Kapitel 74
Herbstbrise schluckte, als sie vor den tiefen Abgrund trat, der sich vor ihr auftat. Sie hätte nie ahnen können,
dass sich die Suche ihrer Jungen als so schwer erweisen würde. Aber nun ist es so gekommen, dachte sie mutlos.
Zähneklappernd setzte sie eine Pfote auf die oberste Lücke des kantigen Felsens, dann die zweite. Nun hing sie taumelnd am Fels,
die Krallen ihrer Vorderpfoten in die Spalten des harten Gesteins gegraben. Doch ihre Hinterläufe befanden sich noch auf der Oberseite
der Felswand, wodurch ihr Körper eine verbogene Haltung annahm. Angestrengt versuchte Herbstbrise mit den Krallen ihrer rechten Hinterpfote
die senkrechte Seite des Felsens zu erreichen. Doch dabei verlor sie das Gleichgewicht und beide hinteren Beine rutschten ruckartig aus und baumelten hilflos in der Luft.
Herbstbrise jaulte erschrocken auf, krallte sich noch stärker mit den Vorderpfoten fest
und versuchte erneut, mit den Hinterläufen zu der Felswand zu gelangen. Doch das kostete sie enorm viel Kraft,
denn da sie nur noch ihre vorderen Pfoten vor den Fall in den sicheren Tod hinderten,
musste sie allein mit ihnen ihr komplettes Körpergewicht halten. Zitternd vor Anstrengung kämpfte sie ihre Beine nach vorne und prallte mit den Krallen am Fels ab.
Angst überflutete sie, als ihre Pfoten von dem Prall wieder zurückgeworfen wurden.
Also hing sie keuchend und kraftlos da - mit schlitternden Krallen über den tiefsten Abgrund, den sie je gesehen hatte.
Sie war kurz davor, abzustürzen - in das endlose Nichts des Todes.
Doch bevor es dazu kam, spürte sie Zähne an ihrem Nackenfell, die sie kraftvoll hochhievten. Ein zweiter Kiefer schloss sich um ihre Haut
und packte mit an. Zusammen zogen sie die beiden Katzen über den gefährlichen Klippenrand
und legten sie sanft im Gras ab. Herbstbrise öffnete langsam die Augen, als ihr bewusst wurde, dass sich wieder Boden unter ihr befand.
Blinzelnd gegen das grelle Licht des Sonnenscheins hob sie den Kopf, um nachzusehen, wer sie gerettet hatte.
Zwei Köpfe warfen ihre Schatten auf sie - ein grauer und ein weißer. Sofort erkannte Herbstbrise, dass sie Salbeiherz und Düsterfrost gehörten.
Sie ließ ihren sanften Blick auf den Beiden ruhen und schnurrte mit bebender Stimme: "Ich danke euch.
Wieder habt ihr mich gerettet." Damit stemmte sie sich auf wackeligen Beinen hoch und schleppte sich erneut zum Felsrand.
Sie sah aus den Augenwinkeln, dass Finkenblatt Mondstrahl an einen Busch gedrängt hatte und ihr von dort aus den Weg versperrte.
Doch Mondstrahl, stemmte sich mit aller Kraft gegen sie, Tränen glänzten in ihren Augen. Verwundert trat Herbstbrise einen Schritt vom Klippenrand zurück.
Ihre Freundin weinte und kratzte mit kläglichen Schreien wie wild um sich. "Lass mich zu ihr!" , kreischte sie und bäumte sich auf,
"vielleicht ist sie deinetwegen TOT!!!" Herbstbrise wechselte einen entsetzten Blick mit Salbeiherz, als sie merkte, dass ihre Freundin von ihr sprach.
Eilig rannte sie zu ihr, drängte Finkenblatt zur Seite und presste die Schnauze in das cremeweiße Fell der trauernden Kätzin.
"Ich bin noch am Leben", schnaufte sie ," mir geht's gut!" Endlich schaute Monstrahl auf. Ihre tränendurchnässten Augen weiteten sich überrascht.
Eine Weile lang brachte sie keinen Ton hervor, vor lauter Fassungslosigkeit. Dann aber schniefte sie: "Ich dachte du wärst tot, Herbstbrise.
Du hingst nur noch mit den Krallen am Klippenrand und sahst so aus, als würde dir die Kraft fehlen, dich lange zu halten.
