Kapitel 79

Eine säuselnde Stimme drang in Herbstbrises Ohren. Die Worte, welche sie murmelte, waren kaum verständlich und schienen aus weiter Ferne zu kommen.

Vor Verwirrung blinzelnd schlug Herbstbrise die Augen auf. Ihr Sichtfeld war verschwommen, als bestünde es aus Wasser.

Trotzdem konnte sie die zierlichen Gesichtszüge von Mondstrahl erkennen, die sich über sie gebeugt hatte.

Ihre hellblauen Augen strahlten Sorge aus. Mit gerunzelter Stirn wandte Herbstbrise den Blick von ihr ab und ließ ihn stattdessen über die Umgebung schweifen.

All das Land um sie herum bestand ausschließlich aus Grün- und Grautönen.

Herbstbrises Verwirrung wuchs allmählich. Und mit ihr stieg Panik in der rotgoldenen Kriegerin auf.

"Wo bin ich?", keuchte sie entsetzt. Mondstrahl legte ihr beschwichtigend den Schwanz auf die Schulter.

"Keine Sorge", flüsterte sie, "du bist in Sicherheit - du und das Junge. Jetzt wird alles gut."

Wie auf einen Schlag erwachten alle Erinnerungen an den gestrigen Tag in Herbstbrise

und ließen ihr Herz für eine Sekunde lang stillstehen. "Geht es ihm gut?", wollte sie wissen, diesmal hellwach.

Mondstrahl erhob sich gähnend. "Nun, ich hoffe es. Ich habe der Kleinen ordentlich den Bauch massiert und sie eine Weile lang gewärmt.

Bestimmt wird man ihr spätestens heute Abend die erste Besserung ansehen." Herbstbrise nickte.

"Gut." Mit besserem Gefühl im Magen setzte sie sich aufrecht hin. Das Dasein ihrer Freundin weckte Neugier in ihr.

"Wo warst du während ich das Junge gerettet habe und wie hast du uns gefunden?"

Diese Frage brachte Mondstrahl erneut zum Gähnen. Die cremeweiße Kätzin machte es sich nach einem ausgiebigen Strecken auf dem Gras bequem

und murmelte: "Das ist eine lange Geschichte, aber ich kann sie dir meinetwegen erzählen."

Sie wartete auf eine Antwort. Herbstbrise neigte den Kopf, um sich als einverstanden zu erklären.

Erst dann nahm Mondstrahl wieder das Wort auf. "Schön. Als du ohne Abmachung in den Fluss gesprungen bist, war ich zuerst ziemlich irritiert.

Ich bin dir lange mit dem Blick gefolgt, während du im Wasser warst, um mich zu versichern, dass es dir gut ging.

Als du dann plötzlich in den tiefschwarzen Wellen verschwunden bist, bekam ich Panik und stürzte mich ohne zu zögern ins eiskalte Flusswasser.

Tja, sowas nennt man einen Fehler, denn dort in der stürmischen Flut gefangen gibt es wohl ziemlich viele Varianten zu sterben.

Ich weiß nicht mit welcher Kraft ich überlebt habe, aber das ist mir momentan auch egal. Als ich jedenfalls sah, wie dein Kopf wieder auftauchte,

versuchte ich zurück ans Festland zu gelangen. Dies schaffte ich auch. Allerdings nur mit größtem Kraftaufwand

und mehr Glück als es sich eine Katze nur vorstellen kann.
Ich rief mehrmals nach dir, doch du schienst mich nicht zu hören,

was aber auch mehr als verständlich bei diesem schüttenden Regen war, wie wir ihn erleben mussten.

Da du mich nicht bemerkt hast, bist von mir weggeschwommen, also blieb mir keine Wahl als die, dir zu folgen.

Doch beim Moor angekommen gab sich das nächste Problem bekannt: Der Schlammgeruch.

Er ist einfach ätzend stark und überdeckt jegliche anderen Düfte. Damit natürlich auch deinen.

Ich verlor so langsam deine Fährte. Sehen konnte ich dich auch nicht, da das Moor so unendlich groß ist und du dich nicht innerhalb meines Blickfeldes befandest.

Deshalb fing ich an, dich zu suchen. Und dann die Überraschung: Du lagst lebendig an Land, mit der kleinen Kätzin an deiner Seite.

Ganz ehrlich, Herbstbrise: Auch wenn ich anfangs ein wenig genervt war, weil du wortlos davongeschwommen bist

und ich aufgrund dessen die ganze Zeit damit beschäftigt war, dir wie ein Hund hinterherzurennen,

bin ich dennoch stolz auf dich. Denn du hast es geschafft, dem Jungen das Leben zu retten, unter  welchen Umständen auch immer."

Herbstbrise schnurrte: "Aber ohne deine Heilkräfte, die du sogar als Kriegerin besitzt, könnte es nie überleben.

