Kapitel 70

Eisminze wirbelte zu Herbstbrise herum. In ihren Augen stand Verblüffung. Langsam ließ sie von ihren Töchtern ab

und musterte die beiden Himmelclan Kriegerinnen.
"Heiliger Sternenclan, was macht ihr hier?"

Da war weder Feindseligkeit noch Argwohn in ihrer Stimme. Stattdessen wirkte sie besorgt.

"Hattet ihr auch Ärger mit dem Dämmerclan? Ihr seht so aus, als hättet ihr einen üblen Kampf hinter euch."

Ihr Blick wanderte wieder zu ihren drei Jungen zurück. "Ihr seid ja auch verletzt!", rief sie erschrocken aus,

"was ist passiert?" Salbeiherz öffnete das Maul, um zu antworten, aber Düsterforst kam ihm zuvor.

"Wir haben Herbstbrise und Mondstrahl bei einem Kampf gegen zwei üble Hunde gerettet", erklärte er.

"Das haben wir doch richtig gemacht, oder?", miaute Finkenblatt zaghaft. Sie wirkte verunsichert.

Salbeiherz plusterte sich auf. "Natürlich haben wir alles richtig gemacht. Weißt du nicht mehr, was unsere erste Schülerlektion war?

'Helfe jeder Katze in Not', hieß sie." Düsterforst schien viel gelassener zu sein als seine Geschwister.

In seinem Gesicht spiegelte sich eher Neugier als Verunsicherung wider und er beteiligte sich nicht an der Diskussion seiner Wurfgefährten.

Sein Blick galt ausschließlich seiner Mutter. "Woher kennst du Mondstrahl und Herbstbrise?", fragte er interessiert.

Eisminzes Antwort ließ lange auf sich warten. Geistesabwesend starrte sie ins Leere."Frag deinen Vater", murmelte sie schließlich.

Düsterforst zuckte gereizt mit der Schwanzspitze, ließ sich aber sonst seine Frustration nicht anmerken.

Er nickte nur stumm und trabte zu Distelkralle. Der döste schnarchend vor sich hin

und schien von all dem Geschehen nichts mitzukriegen - bis jetzt jedenfalls. Denn sobald ihn sein Sohn erreicht hatte,

schlug er grunzend die trüben Augen auf und musterte Düsterforst verständnislos. "Was ist los mein Junge?

Was bringt dich dazu, mich zu wecken?" Aus seiner Stimme war Missbilligung zu vernehmen.

Doch Düsterforst miaute unbeirrt drauf los: "Eisminze hat erzählt, dass ihr Herbstbrise und Mondstrahl kennt.

Ich möchte wissen woher!?" Distelkralle schnaubte lustlos und miaute, ohne seinen Sohn eines Blickes zu würdigen:

"Wie kommst du denn jetzt auf die?" Aber als er endlich den Kopf umdrehte und sein Blick auf Herbstbrises flammenfarbenen Pelz fiel,

verstummte er. Er brauchte eine Weile, bis er sich gesammelt hatte und starrte seine frühere Schülerin mit runden Augen an.

"Was hast du in unserer Scheune verloren? Du solltest dich eigentlich auf Himmelclan Territorium befinden,

wenn ich mich nicht irre. Aber wer weiß, wie viel Bienenflaum im Hirn eines so alten Katers wie mir steckt?"

Nun kam Finkenblatt angesprungen."Ach Vater, du bist doch noch jung!" Distelkralle schüttelte nur missmutig den Kopf.

"Wer hat dir denn diesen Quatsch erzählt?" Düsterfrosts eisblauer Blick durchbohrte ihn mittlerweile,

was Distelkralle aber nicht zu bemerken schien." Du kennst Herbstbrise und Mondstrahl also vom Himmelclan?",

hakte er nach. Distelkralle blinzelte ihn kurz gedankenverloren an, dann nickte er. "Das stimmt", brummte er dann

und richtete seine abweisenden Augen auf Herbstbrise. "Aber was tut sie hier?", zischte er.

"Ich bin übrigens auch hier", machte sich Mondstrahl bemerkbar und humpelte angestrengt zu den Anderen.

Nun wirkte Distelkralle völlig überfordert. "Ich möchte wetten, dass ihr wohl noch euren kompletten Clan hierher verschleppt",

blaffte er, "und nun zum letzten mal: Was habt ihr hier zu suchen?" Aber als Eisminze sich schnurrend an ihn schmiegte,

beruhigte er sich wieder. Letztendlich war es Finkenblatt, die seine Frage beantwortete.

Sie erzählte rasch von den Hunden und wie hilflos sie Mondstrahl vorgefunden hatten,

von den spitzen Krallen der riesigen braunen Bestie festgenagelt. Als sie fertigberichtet hatte,

herrschte Stille. In Eisminzes Augen schimmerte ein wenig Mitleid, doch Distelkralle leckte sich nur in Seelenruhe das Bein.

