Prolog

Es stürmte, als die graue Wölfin mit ihren vier Welpen am Waldrand ankam. Behutsam schob sie jeden von ihnen unter einen Busch, bevor sie sich selbst ganz klein machte und sich zu ihnen gesellte. Mit einem beruhigenden Brummen leckte sie einem der Welpen über den Kopf und zog ihn näher zu sich.

»Du kannst jetzt nicht raus«, sagte sie leise, während ein heftiger Regen von oben auf die Blätter trommelte. Ihre Ohren zuckten, wobei feine Tropfen davonflogen.

»Warum nicht?«, fragte der Welpe und sah seine Mutter mit großen, schwarzen Augen an.

»Der Urwolf ist wütend«, antwortete sie.

»Warum?« Der Welpe schaute sehnsüchtig zwischen den Ästen hindurch nach draußen, obwohl in der Dunkelheit fast nichts zu sehen war. »Und auf wen?«

Die Wölfin schwieg eine Weile. Ihre anderen Welpen waren trotz des heulenden Sturms bereits eingeschlafen. Nur der struppigste von ihnen versuchte weiterhin, über ihre Beine zu klettern. Wieder zog sie ihn näher zu sich.

»Vielleicht ist er wütend auf mich.«

»Warum?«

»Du bist zu jung, um sowas zu hören. Jetzt schlaf. Wir warten den Sturm ab und ziehen dann weiter.«

»Zum Rudel?« Der kleine Welpe wollte sich einfach nicht beruhigen. »Wartet Vater da auf uns?«

»Nein«, antwortete die Wölfin und stieß den Welpen jetzt etwas gröber um, damit er sich zu seinen Geschwistern legte. »Jetzt schlaf.«

Und tatsächlich rollte er sich zusammen, die Nase im Fell seines Bruders vergraben. Die Wölfin blieb die ganze Nacht über wach und starrte nach draußen. Erst zum Morgen hin wurde der Regen weniger und hörte dann ganz auf. Beim Licht des ersten Sonnenstrahls stupste sie ihre Welpen vorsichtig mit der Nase an. Während sie aufwachten, fiel ihr Blick auf die rötlichen Haare an der Schnauze eines von ihnen. Kurz flackerte so etwas wie Sorge in ihren dunkelgrauen Augen auf, aber es verschwand, sobald der struppige Welpe auf die Pfoten sprang.

»Mutter!«, jaulte er fröhlich. »Werden wir heute das Rudel sehen?«

Die graue Wölfin nickte wortlos, schob die vier Welpen nach draußen und folgte ihnen.

»Tsuki.«

Beim Klang der Stimme erstarrte die Wölfin und stellte sich sofort schützend vor ihre Welpen. Vor ihr stand eine hellgraue Wölfin, die sie mit strengen Augen anschaute. Ihr Blick glitt von Tsuki zu den vier Welpen und wieder zurück.

»Also stimmt es, was wir vermutet haben.«

»Du kannst dem Herz nicht vorschreiben, was es will, Sora.«

»Aber du kannst dem Herz Einhalt gebieten, wenn du deinen Verstand benutzt«, erwiderte die hellgraue Wölfin Sora ernst. Als sie die leicht verängstigten Welpen sah, wurde ihr Blick jedoch weicher und sie beugte sich zu ihnen runter. »Wie alt seid ihr?«

»Zwei Zyklen«, bellte die einzige Wölfin unter den Welpen und richtete sich hoch auf. Sie war jetzt schon größer als ihre Geschwister.

»Und wie ist dein Name?«

»Sanda.«

»Sie ist die Erstgeborene«, erklärte Tsuki und deutete dann nacheinander auf die anderen Welpen. »Und das sind Vulco, Anam und Brud.«

Sora nickte knapp und richtete sich wieder auf. »Du weißt, dass du zu spät zurückgekehrt bist? Die Zukunft, die ich für sie sehen werde, wird veraltet sein. Es hat einen Sinn, dass die Zeremonie mit einem Zyklus durchgeführt wird.«

Tsuki schwieg.

»Hattest du Angst, dass einer von ihnen zu viel von seinem Vater geerbt hat?«

Tsuki schwieg weiterhin.