Also sei stolz auf dich selbst!" 
Mondstrahl schnaubte nur. Dann aber legte sie den Kopf schief. "So, jetzt habe ich die Rettung im Sturm aus meiner Sicht erzählt

und jetzt bist du mit deiner dran."
Herbstbrise nickte und schilderte ihr, wie sie mehrmals untergegangen war,

selbst mit letzter Kraft noch nach der schwarzen Katze gesucht und sie schließlich halb verborgen unter einem Grasbüschel gefunden hatte.

Mondstrahl stellte keine Fragen, sondern hörte ihr nur aufmerksam zu, ganz so, wie es sich gehörte.

Als Herbstbrise endlich schwieg, lächelte sie leicht. "Soll ich dich von nun an 'Heldin' nennen?"

Herbstbrise schmunzelte. "Nur zu! Allerdings habe ich einzig und allein auf das Gesetz der Krieger gehört.

'Ein Krieger darf ein Junges in Not oder Gefahr niemals im Stich lassen, selbst wenn es Teil eines feindlichen Clans ist.'

Erinnerst du dich?" Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Mondstrahl empört das Fell aufstellte.

"NATÜRLICH tue ich das!" Herbstbrise verkniff sich ein Grinsen. Sie hatte nicht vorgehabt, Mondstrahls Stolz zu verletzen.

Doch ein freundliches Schwanzwedeln reichte aus, um ihre verstimmte Freundin wieder zu beruhigen.

"Ich würde mir gerne das Junge ansehen", murmelte sie, "wo ist es?" Mondstrahl rappelte sich augenblicklich auf und half Herbstbrise hoch.

Dann trabte sie einen leichten Hügel empor, der von langem, saftigen Gras zusammen mit kirschroten Mohnblumen bewuchert war.

Herbstbrise genoss den Anblick der schönen Blütenblätter und der zahlreichen roten Knospen um sie herum.

Dann beschleunigte sie ihr Tempo, bis sie zu Mondstrahl aufgeholt hatte und versuchte angestrengt, mit ihr Schritt zu halten.

Doch die Zügigkeit lohnte sich: Schon nach kürzester Zeit blieb Mondstrahl stehen, um Herbstbrise anschließend in eine kleine Erdhöhle zu führen.

In ihr war der Boden staubtrocken. Er konnte wohl nicht viel Regen abbekommen haben.

Herbstbrise schnaufte zufrieden. Je dürrer unser Unterschlupf ist, desto besser wird er für das durchnässte Junge sein.

Feuchtigkeit ist so ziemlich das Letzte, was es gebrauchen kann. Ein Schwanzwinken von Mondstrahl ließ sie bemerken,

dass sie stehen geblieben war. Schnell riss Herbstbrise ihren Blick von der Höhlenwand los und folgte ihrer Freundin ins Dunkle hinein.

Ihr war mulmig zumute bei der Tatsache, dass sie nichts mehr sehen, sondern nur ihren rasselnden Atem spüren und ihre klopfenden Schritte hören konnte.

Ob ich so eine kommende Gefahr bemerken kann, weiß allein der Sternenclan. Doch diese Erkenntnis brachte sie nur dazu,

noch schneller zu laufen. Endlich machte Mondstrahl Halt und schritt zu einem kleinen Moosnest.

In ihm lag die zierliche Gestalt einer Kätzin. Sie hatte langes, krähenschwarzes Fell und war außergewöhnlich winzig.

Besorgt beugte sich Herbstbrise über sie, um ihre Atmung zu untersuchen. Die Kätzin sah nämlich so aus,

als würde sie aufgrund ihrer Schwäche kaum einen Mond lang überleben. Doch zu ihrer Überraschung kam der Atem der Kleinen relativ regelmäßig.

Herbstbrise richtete ihre grünen Augen wieder auf Mondstrahl. "Hat sie Wasser geschluckt?"

Mondstrahl trat neben sie und ließ den bekümmerten Blick eine Weile lang schweigend über das Junge gleiten,

bevor sie antwortete. "Ja, das hat sie, aber ich denke das nichts davon in ihre Lunge gelangt ist.

Sie hat wie du siehst nämlich keine Probleme beim Atmen. Ich habe vorsichtig ihr Maul geöffnet, mehr aber auch wieder nicht.

Ich denke Weiteres hätte ich nicht für sie tun können. Wir müssen einfach abwarten und hoffen dass es ihr gut geht."

Herbstbrise nickte. Sorge nagte an ihrem Herz. Was wenn das Katzenjunge starb? Wäre ihre Rettung im Fluss dann sinnlos gewesen?

Vielleicht hatte sie sich und Mondstrahl umsonst in Gefahr gebracht... Auf einmal lenkte etwas ganz Neues ihre Aufmerksamkeit auf sich:

Die kleine Kätzin hatte tatsächlich ihre gläsernen Augen geöffnet und hauchte mit zittriger Stimme:

"Wie konntest du nur, Mutter? Warum hast du bloß auf Schwalbenstern gehört und mir das angetan?"

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