Herbstbrise erwartete von ihm auch kein Mitgefühl. Sie wusste, dass er sie noch nie leiden konnte,

vor allem nicht seit seiner und Eisminzes Verbannung. Die Verbannung... Erst jetzt wurde Herbstbrise bewusst,

dass sie sich noch bei ihm zu entschuldigen hatte. Und zwar dafür, dass sie der Grund war,

warum Gewitterstern hatte im Himmelclan Lager leben dürfen, denn sie allein hatte Adlerstern dazu überredet

und war demnach für seine Attacke auf Distelkralle und Eisminze verantwortlich.

Herbstbrise schluckte. Sie hatte einen dicken Kloß im Hals. Am liebsten hätte sie den Mund gehalten, aber schließlich besann sie sich

und sammelte all ihren Mut. Sie blickte Distelkralle direkt in die Augen. Sie hatte zwar Angst, Distelkralle über das unangenehme Thema auszufragen,

wollte sich aber dieser Angst stellen. Ich bin nicht feige, ICH BIN NICHT FEIGE!!!

"Distelkralle, ich muss mit dir reden." Herbstbrise wunderte sich selbst über die Festigkeit ihrer Stimme.

Sie war kaum zu überhören. Distelkralles dunkelgrüne Augen starrten lange auf die Pfoten, dann rollten sie langsam hoch

und blickten Herbstbrise direkt an." Nun?" Herbstbrise holte tief Luft. Ihr Herz pochte wie wild

und sie zwang sich, den Namen ihres meist gehassten Feindes über die Lippen gleiten zu lassen.

"Gewitterstern", brachte sie schließlich stockend hervor, "er hat dich gezwungen, Ginsterstreif zu töten!?"

Diesmal wirkte Distelkralle ernsthaft getroffen. Schmerz und purer Hass spiegelte sich in seinen Augen wider.

Und auf einmal wirkte der aufrichtige, starke Kater klein und verletzlich. Sein ganzer Stolz wich aus seinem Blick.

Tränen flossen aus Distelkralles Augen und Herbstbrise wurde allmählich klar,

dass sie ihn mit dieser Frage an der empfindlichsten Stelle getroffen hatte.

Diesmal machte Distelkralle keine anstalten, seinen Schmerz zu überspielen oder die Frage zu verdrängen.

Er schluchzte nur: "Ich wollte ihn nicht töten, weißt du. Aber hätte ich ihn am Leben gelassen, dann wäre Eisminze mitsamt den Jungen gestorben.

Und als Gewitterstern uns angriff waren wir in der Unterzahl. Wir hätten keine Chance gegen diese blutrünstigen Fuchsherzen gehabt."

Herbstbrise ließ beschämt den Kopf sinken." Es tut mir so leid, Distelkralle. Ich denke, ich bin an Ginsterstreifs Tod schuld.

Denn ich bin dafür verantwortlich, dass es soweit überhaupt gekommen ist. Hätte ich Adlerstern nicht überredet,

Gewitterstern einen Platz im Clan zu schenken, dann wäre er nicht mal an dich und Eisminze rangekommen.

Außerdem wünschte Gewitterstern Ginsterstreif nur den Tod, weil er mich nach seinem Versuch,

mich mit Todesbeeren zu vergiften wieder gesund geheil hat und es ihm dadurch nicht gelungen ist,

mich zu ermorden. Also übte er Rache an dem Heiler aus. Und du warst für seinen Hinterhalt das perfekte Opfer,

eben weil Eisminze schwanger war und ich dir zur damaligen Zeit sowieso schon misstraut habe."

Zu ihrer Überraschung schüttelte Distelkralle nur kläglich den Kopf." Ach Herbstbrise, wie hättest du das ahnen können?

Einigen wir uns einfach darauf, dass Gewitterstern an Ginsterstreifs Mord schuld ist. Gewitterstern und niemand sonst, okay?

Es gibt noch was, das ich dir sagen möchte: Auch ich möchte mich entschuldigen.

Ich war früher nicht wirklich nett zu dir. Aber auch das hat seine Gründe: Während du noch beim Laubclan warst,

erwartete Eisminze Junge. Um ehrlich zu sein war es nur ein Junges: Schwanenjunges, eine hübsche zierliche Kätzin

mit hellem Fell. Sie war unser Sonnenschein, an jenem grauen Tag. Ihr Schnurren bereitete jeder Katze Freude

und ihre Tollpatschigkeit zauberte allen ein Lächeln ins Gesicht. Doch eines Tages machte sie einen kleinen netten Ausflug aus dem Lager.

Nun, du weißt sicher selbst, wie schnell so ein kleiner netter Ausflug in einer Katastrophe endet.

So war es jedenfalls auch bei Schwanenjunges. Sie wurde von einem Fuchs angegriffen

und von diesem Tag an nicht mehr gesehen. In der Nähe der Angriffsstelle war Laubclan Geruch zu wittern.

Allerdings war dieser Duft mit keinerlei Blut vermischt. Und weißt du was das bedeutet:

Laubclan Katzen waren zur selben Zeit am selben Ort. Sie müssen tatenlos zugesehen haben,

wie ein kleines, schwaches Junges vor ihren Augen zerfetzt wurde." Seine Stimme bebte vor Bitterkeit

und er wurde immer leiser." Eisminze und ich waren nach Schwanenjunges Tod untröstlich. 

