Kapitel 65

Mit einem letzten, liebevollen Schnäuzeln verabschiedete sich Eulenschlag von Rotbeere

und führte seine Patrouille aus dem Lager. Herbstbrise war heilfroh, dass er von Adlerstern unter anderem beauftragt worden war,

sich auf die Suche nach Schleierjunges und Blaubeerjunges zu machen.

Vielleicht würden er und seine Begleiter den Dämmerclan Trupp aufhalten und gefügig machen können,

um Herbstbrise so schnell es ging ihre Jungen zu bringen. Doch sie musste schwer schlucken, als ihr bewusst wurde,

wie viel Glück sie haben mussten, wenn ihnen das gelang. Viel eher aber werden sie den Dämmerclan nicht mal finden

oder blind in jede Falle tappen. Herbstbrise stöhnte. Ihr dröhnte der Kopf vor lauter wirrer Gedanken.

Zu gerne hätte sie Eschenblatts tröstend weiches Fell an ihrer Flanke gespürt und seinem beruhigenden Schnurren gelauscht,

hätte sich von Schwalbenjunges tollpatischiger Art belustigen lassen. Sie vermisste es sogar so sehr,

Blaubeerjunges zum zehnten Mal wegen ihrer Vergesslichkeit zurechtzuweisen,

dass ihr fast der Atem vor Sehnsucht ausblieb. Aber die Wirklichkeit glich keineswegs Herbstbrises Fantasie.

Ihre Familie war weg. Außerdem war neben ihr nicht Eschenblatt sondern Schilfherz, der sie immer noch tieftraurig anstarrte.

Eigentlich hätte Herbstbrise froh sein sollen, dass der vermeintliche Eschenblatt nun beseitigt worden war,

aber sie hatte mehr ihren freundlichen Gefährten in Erinnerung als den blutrünstigen Dämmerclan Anführer.

Und insgeheim vermisste sie Gewitterstern. Sogar mehr als es ihr Herz zuließ. Doch ich habe ihn getötet,

rief sie sich fröstelnd ins Gedächtnis. Ich habe die wichtigste Katze meines Lebens einfach - getötet!?

Sie konnte es immer noch nicht fassen. Was habe ich getan? Ein schildpattfarbener Schwanz wischte Herbstbrise über die Schnauze

und ließ die rote Königin taumeln. Rasch versuchte sie, ihr Gleichgewicht wiederzufinden und richtete ihre Augen auf die Katze

vor ihr. Dort stand Lavendelsee. Die hatte das Gesicht zu einer halb amüsierten, halb verdutzten Grimasse verzogen.

"Alles gut?",schnaubte sie. Herbstbrise hob benommen den Kopf und murmelte: "Ich lebe wenigstens noch, wie du siehst."

Lavendelsees Augen wurden weich, als sie merkte, wie bedrückt ihre Schwester war. "Du tust mir so leid",

flüsterte sie, "dir als Lockvogel vorzugaukeln, dass ich deine Töchter kennenlernen möchte,

um dir anschließend Schaden zuzufügen, war der größte Fehler meines Lebens."

Herbstbrise konnte da nur den Kopf schütteln. Sie hat einen viel schlimmeren vergessen, sagte sie sich.

"Und was ist mit Schattenroses Mord?",knurrte sie. Lavendelsee ließ den Kopf hängen.

"Sie hat den Tod verdient",murmelte sie schließlich. "Denn sie hat ihre Jungen ausgesetzt,

weil sie sie für etwas beschuldigt hat, für das sie nichts können. Hätte uns der Laubclan nicht bei sich aufgenommen,

dann wären wir alle drei verhungert. Und das hätten wir ganz allein Schattenrose zu verdanken gehabt.

Also meiner Meinung nach hat sie sich mehr als nur den Tod verdient." Bitterkeit lag in ihrem Blick.

"Du willst bestimmt wissen, warum ich dich vor Gewitterstern gerettet habe?",fragte sie grimmig.

Herbstbrise nickte. Da hat sie recht. Das würde mich wirklich sehr interessieren.

"Also gut",begann Lavendelsee, "warum ich Adlerklaue, Dämmerfluss und Rosenblut hinterhergejagt bin,

kannst du dir sicherlich denken: Ich wollte deine Jungen retten. Und warum, solltest du mitbekommen haben.

Kommen wir nun aber zu dem eigentlichen Punkt, der dir bisher wahrscheinlich unlogisch erschienen ist.

Und zwar, warum ich dich vor Gewitterstern verteidigt habe. Dabei muss ich zugeben, dass ich sehrwohl vorhatte,

gegen dich, antstatt gegen ihn zu kämpfen. Aber es kam nun mal anders. Denn ich wollte von Anfang an nicht,

dass du stirbst. Ich war lediglich ein wenig wütend auf dich, weil du vor mehreren Monden unsere verräterische Mutter

vor mir verteidigt hast. Denn eigentlich hättest du mir beistehen sollen. Wir beide mussten nämlich

dank Schattenrose dasselbe durchmachen. Nun aber zurück zu dem Kampf gegen Gewitterstern. Es gibt nämlich noch einen zweiten Grund,

warum ich ihn und nicht dich angegriffen habe: Nachdem ich in Erfahrung gebracht habe,

dass Gewitterstern mich mit den Jungen belogen hat, war ich unbeschreiblich wütend auf ihn.

Und ich wollte so einem Narr nicht zur Seite stehen, für das, was er den hilflosen Jungkatzen angetan hat.