Ich meinte, meine schlimmsten Befürchtungen würden wahr werden: Du würdest die Schlucht hinabstürzen und weder deine Jungen,
noch der Himmelclan oder ich würden dich je wieder sehen." Herbstbrise schüttelte mit einem bekümmerten Lächeln den Kopf.
Ihr fehlten die Worte auf eine Erwiderung. Sie musste sich selbst erst von ihrem Schock erholen, bevor sie die Kraft hatte,
noch eine andere Katze zu beruhigen. Aber zum Erholen bleibt mir keine Zeit, mahnte sie sich, ich muss dringend weiter.
Also stemmte sie sich erschöpft auf die Pfoten und schlurfte zurück zur Klippe. Sämtliche Kraft, schien ihr aus den Gliedern gewichen zu sein.
Trotzdem verlor sie nicht den Mut, sich wieder in dieselbe Gefahr von vorhin zu stürzen, auch wenn sie ihr fast das Leben geraubt hatte.
Herbstbrise schüttelte ihren überhitzten Kopf, um all diese Angst, die ihr das Atmen schwermachte, loszuwerden.
"Ich habe schon so vieles erlebt",murmelte sie zu sich selbst, "und ich bin bei all meinen Erlebnissen lebendig davongekommen.
Warum sollte ich dann ausgerechnet heute sterben? Vor allem, wenn ich meinem Ziel, meine Jungen zu finden,
schon so nahe bin? Das würde der Sternenclan nie zulassen!" Doch sie war drauf und dran, an ihren eigenen Worten zu zweifeln.
Wenn der Sternenclan mir nichts Böses will, dann hätte er so einiges nicht zugelassen, dachte sie bitter.
Dann aber raffte sie sich. Mag der Sternenclan doch machen, was er will! Ich muss nun mal zu meinen Töchtern.
Ob es ihm gefällt oder nicht sei Nebensache! Sie hob kühn den Kopf, starrte mit zornverengten Augen zum Himmel hinauf
und forderte ihn lautlos heraus: Na, was werdet ihr diesmal anstellen, meine heiligen Kriegervorfahren?!
Mit einem letzten Fauchen fuhr sie herum und kletterte rückwärts nach unten. Sie schlug die Krallen ihrer kräftigen Hinterbeine in die Felswand
und trat mit ihnen ein paar Schritte nach hinten. Dann bohrte sie ihre spitzen Vorderpfotenkrallen ebenfalls in die senkrechte Seite des Felsens
und kletterte Stück für Stück abwärts. Ihre Krallen hafteten erbärmlich schlecht an den Felsspalten und ließen sie mehr als nur einmal straucheln.
Aber mit der Zeit entdeckte Herbstbrise eine sichere Lauftaktik und fand nach jedem Ausrutscher sofort wieder halt,
indem sie den Körper gegen die Felsseite kippte, sich dagegenstemmte und die luftbaumelnde Pfote wieder an die Schluchtwand krallte.
Als sie schon ein gutes Stück vorangekommen war, erlaubte sie sich einen Blick nach oben und sah,
dass Finkenblatt ihr auf sicheren Beinen hinterherkraxelte, während Düsterfrost und Salbeiherz sich neben Mondstrahl befanden
und ihr zeigten, wo sie ihre Pfoten hinsetzen konnte. Der cremefarbene Kriegerin zwischen ihnen aber stand blanke Furcht in den Augen
und sie machte jeden Schritt zögernd, unentschlossen und mit ein Schwall voll dutzender Fragen.
Herbstbrise fühlte sich so sehr in Mondstrahl ein, dass sie gar nicht mitbekam, wie ihre Krallen allmählich von der winzigen Felslücke abrutschten.
Erst als sie den Halt verlor, fuhr sie entsetzt herum, ihre weit aufgerissene Augen auf die Pfoten geheftet.
Sie rutschten urplötzlich ab, als bestände der Fels aus glitschigem Gestein. Staub und Steinbrocken regneten auf den weit entfernten Boden hinab.
Herbstbrises Körper war nun komplett an die Klippenwand gepresst. Halb hing sie, halb lag sie auf dem rutschigen Fels.
Die Krallen ihrer müden Vorderpfoten waren der einzige Schutz, der einen Sturz verhinderte. Sie waren allerdings zu schwach, um ihren Körper so zu heben,
dass die Hinterläufe wieder die Felswand erreichen konnten. Das Schlimmste kam aber noch: Nun lösten lösten sich auch noch ihre Krallen.
