.

Ängstlich sah Herbstbrise über die Schulter, in die gähnende Tiefe, die sich vor ihr auftat. Ein Fall und sie wäre tot, das wusste sie bereits.

Einmal hatte sie Glück gehabt und war diesem Schicksal um eine Haaresbreite entkommen. Nur Glück hatte man nicht immer,

das hatte sie genauestens gelernt. Würde sie also heute, hier an diesem Ort zugrunde gehen?

"Ruuuhhig bleiben.... Ganz ruuuuhhig..." Herbstbrise erschrak, beim Klang von Blaubeerfluss' Stimme direkt über sich.

Langsam sah sie nach oben.
Der blaugraue Pelz ihrer Tochter durchschnitt das Sonnenlicht.

Blaubeerfluss musste gekommen sein, um ihre Mutter zu retten. Seufzend schüttelte Herbstbrise die Spannung ab.

Sie vertraute darauf, dass ihr Junges das richtige tat. Also ließ sie widerstandslos alles über sich ergehen, was Blaubeerfluss tat.

Die graue Kätzin neigte sich zu ihr herab, damit sie die Zähne vorsichtig um ihr Nackenfell schließen konnte.

Sie zog und zerrte Herbstbrise mit aller Kraft nach oben. Herbstbrise hing wie ein schlaffer Fellbündel in ihrem Maul.

Sie rührte sich nicht, aus Angst, alles nur noch schlimmer zu machen. Langsam schlossen sich ihre Augen.

Würde Blaubeerfluss sie retten können oder würde ihr Leben nun ein Ende finden?

Ein zweites Maul packte sie am Nackenfell, gefolgt von einem dritten. Erleichtert sah Herbstbrise über sich.

Hagelbruch und Mondstrahl waren Blaubeerfluss zur Hilfe gekommen. Gemeinsam und mit vereinter Kraft zogen sie Herbstbrise auf einen sicheren Absatz.

Zunächst blieb die rotgoldene Kriegerin geschockt stehen, wo sie war, bevor sie wieder anfing zu klettern.

Diesmal passte sie besser auf. Und endlich stießen ihre Pfoten auf Boden. Festen, trittsicheren Boden.

Herbstbrise fiel ein Stein vom Herzen, als auch der Rest der Gruppe keuchend neben ihr aufs Gras plumpste.

Sie war heilfroh, dass ihnen allen nichts zugestoßen war. Außerdem quillte sie schier über, vor lauter Dankbarkeit.

Ohne die Rettungsaktion ihrer Freunde wäre sie sicherlich gestorben.

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