Nein - viel eher wollte ich ihn in seine Schranken weißen, mich an ihm rächen. Und zwar für die Jungen.

Sie haben nämlich nichts dergleichen verdient, was ihn widerfahren ist." Damit endete Lavendelsees Erklärung.

Und somit auch Herbstbrises Verwirrung. Sie lächelte kurz. "Ich danke dir, Schwester."

Lavendelsee neigte den Kopf. "Leb wohl, Herbstbrise! Ich werde die Augen nach Blaubeerjunges und Schwalbenjunges offen halten."

Sie blinzelte ihrer Wurfgefährtin noch einmal sanft zu, bevor sie zwischen den Felsblöcken verschwand.

Herbstbrise überlegte kurz, ob sie ihr hinterherlaufen sollte, um zu erzählen, dass Schattenrose bei ihrer Vertreibung gelogen hatte

und dass Adlerstern sie nie verbannen wollte. Dann aber rief sie sich in Erinnerung, dass Lavendelsee ohnehin schon wütend auf ihre Mutter war.

Würde sie ihr also die Wahrheit erzählen, dann würde das nur noch mehr ihr Hassfeuer schüren.

Also blieb sie an Ort und Stelle und wurde schon nach wenigen Sekunden wieder von ihren düsteren Gedanken verschluckt.

Gewittersterns Augen erschienen in ihrem Kopf - diesmal rot anstatt grün. Und er schlug mit seinen messerscharfen Krallen

auf Herbstbrise ein, schlitzte ihr die Kehle auf und fauchte ihr so lange ins Gesicht, dass er sie verraten hatte,

bis sie den Verstand verlor. Mit einem zornigen Jaulen warf sich die echte Herbstbrise auf die nächstbeste Katzen,

die ihr in den Weg kam und malte sich aus, sie sei Gewitterstern. Brüllend riss sie ihr die Flanke auf,

bis Blut aus ihr herausspritzte. Ein angenehmes Triumphgefühl beflügelte Herbstbrise.

Doch das machte sie nur noch aggressiver. Fauchend bäumte sie sich auf, wollte Gewitterstern erneut attackieren,

nur dazu kam sie nicht. Ein grau getigerter Kater krachte in sie hinein, Zorn loderte in seinen gelben Augen.

Zunächst dachte Herbstbrise, er sei Schilfherz, aber bei genauerem Hinsehen erkannte sie Wiesenkralle.

Er hatte sich wutentbrannt vor ihr aufgebaut und versperrte ihr somit den Weg zu ihrem Opfer.

"Lass Goldfleck in Frieden!",zischte er, "oder ich mache Krähenfraß aus dir!" Herbstbrise hielt abrupt inne.

Goldfleck!? Aber das kann nicht sein, ich habe... Doch als sie nun selbst das weiß gold gefleckte Fell der Kätzin erkannte,

verschlug es ihr die Sprache. Alles in ihr schrie. Nein! NEEIIN!!! Nicht schon wieder!!!

Beschämt legte sie die Ohren flach und murmelte mit matter Stimme: "Es tut mir so leid Goldfleck, aber...

aber ich habe Gewitterstern in dir gesehen. Ich wollte dich nicht verletzen! Wirklich! Ich bin nur... wie soll ich sagen?"

"Verrückt?",schlug Wiesenkralle missmutig vor. "Nenn mir bitte ein Merkmal von Goldfleck,

dass Gewitterstern gleicht!" Herbstbrise duckte sich zu ihrer Antwort nur vor ihm.

Zu ihrer Verwunderung stupste Goldfleck ihrem Gefährten liebevoll in die Seite und schnurrte:

"Ach Wiesenkralle, es ist so schön, wie du für mich sorgst. Doch manchmal habe ich das Gefühl,

du übertreibst dabei ein wenig. Herbstbrise hat mir lediglich ein paar oberflächliche Kratzer zugefügt,

mehr aber auch wieder nicht. Außerdem war der Angriff nicht absichtlich.

Dass Herbstbrise Gewitterstern an meiner Stelle gesehen hat, ist bei ihrem schockierenden Erlebnis verständlich."

Sie richtete ihre grünen Augen auf Herbstbrise und erklärte ihr: "Ich weiß was Gewitterstern dir angetan hat.

Das hat sich nämlich rasant schnell im Lager rumgesprochen. Ich gebe zu, ich würde nicht gerne in deiner Haut stecken.

Dafür möchte ich aber versuchen, dir in dieser schweren Zeit zu helfen. Kann ich irgendwas für dich tun?"

Das erste was Herbstbrise überkam, war Erleichterung. Goldfleck ist mir also nicht böse.

Dann aber nagte die Erwähnung von Gewitterstern wieder schwer an ihr. Sie musste sich zusammenreißen,

um nicht in Tränen auszubrechen. Also gab sie schnell eine halbherzige Antwort von sich:

"Nein ich denke das kannst du nicht. Aber danke der Nachfrage." Goldfleck neigte den Kopf. "Wenn du dir da so sicher bist,

dann möchte ich dich nicht weiter stören. Machs gut! Oh und übrigens: Dein versehentlicher Angriff bleibt unter uns."

Sie zwinkerte Herbstbrise kurz zu und machte sich dann auf den Weg zum Kriegerbau.

Nun trat Wiesenkralle, der bisher schweigend neben seiner Gefährtin gestanden hatte an Herbstbrise heran und knurrte:

"Halt dich in Zukunft von ihr fern oder du wirst es bitter bereuen!"

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