Herbstbrise schrie auf, als sie sah, wie sich eine gähnende Leere unter ihr auftat und sie den Wind an sich vorbeizischen spürte.
Sie fiel. Ihre schlimmsten Ängste wurden wahr: Sie würde nun sterben und ihre Jungen und den Himmelclan nie wiedersehen,
ganz so, wie es Mondstrahl befürchtet hatte. Herbstbrise schloss die Augen. Der Fall kam ihr endlos lange vor.
Warum konnte sie nicht schneller am Boden ankommen, dort abprallen und tödlich getroffen niedersinken.
Sie würde ja ohnehin sterben. Sei es nun später oder jetzt. Doch bevor es dazu kam, wurde sie vom Wind zurück gegen die Schluchtwand geworfen.
Allerdings geschah dies sanft und verursachte nur wenig Schmerz. Langsam öffnete Herbstbrise wieder die Augen.
Der raue Fels schleifte wie Schmirgelpapier an ihrem Pelz, als sie an ihn gepresst weiterkullerte.
Die Schlucht musste abgeflacht sein, denn nun war sie so eben, dass sich Herbstbrise mehr auf ihr,
als neben ihr befand. Neue Entschlossenheit packte sie und sie fuhr die Krallen aus und bohrte sie in die Felswand.
Sie hinterließen lange Kratzer in dem harten Stein. Nach einer Weile spürte Herbstbrise, wie sie allmählich abbremste.
Als sie dann endlich zum Stehen gekommen war, starrte sie staunend nach oben. Die höchste Stelle der Klippe war kerzengerade in den Himmel gerichtet.
Sie war ellenlang. Aber irgendwann wurde die Klippe flacher und endete nur noch ein paar Schwanzlängen unter Herbstbrise vollständig.
Die rote Kriegerin riss ungläubig Augen auf, als sie sah, was vor ihr lag: Riesige Zweibeinerbaue türmten sich bis weiter als das Auge reichte in den Himmel auf.
Sie waren beeindruckend und furchteinflößend zugleich. Dicht dahinter waren schongleich die nächsten Nester zu sehen
und hinter ihnen noch weitere - man könnte meinen, der Zweibeinerort bestände aus einer Reihe an gigantisch großen Bauen,
die niemals enden wollten. Frische Energie schoss durch Herbstbrises Körper. Sie kletterte schnell die letzten paar Schritte zum Boden hinab
und sah sich ehrfürchtig um. Ihr Magen rumorte vor Unbehagen. Zweibeinerstimmen hallten schrill
von überall her zu ihr und hinterließen in ihrem Ohr ein leises Pfeifen. Auf den vielen Donnerwegen rasten Monster von Ecke zu Ecke.
Nach einer Weile lang Staunen, hörte Herbstbrise eine leise Stimme über sich, die ihren Namen rief.
Sie gehörte Düsterfrost.
Der helle Kater war weit über ihr gerade so auszumachen.
Neben ihm waren auch Mondstrahls, Salbeiherz und Finkenblatts Gestalten zu erkennen.
Herbstbrise seufzte erleichtert, als sie erkannte, dass bisher noch keiner von ihren Freunden gestürzt war.
Sie winkte ihnen mit dem Schwanz zu, als Zeichen, dass sie sie sah. Sie setzte sich aufrecht hin,
den Schwanz um die Pfoten gelegt und beobachtete ihre Reisegefährten. Diese ließen lange auf sich warten.
Nach einer Zeit, die Herbstbrise wie Blattwechsel vorkam, konnte sie deutlich die Konturen ihrer Gesichter ausmachen.
Sie mussten ihr schon ein ziemlich großes Stück näher gekommen sein. Finkenblatt kletterte zügig die letzten paar Meter hinunter,
während Salbeiherz und Düsterfrost Mondstrahl um rutschige Steine herumführten.
Mondstrahl humpelte stark. Ihre Beine schienen sie stark beim Laufen zu behindern,
denn die cremefarbene Kätzin schwankte dank ihnen mehrmals und fand nur mit Mühe das Gleichgewicht wieder.
Doch als sie sich gerade an einem Felsspalt festkrallen wollte, brach das Gestein unter ihr
und sie fiel kreischend in die Tiefe. Herbstbrise keuchte erschrocken auf, wollte zu ihrer Freundin rennen,
um sie abzufangen, doch bevor sie auch nur blinzeln konnte, warf Salbeiherz Finkenblatt und Düsterfrost einen hilflosen Blick zu und sprang ihr hinterher.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top