Wir begegneten von dem Tag an jeder Katze mit Feindseligkeit. Als du dich dann dazu entschlossen hast,

zum Himmelclan zurückzukehren,  verachtete ich dich genauso, wie jede andere Laubclan Katze.

Und als Adlerstern dann auch noch ausgerechnet mich zu deinem Mentor ernannte, meinte ich völlig die Fassung zu verlieren.

Ich weiß, meine Feindseligkeit war widerwärtig, aber ich fand keinen anderen Weg, um Schwanenjunges Tod zu rächen.

Außerdem zettelte ich noch einen Kampf gegen den Laubclan an, um all seinen Mitgliedern zu schaden.

Doch ich versagte dabei." Er starrte tieftraurig ins Nichts,"und der Krieg war umsonst."

Herbstbrise schmerzte das Herz bei seiner traurigen Erzählung. "Vielleicht ist Schwanenjunges ja noch am Leben",

murmelte sie hoffnungsvoll. Distelkralle drehte ihr nur schweigend den Rücken zu.

Herbstbrise war vor lauter Mitgefühl überwältigt. "Warum erzählst du mir das?", flüsterte sie schließlich.

Diesmal sah sie Distelkralle an. Seine Augen waren groß aber dennoch matt und ausdruckslos.

"Du warst lange meine Schülerin, Herbstbrise. Ich hatte dich genauestens im Auge. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte,

merkte ich mit der Zeit, was für eine liebevolle Katze in dir steckt. Eine, die niemals zulassen würde,

dass ein Junges einem Fuchs zum Opfer fällt. Vor allem weil du damit selbst in der Kindheit Erfahrung hattest.

Und als ich dann mit meiner Gefährtin hierher kam und sie drei gesunde Junge gebar, mit denen wir ein sicheres

und glückliches Leben führten, dann beruhigte ich mich allmählich. Ich dachte endlich nach, weshalb mein Clanleben so schnell ein Ende fand,

warum all die schrecklichen Dinge geschehen sind und vor allem welche Katze ich unrecht behandelt hatte.

Nun, du stehst ganz vorne auf dieser Liste. Und der Sternenclan gab mir die Chance, dich um Verzeihung zu bitten."

Eisminze, die bisher schweigend zugehört hatte stand auf und schaute Herbstbrise mit angelegten Ohren in die Augen.

"Das ist ja alles schön und gut, aber sag: Woher weißt du dass Eschenblatt in Wahrheit Gewitterstern ist?"

Diese Frage war für Herbstbrise alles andere als leicht zu beantworten. Sie sprach nicht gerne über die Katze,

die ihr Monde lang vorgegeben hatte, sie zu lieben, nur um sie in die Falle locken und anschließend töten zu können.

Aber Distelkralle und Eisminze hatten auch nicht viel bessere Erfahrungen mit dem Dämmerclan Anführer gemacht.

Also fing Herbstbrise zuerst stockend an, den anderen von dem angeblichen Treffen mit Lavendelsee zu erzählen.

Dabei ließ sie nichts aus. Sie erwähnte jedes Detail, schilderte ihre Verzweiflung, die Angst,

dass sie ihre Jungen für immer verlieren würde und jetzt noch nach ihnen suchte.

Jede einzelne Katze, selbst Mondstrahl, die die Geschichte schon kannte, starrte sie entsetzt und mitleidig zugleich an.

Als Herbstbrise fertig mit dem Erzählen war, herrschte ein fast unerträgliches Schweigen.

Alle waren so schockiert, dass sie sich nicht trauten, auch nur das Maul zu öffnen um etwas dazu zu sagen.

Erst als Herbstbrise ihnen zunickte, was so viel wie: "Ihr könnt jetzt sprechen", bedeutete, meldete sich Düsterforst zu Wort.

"Mein Beileid, Herbstbrise. Ich denke, es wäre jetzt erstmal das beste, wenn du und Mondstrahl euch ausruht.

Ich werde in der Zwischenzeit jagen und euch dann die Beute bringen." Er machte eine Pause und sah sich bei seinen Geschwistern um.

"Kommt jemand mit?" Seine beiden Wurfgefährten miauten wie aus einem Maul: "Ich werde mit dir jagen."

Düsterforst nickte, allerdings ohne ein Anzeichen von Belustigung. "Dann wäre das also geklärt."

Er marschierte mit Finkenblatt und Salbeiherz hinter sich los und hatte wenige Herzschläge später die Scheune verlassen.

Herbstbrise rührte sich einen Augenblick lang nicht von der Stelle, dann kletterte sie seufzend auf die meterhohen Strohbälle und formte sich ein Nest.

Dann ließ sie sich nieder und schloss langsam die Augen. Das letzte, was sie spürte, bevor sie sich in dem bunten Land der Träume wiederfand,

war das weiche Fell von Mondstrahl, die sich neben sie kuschelte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top