Kapitel 86
Stimmenflüster riss Herbstbrise aus ihrem Dämmerschlaf. Sie lag schweißgebadet und mit zerzaustem Fell da, müde und vollkommen verängstigt.
Sie hatte die ganze Nacht an schrecklichen Albträumen und zudem noch Schmerzen aufgrund ihrer Wunden gelitten.
Doch trotzdem war sie keineswegs froh, wieder wach zu sein, da das reale Leben nicht wirklich besser war, als ihre Traumwelt
Überall Feinde, Schmutz und Blut! Eine Zeit voller Schrecken und Furcht. Herbstbrise taten ihre Töchter auf einmal mehr Leid
denn je,
da sie nun wusste, wie es ihnen in den letzten Jahren ergangen sein musste.
Vor allem Blaubeerfluss hatte Herbstbrise bei ihrem Anblick, schwach und ausgemergelt, einen tiefen Stich ins Herz versetzt.
Ich muss sie dringend von diesem schrecklichen Clan erlösen! Sie und ihre Schwester. So schlimm es hier auch ist: Ich werde nicht ohne meine Töchter fortgehen!
Herbstbrise schreckte aus ihren Gedankengewirr hoch, als sie Schritte auf sich zukommen hörte.
Eine zarte Stimme drang in ihr Ohr. "Hagelbruch, ich komme gleich wieder" ,versprach sie mit einem gereizten Unterton ,
"mach dir keine Sorgen um mich. Diese fremde Kätzin wird mir schon nichts tun. Ich möchte sie nur schnell verarzten."
Aus der Ferne ertönte eine unverständliche Antwort, welche die erste Katze zum Schnaubten brachte. Mit einem Seufzer bekräftigte sie noch ein letztes mal ihre Worte,
bevor sie den Weg zu Herbstbrise fortsetzte. Die rote Kriegerin sträubte instinktiv das Fell, als ein süßlicher Geruch zu ihr wehte.
Vielleicht war diese Dämmerclan Katze Sturmblüte, wenn sie schon vom Heilen sprach! Vielleicht ermöglichte sich nun die Chance, sie zu töten!
Ein fassungsloses Keuchen ließ Herbstbrise erstarren. All ihre Glieder schienen aneinander festzufrieren,
als von weitem Hagelbruchs Ruf wieder zu ihr hinüberhallte. "Alles okay bei dir, Blaubeerfluss? Ich kann kommen, falls du in Schwierigkeiten steckst!"
Blaubeerfluss? "Blaubeerfluss!?" ,schluchzte Herbstbrise völlig entgeistert und drehte sich langsam zu ihrer Tochter um.
Der Mondstrahl schien durch ein hohes Fenster und ließ deren Fell in einem Blau erstrahlen, das an Saphire erinnerte.
Wunderschöne Saphire. So schön, wie sie Herbstbrise noch nie gesehen hatte. Trotz der unendlichen Schönheit, die in der jungen Kätzin steckte,
wirkte sie dennoch mager und erschöpft. Doch bei dem Anblick ihrer Mutter leuchteten ihre Augen so klar wie Diamande, die das Licht der Sonne reflektierten.
Ohne eine Sekunde zu verzögern, stürzte sie vor und rannte zu Herbstbrise, die noch völlig perplex an Ort und Stelle dastand.
Stocksteif, als bestünde sie aus Stein. "MUTTER!" ,krächzte Blaubeerfluss, "du bist gekommen! Oh ich hab dich so vermisst!"
Bei Herbstbrise angelangt schmiegte sie sich an sie und weinte leise in ihr Fell hinein.
"Die Zeit beim Dämmerclan war so schrecklich! Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du da bist! Ich dachte schon du würdest uns nie finden und... Ich hatte Angst.
Angst, mein komplettes Leben beim Dämmerclan verbringen zu müssen, Angst dich zu verlieren, Angst mich selbst zu verlieren!"
Herbstbrises Herz verkrampfte sich vor Mitleid. Sachte leckte sie ihrem Jungen das Fell glatt und schnurrte dabei leise, aber dennoch sicher:
"Hab keine Angst! Dass dies geschieht hätte ich nie zugelassen! Ich würde bis zu meinem letzten Atemzug dafür kämpfen, dich und Schwalbenstern zu retten!"
Blaubeerfluss schniefte nur. "Ach Herbstbrise, es ist so viel Schlimmes geschehen, ich... Ich weiß nicht ob ich das alles je verarbeiten kann!
