Kapitel 77

Das Gedonner eines Monsters schreckte Herbstbrise aus ihrem kurzen Dämmerschlaf.

Mit angelegten Ohren sprang sie hoch und ließ sich seufzend wieder zu Boden plumpsen,

als sie erkannte, dass keine Gefahr auf sie lauerte. Das Monster musste an ihr vorbeigerannt sein.

Herbstbrise ließ ihren trüben Blick über die Umgebung schweifen. Sie wirkte kalt und farblos wie immer.

Das saftige Grün der Wiesen und das leuchtende Blau des Himmels fehlten ihr mehr, als es ihr Herz zu ließ.

Zu lange befand sie sich schon in dem endlosen Nichts aus kalten, steinernen Wänden, brüllenden Biestern

und lärmenden Zweibeinern, deren Geruch die Luft verpestete. Herbstbrise seufzte abermals.

Ihr Inneres musste sich wohl an die Umgebung angepasst haben. Es fühlte sich nämlich genauso leer an, wie sie.

Herbstbrises Pelz, der einst in gold-orange Tönen prächtig geleuchtet hatte, wirkte nun matt und glanzlos.

Wie viele Monde mögen wohl vergangen sein, seit ich mich bei den Zweibeinern befinde? Wenn ich das nur wüsste...

Jeder Tag war derselbe: Er zog sich genauso lange dahin wie alle anderen und bestand aus Reisen, sich verstecken vor den Zweibeinern,

Schutz suchen beim nächstbesten Krähenort und aus dessen Abfall Nahrung suchen, um sich anschließend unter dreckigen Steinbehältern schlafen zu legen,

die nach fauligem Zweibeinerfutter stanken. Herbstbrise schüttelte sich, um den üblen Geruch ihres Umfelds,

der sich mittlerweile auf sie übertragen hatte, loszuwerden. Wie halten Streuner ein Leben hier aus?,

fragte sie sich angewidert, lieber würde ich sterben, als mich an diesem Ort niederzulassen.

Nach einer Weile schweigendem Wache halten kroch Mondstrahl endlich verschlafen blinzelnd aus dem Versteck.

Sie sah mindestens doppelt so müde aus, wie sich Herbstbrise fühlte. Ihr Fell war zerzaust und ihre blauen Augen wässrig.

"Kannst du Mäuse wittern?", gähnte sie, "ich nämlich nicht." Herbstbrise schnüffelte kurz, allerdings zu ihrer Enttäuschung.

Nicht der kleinste Hauch von jeglicher Beute war zu vernehmen. Wie erbärmlich rar hier die Nahrung ist.

Wie soll eine Katze mit so wenig Fressen, welches die Stadt zu bieten hat, über die Runden kommen?

Herbstbrise warf Mondstrahl einen kläglichen Blick zu. "Es tut mir leid, aber ich rieche nichts als Abgase und Zweibeinermüll."

Mondstrahl sah so aus, als würde sie am liebsten losheulen. Das war aber auch wirklich verständlich: Ihre Rippen stachen förmlich unter ihrem Pelz hervor.

Auch Herbstbrise selbst war alles andere als wohlgenährt. Ihr Körper bestand gefühlt nur noch aus Knochen.

Jegliches Fett an ihm fehlte. Es war zwar nicht üblich, dass Krieger Nahrung im Überfluss hatten,

aber sie konnten sich wenigstens so gut ernähren, dass sie genügend Kraft und Energie für den ganzen Tag hatten.

Nun aber war sich Herbstbrise nicht einmal sicher, ob ihre jetzige Energiemenge für wenigstens ein paar Stunden wandern ausreichen würde.

Stöhnend rappelte sie sich auf. Ich sollte wenigstens versuchen, so lange wie möglich auf den Beinen zu bleiben.

Meinetwegen kann ich auch so lange laufen, bis ich zusammenbreche. Dann bin ich zumindest ein Stück vorangekommen.

Und wieder entwich ihr ein verzweifeltes Stöhnen. Sie wusste nämlich nicht einmal, wie weit entfernt sie von ihren Jungen war.

Vielleicht befanden sie sich hinter der nächsten Ecke und warteten von dort aus brav auf sie,

es konnte aber auch sein, dass Herbstbrise noch Tage, Monde, Jahre... lang nach ihnen suchen musste.

Vielleicht auch bis zu ihrem Lebensende. Und wenn das geschehen würde, dann hätte sie völlig versagt.

Dann hätte ich nämlich weder meinen Töchtern, noch dem Himmelclan eine Spur weitergeholfen.

