Kapitel 92
Kühle Windböen kitzelten Herbstbrise an der Schnauze und hinterließen ein kribbelndes Gefühl.
Leise nieste die rotgoldene Kriegerin auf und öffnete die grasgrünen Augen. Ihr Blick fiel auf die Büsche um sie herum, die aufgrund des Windes erzitterten.
Der Blattfall nähert sich. Mit einem befriedigten Seufzen drehte sie sich zu ihren Reisekameraden um, die noch tief und fest schliefen. Die kommende Kälte war ihr gerade recht.
Zärtlich stupste Herbstbrise Blaubeerfluss und Hagelbruch nacheinander in die Seite, die sich daraufhin mit einem schläfrigen Grunzen streckten.
Blaubeerfluss stemmte sich zu erst auf und musterte Herbstbrise forschend. "Du willst aufbrechen, um Rabenschein zu suchen, hab ich recht?!"
Herbstbrise nickte beklommen. Die kleine schwarze Kätzin war ihr die ganze Nacht über nicht aus dem Kopf gegangen und hatte sie wach gehalten.
Nach der ruhelosen Nacht war Herbstbrise zwar mehr als nur erschöpft, wollte aber keine weitere Sekunde damit verschwenden,
sich auszuruhen. Ich muss Rabenschein dringend retten! In ihrem geistigen Auge blitzte das Bild von einem mageren schwarzen Jungen auf,
das mutterseelenallein in einer Felshöhle kauerte und auf eine Katze wartete, die niemals zu ihm zurückkehren würde.
So durfte Rabenscheins Leben nicht enden! Nicht heute, nicht unter diesen vier grauen, kalten Wänden.
Sie musste überleben. Ansonsten hätte Herbstbrise einen weiteren Grund, sich zu hassen.
Also stand sie auf. Zwar schwankend, dennoch strotzte sie vor lauter Entschlossenheit. Sie würde sich nun aufmachen, um Rabenschein zu retten.
Und das gelingt mir auch! Ich muss einfach fest daran glauben.
Herbstbrise schnippte Blaubeerfluss mit dem Schwanz in die Seite.
"Lasst uns aufbrechen. Ich möchte Rabenschein noch vor Sonnenuntergang gefunden haben."
Blaubeerfluss nickte. "Ich auch. Nur einer von uns muss auf Mondstrahl aufpassen. Hagelbruch, übernimmst du das?"
Der weiße Kater murmelte zustimmend. Blaubeerfluss schnurrte dankbar und setzte sich neben Mondstrahl.
Sanft tippte sie die cremefarbene Kätzin wach. Sobald diese ihr eines Auge geöffnet hatte, das noch wässrig vor lauter Tränen war,
flüsterte sie so sanft wie möglich: "Guten Morgen! Ich hoffe es geht dir nun besser, Mondstrahl. Wir sind in Sicherheit. Herbstbrise ist auch bei uns."
Mondstrahl öffnete das Maul zu einem unverständlichen Krächzen. Schaum rann zwischen ihren Lippen hervor.
Mit zusammengezogenem Herzen tappte Herbstbrise vor und legte ihr besänftigend den Schwanz auf die Schulter.
"Schsch. Du solltest deine Stimme schonen. Ich möchte nur eine einzige Sache von dir wissen: Wo hast du Rabenschein versteckt?"
Mondstrahls Auge blitzte auf und sie zog ihre Freundin näher an sich heran. Kurz räusperte sie sich, bevor sie mit dem Sprechen begann.
"I...Ich..." Sie brach hüstelnd ab. Ihr Hals bebte vor Anspannung. Herbstbrise schnippte Hagelbruch kurz mit den Ohren zu.
"Gib mir das Wasser!" ,befahl sie. Augenblicklich, spürte sie etwas nasses, weiches an ihrer Pfote.
Schnell packte sie das getränkte Moos und hielt es Mondstrahl an die Lippen. "Trink!" ,miaute sie, bemüht, ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen.
Mondstrahl öffnete langsam die trockenen Lippen und leckte mit zittriger Zunge über das Moosstück.
Das Schlucken viel ihr zwar schwer, aber sie schaffte es mit Mühe und Not. Sobald kein Tröpfchen Feuchtigkeit mehr an dem Moos hing,
lehnte sie sich taumelnd zurück und schloss seufzend die Augen. Herbstbrise hätte sie liebend gerne schlafen gelassen,
wusste aber, dass sie Rabenschein nicht würde finden können, ehe sie ihre Frage beantwortet hatte.
Also murmelte sie zum erneuten mal: "Mondstrahl, wo ist Rabenschein?"
Ihr Ton war zwar sanft, hatte aber etwas dringliches an sich,
das sogar Mondstrahl in den Bann zog. Ihre müden Augenlieder klappten wieder auf.