Was hätte ich nur dafür gegeben, meine Kindeheit in Frieden beim Himmelclan vergehen zu lassen.
Und vor allem... Schwalbenstern ist jetzt Anführerin! Blutrünstig und grausam wie alle anderen Katzen!"
Herbstbrise schluckte schwer. "Wirklich?" ,fragte sie mit gedämpfter Stimme. "S-sie kann nichts dafür" ,erwiderte Blaubeerfluss schnell ,
"die Dämmerclan Katzen entschieden sich dafür, dass sie den Platz ihres Vaters einnahm. Schwalbenstern - damals noch Schwalbensturm -
weigerte sich mit aller Macht, doch dafür wurde sie hart bestraft: Ich, ja genau ICH war das Opfer, das für jede Weigerung bezahlen musste.
Der Dämmerclan sah mich nämlich als unnützer Schwächling und nahm mich einzig und allein als Waffe gegen Schwalbensturms Sturheit.
Nach jeder meiner Qualen, war Schwalbensturm untröstlich. Sie verletzte sich sogar selbst, weil sie sich als Grund für meine Wunden sah.
Mit der Zeit lernte sie aber dazu, gehorchte ihrem Clan trotz Widerwille und ging mir nach und nach aus dem Weg.
Sie wollte so tun, als bedeutete ich ihr nichts mehr, um mich zu schützen. Doch traurigerweise wurde sie während ich nichts mehr von ihr erfuhr mit Leid und Schmerz zu einer gnadenlosen Kämperin ausgebildet.
Als die Dämmerclan Katzen endlich ihr Ziel erreichten hatten und Schwalbensturm so traumatisiert war, dass sie ihren Schock in Bosheit umwandelte,
ernannten sie sie zu ihrer Anführerin. Sie verhimmelten Schwalbenstern förmlich, was sie aber nur dazu brachte, böser zu werden.
Während sie also verehrt wurde, war ich dazu verdammt, die Drecksarbeit zu erledigen. Und zwar Tag für Tag, Stunde um Stunde.
Fast ohne Pause. Wenn ich zusammenbrach, wurde ich verprügelt und selbst nach den schlimmsten Verletzungen gezwungen, weiter zu arbeiten.
Immerzu weiter. Fressen gab man mir auch nur selten." Blaubeerfluss machte eine Pause und lachte kurz kläglich auf.
"Tja und so viel brachte mir das Leben. Trotzdem wagte ich nie den Versuch, mich zu töten, weil ich selbst in den schlimmsten Zeiten die Hoffnung behielt,
du würdest mich finden und retten. Ich bin froh, dass ich an dich geglaubt habe."
Blaubeerfluss rang kurz nach Luft, bevor sie wieder in Tränen ausbrach. Herbstbrise spürte selbst, wie ihre Augen feucht wurden.
Trotzdem versuchte sie, Ruhe zu bewahren. Sie wollte ihre mitgenommene Tochter nicht noch mehr verängstigen.
Stattdessen glättete sie ihr zum wiederholten mal das Fell. "Schhhhh" ,murmelte sie zwischen den Zungenstrichen ,"alles wird gut, meine Kleine.
Ich werde dich von hier fortbringen, vertrau mir! Irgendwie schaffe ich das schon! Ich muss mir nur einen guten Fluchtplan überlegen u..."
Blaubeerfluss unterbrach sie mit einem Schwanzwedeln. Sie wischte sich kurz die letzten Tränen aus den Augen, bevor sie mit noch immer zittriger Stimme miaute:
"Das ist ja alles schön und gut, aber sag: Was ist mit dir passiert, während ich und Schwalbenstern weg waren?"
Herbstbrise schloss kurz die Augen, bevor sie ihr genauestens von ihrer Trauer im Clan, den Aufbruch in der Nacht, der Reise und dem Zusammenstoß mit Distelkralle und seiner Familie erzählte.
Sie ließ keinen Detail aus und hatte das Gefühl, sie würde ihr Herz vor ihren Kind ausschütten.
Als sie endlich fertig war, sah sie Blaubeerfluss mit großen Augen an. "Wie viel du für uns getan hast" ,bemerkte sie mit kaum hörbarer Stimme.
Herbstbrise stupste sie leicht mit der Schnauze an. "Wie schon gesagt: Ich würde ALLES für euch tun und das weißt du auch.