»Denkst du, ich hätte die roten Haare nicht gesehen, Tsuki?«, fragte Sora und deutete in Richtung des Welpen mit dem Namen Vulco. »Oder dass alle außer Sanda schwarze Augen haben? Ich weiß genau, wer ihr Vater ist. Und es gefällt mir nicht. Es gibt einen Grund, aus dem niemand ihn in seinem Rudel haben möchte. Er ist ein Einzelgänger. Zu gefährlich. Zu unberechenbar. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Du kannst dem Herz nicht vorschreiben...«

»Das hast du schon gesagt.« Sora sah Tsuki eine Weile unschlüssig an, bevor sie näher zu ihr trat und tröstend ihre Nase anstupste. »Ich sage das nur, weil die anderen schweigen werden. Es ist besser, es einmal von deiner besten Freundin zu hören.«

»Ich weiß.«

Sora trat wieder zurück und wandte sich dieses Mal den vier Welpen zu. »Ich werde euch gleich einmal kurz in eure Ohren beißen. Es wird nur kurz weh tun. In Ordnung?«

Die Welpen sahen sich unsicher an und rückten enger zusammen. Ihre Augen suchten hilfesuchend nach ihrer Mutter, die ihren Blicken jedoch auswich.

»Sora ist die Seherin des Silberfelsrudels«, sagte sie schließlich. »Sie wird euch nichts tun, was euch schadet. Sie braucht nur einen Tropfen eures Blutes, um eure Zukunft zu sehen. Was eure Stärken sind und wie ihr dem Rudel dienen könnt. Haltet nur kurz still.«

Die Welpen rührten sich nicht von der Stelle, als Sora sich zu Sanda hinunter beugte und in ihr Ohr biss. Die kleine Wölfin zuckte kurz zusammen und winselte leise, während ein roter Blutstropfen sich an der Seite ihres Kopfes einen Weg durch das graue Fell bahnte. Währenddessen riss Sora weit die Augen auf. Ihr Atem beschleunigte sich, die Zunge hing locker aus ihrem Maul und ihr Blick lag irgendwo weit in der Ferne. Ein langgezogenes Grollen kam aus ihrer Kehle, das dann abrupt abbrach. Als wäre nichts passiert, beugte sie sich zu Sanda hinunter und leckte ihr den Blutstropfen vom Fell.

»Du bist eine kleine Wächterin«, sagte sie leise. »Stark und entschlossen und dennoch nicht rücksichtslos. Mutig...«

Sora trat nun zu Vulco. Nach einem weiteren kritischen Blick auf die rötlichen Haare an seiner Schnauze biss sie auch ihm ins Ohr. Der kleine Welpe gab sein Bestes, um nicht zusammenzuzucken, was ihm auch gelang, und beobachtete fasziniert, wie Sora erneut in diese Art Starre verfiel.

»Du wirst auch ein Wächter«, erklärte sie schließlich. »Treu und stur und vielleicht manchmal etwas zu wild. Höre auf dein Herz.«

Vor Anam blieb Sora kurz stehen. Kurz zögerte sie, bevor sie sich zu ihm runterbeugte und ihm ebenfalls ins Ohr biss. Dieses Mal ging ein Zittern durch ihren Körper. Tsuki beobachtete ihre beste Freundin leicht besorgt.

»Sora?«, fragte sie und legte die Ohren an. »Sora! Was ist los? Was siehst du?«

Als Sora keuchend aus ihrer Starre hochfuhr, gab sie ihr jedoch keine Antwort, sondern bis sogleich in Bruds Ohr. Der struppige Welpe sprang vor Überraschung ein Stück nach hinten. Mit großen Augen schaute er zu Sora, die jetzt immer wieder den Kopf schüttelte, bis sie nach hinten stolperte und beinahe hinfiel.

»Sora?« Tsuki eilte zu ihr. Eine unglaubliche Angst stand in ihrem schmalen Gesicht geschrieben. Die Ohren waren angelegt, die Rute eingezogen. »Was hast du gesehen?«

»Da war Schwärze«, keuchte die Seherin. »Eine undurchdringliche Schwärze. Und Blitz und Donner. Sturm. Chaos. Ein lautes Heulen. Viel Schmerz und Trauer.« Sie sah zwischen Anam und Brud hin und her. »Ich... habe sowas noch nie gesehen.«

»Aber...«

Sora schob Tsuki zur Seite und unterband so jeden Widerspruch. »Das hat nichts zu bedeuten. Du bist zu spät gekommen.«

»Es tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, antwortete Sora. »Es ist der Fluch des Mondes. Der Urwolf kann die Zukunft eines Welpen nur für einen Zyklus festhalten. Danach verflüchtigt sie sich wie Nebel über einer morgendlichen Wiese.«

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