"Blaub...kenn...k-kkk...Ort...Wa..r...mi..t...ihr...d-dort..." Stöhnend ließ sie den Kopf sinken und war wenige Herzschläge später eingedämmert.
Herbstbrise atmete kurz aus und drehte sich zu ihrer blaugrauen Tochter um. "Mondstrahl meint, du kennst die Stelle,
an der Rabenschein versteckt ist!?"
Blaubeerfluss wiegte bedächtig den Kopf hin und her. "Das habe ich auch verstanden.
Und sie kann nur einen Ort meinen: Nämlich den, an dem wir uns zum ersten und zum letzten mal vor der Flucht begegnet sind. Ich kann dich zu ihm führen."
Herbstbrise neigte erleichtert den Kopf. "Wenn das so ist, dann solltest du das wohl am besten machen."
Kaum hatte sie geendet, lief Blaubeerfluss auch schon los. Herbstbrise folgte ihr im schnellen Schritt.
Während der Wanderung durch den Wald, musste sie sich nur so durch das Dickicht kämpfen, die Äste mit Zähnen und Krallen beiseite schlagen,
als hätten sie es gerade mit einem Feind zu tun. Doch die vielen Zweige und Blätter peitschten ihr andauernd ins Gesicht und rissen ihr winzige Fellbüschel aus.
Verärgert auffauchend ahmte Herbstbrise die Kauerstellung nach und kroch in dieser Position weiter.
Auch Blaubeerfluss duckte sich mit der Zeit, um dem Geäst über ihnen zu entkommen.
In der Haltung kamen die beiden Kätzinnen nun zügiger voran. Das größte Hindernis war überwunden.
Mit der Zeit öffnete sich auch die überwucherte Strecke wieder und wich vereinzelten Bäumen.
Sie waren regelmäßig eingereiht, als hätte man sie dort eingepflanzt. Demnach ließen sie sich gut umschlängeln.
Herbstbrise hatte das Gefühl, sie würde um die Baumstämme tanzen, als sie sie nacheinander umrundete.
Das Rauschen der Blätter war die Melodie zum Tanz. Blaubeerfluss schien ebenfalls ihren Spaß am Umschlängeln zu haben,
denn ein verträumtes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Herbstbrise spürte selbst, wie ihre Mundwinkel in die Höhe wanderten.
Blaubeerfluss und sie umliefen immer wieder Baumpaare und trafen in der Mitte aufeinander.
Jetzt fehlte nur noch das raschelnde Laub am Boden, an das sich Herbstbrise nur allzu gut aus früheren Tagen erinnern konnte.
Sie hatte den Blattfall geliebt, die knisternden Blätter unter ihren Pfoten, die mit orangeroten Tönen betupft umhergeweht worden waren.
Sie vermisste es, in den bunten Laubhaufen mit ihren Geschwistern Verstecken zu spielen
und am Abend mit völlig zerzaustem Pelz und Blätterresten in den Ohren zur Kinderstube zurückzukehren, um dort von Schattenrose getadelt zu werden.
Herbstbrise konnte sich noch allzu gut an die sanften aber bestimmten Zungenstriche erinnern ihrer Mutter erinnern, die sich abmühte, ihr den Pelz zu säubern.
Meistens hatte sie so getan, als würde sie Schattenroses Wäsche verabscheuen,
hatte sich aber von der liebevollen Fürsorge ihrer Mutter geborgen und getröstet gefühlt.
Als sie damals so schweigend an Schattenrose geschmiegt dagelegen war, hatte sie nicht den leisesten Schimmer gehabt,
was sie noch alles erleben würde, wie groß die Welt außerhalb des Lagers war und dass sie einmal so viel Schmerz erfahren müsste, wie in den letzten Monden.
Trotzdem war Herbstbrise insgeheim stolz auf ihre Erlebnisse, die Erfahrungen, die sie gesammelt hatte.
Die Wunden die mir zugefügt wurden sind ein Teil von mir und machen mich zu der Katze, die ich bin.
Hätte ich nicht so viel erlebt, dann wäre ich charakterlich wahrscheinlich jemand komplett anderes.
"Hey Schnarchnase. Wie steht's? Wann willst du endlich aus deinen Tagträumen erwachen? Wir haben hier schließlich noch eine wichtige Mission zu erfüllen!"
Eine Schnauze knuffte Herbstbrise liebevoll in die Seite und sie sah Blaubeerfluss' vor Belustigung aufblitzende Augen neben sich.
Herbstbrise schnurrte. Wer hätte gedacht, dass das kleine rote Junge eines Tages selbst Kinder haben würde?
Nun war aus ihr, der einst zärtlichen jungen Kätzin eine erfahrene und beschützerrische Mutter geworden.