Jetzt lasst uns aber zu dem Plan kommen. Ich denke, wir sollten beide in der Nacht fliehen. Tagsüber wäre eine Flucht zu riskant."
Blaubeerfluss nickte sofort. "Sehe ich auch so. Die Frage bleibt nur: Wie sollen wir fliehen?
Für dich gibt es hier kein entkommen." Herbstbrise seufzte schwer und ließ den Blick um sich schweifen.
Schneller als gedacht hatte er sein Ziel gefunden. Herbstbrise richtete sich kerzengerade auf. "Durch das Loch in der Wand!?" ,schlug sie vor.
Entgeistert weiteten sich Blaubeerfluss' Augen. "Durch das Fenster? Bist du verrückt!?
Es befindet sich so weit oben - wir könnten nie im Leben zu ihm emporklettern! Außerdem besteht es aus Glas, das leider undurchdringlich ist.
Unter diesen Umständen wäre dieses Thema also abgehakt."
Herbstbrise ließ entmutigt die Schultern hängen.
"Stimmt" ,gab sie zu ,"aber ich habe ansonsten keine Idee, wie uns eine Flucht gelingen sollte. Du etwa?"
Blaubeerfluss überlegte kurz, dann aber schüttelte sie bedauernd den Kopf. "Leider nicht."
Herbstbrise unterdrückte ein verärgertes Fauchen. Würden sie jemals entkommen können? Bevor sie aber anfangen konnte, Trübsal zu schlagen,
tippte ihr Blaubeerfluss kurz gegen die Schulter. "Bist du alleine hier hergereist oder zusammen mit anderen Katzen?"
Diese Frage kam unerwartet. Stirnrunzelnd drehte Herbstbrise den Kopf zu ihrer Tochter um. "Zu zweit. Wieso?"
Aufregung leuchtete in Blaubeerfluss' Augen und klärte ihren niedergeschlagen Blick. "Wo genau befindet sich dein Begleiter?"
Herbstbrise wurde nun immer verwirrter. Sie beschrieb kurz den Weg, der zu Mondstrahl führte und legte dann den Kopf schief.
"So und jetzt? Was hat dir dieser Hinweis gebracht?" Blaubeerfluss schien vor lauter Erregung nun fast zu exprodieren.
Sie tibbelte aufgeregt und nervös zu gleich im Kreis und murmelte währendessen: "Ich werde bei der nächstbesten Jagdgelegenheit
nach Mondstrahl Ausschau halten, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Natürlich werde ich ihr erzählen, was mit dir geschehen ist.
Vielleicht fällt ihr ja ein geeigneter Fluchtplan ein." Ein Seufzer entwich Herbstbrise. "Na hoffentlich. Und ich suche bis dahin ebenfalls nach einen Weg,
der uns nach draußen führt." Blaubeerfluss' Blick wurde weich. "Darauf verlasse ich mich" ,schnurrte sie.
Mit diesen Worten nahm sie sorgfältig die Kräuterblätter ins Maul und zerkaute sie zu einem Brei, den sie anschließend auf die Wunden ihrer Mutter auftrug.
Währenddessen herrschte Schweigen, bis die dickflüssige Masse sicher auf Herbstbrises Pelz haftete.
Blaubeerfluss ergriff als erstes wieder das Wort. "Ich muss jetzt gehen" ,murmelte sie ,"die anderen werden sich schon fragen, was ich so lange bei dir gemacht habe."
Trauer überflutete Herbstbrise. Sie wollte ihr Junges nur ungerne bei diesem grausamen Clan alleine lassen, ihr blieb aber keine Wahl.
Noch gefährlicher wäre es für sie beide, wenn Blaubeerfluss bei ihr blieb. Denn dann könnten die Dämmerclan Katzen vielleicht begreifen,
dass sie Herbstbrises Tochter war, was ihnen natürlich ganz und gar nicht gefallen würde.
Demzufolge ließ Herbstbrise Blaubeerfluss gehen und sah ihr mit verschleiertem Blick hinterher.
Nun herrschte eine finstere Stille. Auf einmal spürte Herbstbrise auch wieder die Kälte um sich herum, die ihr Fell kribbeln ließ.
Fröstelnd drängte sich die rote Kätzin an die Wand und rollte sich zu einem winzigen Ball zusammen.
In dieser Position ließ sie dann die Kälte über sich ergehen und schlief nach und nach ein.
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