Ach ja - Salbeiherz hätte ich fast vergessen. Er hätte von meiner ewig langen Reise mit dem traurigen Ende zwar auch nicht viel,

aber so ist das Leben nun mal. Ich sollte mich wohl daran gewöhnen und fest glauben, dass alles noch schlimmer wird, als es eh schon ist.

Würde mich sowieso nicht unglücklicher machen, als ich schon bin. Denn das ist unmöglich.

Bitterkeit überschwemmte das letzte Funkeln ihrer giftgrünen Augen. Herbstbrise brodelte vor Zorn.

Sie verstand immer noch nicht, warum der Sternenclan ihr von Geburt an so zürnte,

dass sie dieses Schicksal über sich ergehen lassen musste. Mein Schicksal. Aber jeglicher Widerstand,

gegen die eisigen Geisterklauen, die sie in jede Falle zogen, war zwecklos.

Schweigend setzten Herbstbrise und Mondstrahl ihren Weg durch den Zweibeinerort fort.

Sie wussten nicht wohin sie liefen. Hauptsache sie befanden sich in der Stadt und erkundeten neue Orte.

Und ganz vielleicht verbarg sich irgendwo inmitten der zahlreichen Baue auch einer, der von dem Dämmerclan bewohnt wurde.

Doch Herbstbrise würde ihn nur mit sehr viel Glück finden und ob sie das von ihren Vorfahren bekam... da war sie sich alles andere als sicher.

Die Pfade wimmelten vor lauter Zweibeinern! Sie befanden sich einfach überall. So weit das Auge reichte.

Und sie liefen Herbstbrise und Mondstrahl andauernd vor die Pfoten. Egal wohin die beiden Kätzinnen traten,

immer mussten sie über ihre lästigen Beine stolpern. Eine positive Auswirkung hatten die von ihnen betretenen Wege aber schon:

Auf ihnen bewegten sich keine Monster fort. Die Pfoten der Zweibeiner kitzelten zwar an Herbstbrises Nerven,

dennoch fügten sie keiner Katze Leid zu. Es gab sogar ein Weibchen, welches Mondstrahl und Herbstbrise Hauskätzchenfutter brachte,

was die beiden Freundinnen zwar ekelte, ihnen aber dennoch neue Kraft verlieh. Frisch gestärkt,

wanderten Herbstbrise und Mondstrahl also weiter. Sie redeten während dem Laufen nur wenig miteinander,

da sie viel mehr mit dem Ausweichen vor Zweibeinerbeinen als mit dem Sprechen beschäftigt waren.

Trotzdem mussten sie ab und zu ein paar wichtige Worte wechseln, zum Beispiel über den Weg.

Im Verlauf des Tages fing es an zu regnen. Herbstbrise fauchte, als ihr der erste Tropfen ins Gesicht klatschte.

Auch das noch! Na besten Dank. Das ist genau das was ich brauche! Mondstrahl schien genauso wenig begeistert,

denn sie blieb nach jedem zweiten Schritt stehen, um sich das Fell trockenzuschütteln.

Herbstbrise konnte ihre Wut nun nicht länger unterdrücken. "Denkst du wir kommen mit dieser Geschwindigkeit weiter voran?",

blaffte sie ,"wenn ja, dann weiß ich nicht, welche Art Zweibeiner dir das Gehirn aufgefressen hat!? Wir müssen uns beeilen, okay?

Und mit beeilen meine ich nicht, ständig anhalten! Damit braucht man ja mindestens einen Mond um die tägliche Strecke einer gesunden Katze zurückzulegen!"

Mondstrahls Augen blitzten kurz beleidigt auf, dann aber verschärfte sie wortlos ihr Tempo. Herbstbrise beruhigte sich wieder.

Es war nicht ihr Ziel gewesen mit ihrer cremefarbenen Freundin einen Streit anzufangen,

doch die Lebensweise auf dem Zweibeinerort machte sie wahnsinnig und raubte ihr manchmal die Beherrschung.

Also trotteten die zwei Kätzinnen weiter. Immerzu in dieselbe Richtung. Sie konnten ja nicht wissen, wohin sie die Pfade führten,

von dem her war jede Richtung für sie gleich: Jeder Weg führte sie nur wie alle anderen über die zahlreichen Pfade der Zweibeiner,

ohne Ende und auch ohne jeglichen Schutz. Mit der Zeit wurde der Regen stärker. Er klatschte förmlich wie Schlamm auf Herbstbrise und Mondstrahl hinab.