Herbstbrise schloss kurz die leuchtend grünen Augen. Und darauf bin ich auch stolz.
Ihr Hass gegen Gewitterstern legte sich mit jedem Herzschlag, an dem sie Blaubeerfluss betrachtete.
Ich bin zwar wütend auf ihn aber vielleicht war es doch ein Glück, ihm zu begegnen. Er hat mich verraten, ja, trotzdem war ich dank ihm wohl die glücklichste Katze auf diesem Planeten
und bekam dann auch noch zwei wundervolle Töchter. Schwalbenstern mag böse sein, aber dafür kann sie nichts. Das weiß ich ganz genau.
Seufzend richtete Herbstbrise ihren Blick auf die Umgebung und fand sich auf einer weiten Wiese wieder.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sich der Wald gelichtet hatte. Ein heiteres Lachen entfuhr ihr.
Ich bin wirklich nicht die aufmerksamste Katze. Grinsend lenkte sie Blaubeerfluss' Aufmerksamkeit durch einen Stupser wieder auf sich.
"Lasst uns rennen! Dann kommen wir besser voran." Der Wind bließ ihr angenehm kühl durch den Pelz.
Der Himmel war wolkenverhangen. Herbstbrise schnurrte. Sie konnte sich keinen besseren Ort zum Rennen vorstellen, als eine so windige Wiese wie diese.
Sie warf Blaubeerfluss noch ein letztes Lächeln zu, dann raste sie mit einen Jauchzen als Signal zum Start los.
Ihre blaugraue Begleiterin preschte ihr augenblicklich hinterher.
Sie atmete laut während sie rannte, so als wäre angestrengt.
Herbstbrise musste vergnügt grinsen. Ich bin schneller als sie!
Dann aber wurde sie sich wieder ihrer ernsten Lage bewusst.
Ihr Lächeln verblasste allmählich. Ich kann erst wieder lachen, wenn Rabenschein gerettet ist und es ihr gut geht.
Also stürmte sie weiter, diesmal mit purer Entschlossenheit, die ihr so brennend heiß wie Feuer durch die Adern schoss und alles in ihr zu überwältigen schien.
Ich muss schneller sein. Mit einem gestressten Atemzug beschleunigte sie ihre Schritte und warf Blaubeerfluss währenddessen einen ungeduldigen Blick zu.
Würde die blaugraue Kätzin endlich aufhören können, so rumzutrödeln und sich stattdessen mal beeilen?
"Schneller!" ,herrschte Herbstbrise sie an und drehte den Kopf ruckartig wieder nach vorne.
Schnaubend rannte sie weiter. Und zwar so schnell wie nur möglich. Sollte Blaubeerfluss eben gucken, wo sie blieb!
Sonnenhoch kam und mit ihm sah Herbstbrise endlich den Zweibeinerort wieder vor sich.
Sie war bis jetzt pausenlos durchgerannt. Immerzu Blaubeerfluss' Wegbeschreibungen nach.
Nun drosselte sie zum ersten mal das Tempo und drehte sich zu ihrer Tochter um. "Wo lang jetzt?" ,keuchte sie.
Blaubeerfluss rang stöhnend nach Luft, bevor sie antwortete. Herbstbrise meinte aufgrund ihrer wackeligen Beine zu erkennen,
dass sie kurz davor war, in sich zusammenzubrechen.
"Felsen... Zu den Felsen da vorne" ,ertönte dann aber schon ihr Miauen.
Sie deutete mit dem Schwanz nach links. Und tatsächlich - von dort aus war eine Ansammlung mehrerer Felsblöcke zu erkennen.
Mit hämmernden Herz trottete Herbstbrise darauf zu. Was wenn Rabenschein, sich eigenständig auf die Suche nach ihnen gemacht hatte
oder von einem Fuchs aufgefressen worden war? Es konnte auch sein, dass sie die Dämmerclan Katzen entdeckt hatten.
Und was sie dann mit ihr anstellen würden, wollte Herbstbrise lieber erst gar nicht erraten.
Doch jede Sekunde, die sie vertrödelte, machte sie nur noch ungeduldiger. Herbstbrises langsamer Lauf ging in einen Sprint über.
Sie wollte schnellstmöglich sehen, was mit Rabenschein passiert war.
Sobald sie die Felsen erreicht hatte,
wirbelte sie zu Blaubeerfluss herum.
"Wohin gehen wir jetzt?" Blaubeerfluss schnippte mit den Ohren auf eine riesige Felshöhle.
"Dort drinnen habe ich Rabenschein versteckt." Herbstbrise holte tief Luft, dann schritt sie nach vorne. Direkt auf die Höhle zu.
Sie hörte Blaubeerfluss' Schritte dicht hinter sich. Oh Sternenclan, bitte mach dass es Rabenschein gut geht!
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