Trotzdem hatte er eine vorteilhafte Wirkung auf die beiden Kriegerinnen: Katzen waren scheinbar nicht die einzigen Lebewesen,

die Wasser verabscheuten, denn die Zweibeiner zogen sich allmählich in ihre Baue zurück, wodurch die Straßen immer leerer wurden.

Und somit wurde für Herbstbrise und Mondstrahl das Laufen leichter - für eine Weile zumindest.

Sie kamen nun besser voran, bis schlussendlich auch noch ein Sturm aufzog und den peitschenden Regen begleitete.

Wasser und Wind vereint ließen Gegenstände zusammenkrachen und überschwemmten die Pfade.

Der Wind zerrte wie Klauen an Herbstbrises Pelz und schleuderte sie von einer Ecke zur anderen.

Übergroße Tropfen wehten ihr in die Augen und machten ihr das Sehen schwer.

Doch damit nicht genug: Urplötzlich fiel von oben ein Gefäß herab und krachte auf Herbstbrise nieder.

Diese jaulte erschrocken auf, als das steinharte Etwas auf ihren Rücken schlug und dabei zerbrach.

Herbstbrise war, als würden von überall her Krallen auf sie einstechen, es waren jedoch keine fremden Katzen in Sicht.

Die Stiche mussten also von diesem durchsichtigen Behälter stammen. Und Tatsache - als Herbstbrises Blick auf den Boden fiel,

spiegelte sich im Wasser ihr Bild wieder. Es zeigte auf ihrem Rücken winzige Splitter, deren Ränder spitze Kanten besaßen.

Sie also hatten Herbstbrise Schmerzen zugefügt. Doch diese Erkenntnis half ihr im Moment nicht weiter.

Sie musste schleunigst einen regenundurchlässigen Unterschlupf suchen,

um sich somit vor dem tobendenen Wind und den reißenden Wellen der überfluteten Straße retten.

Also setzte sie halb laufend, halb schwimmend ihren Weg durch die Stadt fort, in der Hoffnung auf ein passendes Versteck.

Mondstrahl stiefelte fauchend hinter ihr her, das Wasser klebte nur so an ihrem Fell. Man merkte an ihrem Gang,

dass ihr das Laufen durch die Überschwemmung nicht leichtfiel. Herbstbrise ging es leider kein Stück besser.

Sie musste sich mit aller Kraft gegen die heftigen Windwehen stellen,

um nicht von ihnen umgeworfen zu werden und gleichzeitg auch noch aufpassen,

dass ihr die Fluten des Wassers nicht den Halt nahmen. Doch sie hatte Glück und kam mit Mondstrahl langsam voran.

Nach einer Weile des Ankämpfens  gegen den Sturm, tat sich vor ihnen eine kleine Wiese auf.

Sie war zwar von vielen Zweibeinerbauen umschlossen, sah aber wenigstens nach ein bisschen Freiheit aus.

Herbstbrises Erleichterung wuchs, als sie inmitten der Wiese Bäume entdeckte. Erleichtert aufatmend,

bedeutete sie Mondstrahl, ihr zu folgen und raste auf eine riesige Buche zu. Ihr grüner Blick war fest auf ihren Zielort gerichtet,

während sie sich ihm stetig näherte. Doch als sie ihm schon so nahe war, dass sie die Krallen ausfuhr, um sie wenige Sekunden später in den Stamm zu schlagen,

ertönte ein schwaches Wimmern. Herbstbrise blieb mit schlitternden Pfoten stehen und wirbelte augenblicklich zu der Richtung herum,

aus der der Laut kam. Von dort aus gesehen, befand sich vor ihr ein Fluss, der durch die Wiese plätscherte.

Ein Seufzen - hoch und schwach. Es kam aus dem Wasser. Ohne zu zögern raste Herbstbrise flussaufwärts, wodurch die zaghafte Stimme lauter wurde.

Sie starrte angestrengt auf die dunklen, tosenden Wellen, in der Hoffnung herauszufinden, ob ihnen eine Katze hilflos ausgesetzt war.

Mit dieser Vermutung lag sie richtig: Im Flusswasser war gerade so ein winziger, schwarzer Fellbündel auszumachen,

der vollkommen schlaff von der Strömung hin und hergeworfen wurde. Alle Instinkte erwachten in Herbstbrise.

Sie fuhr herum und schrie Mondstrahl zu: "Komm her! Da ist ein Junges in Not!"

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