5. Kapitel
Als Brud wieder zu sich kam, befand er sich in Soras Bau. Er hob den Kopf und bereute es sofort. Alles um sich herum drehte sich und vorsichtshalber schloss er wieder die Augen. Ihm fiel die Jagd wieder ein und dieser störrische Hirsch. Probehalber bewegte er das linke Vorderbein, doch im selben Moment legte sich eine schwere Pfote auf seine Flanke und hielt ihn auf. Trotzdem tat es unglaublich weh. Leise winselte er.
»Sich von einem schon toten Hirsch so schwer verletzen zu lassen... Wie viel Pech muss man haben?«
Brud öffnete blinzelnd die Augen und starrte in Soras Gesicht. Die alte Wölfin sah ihn streng an und nahm die Pfote wieder weg, woraufhin er erleichtert aufatmete.
»Haben wir den Hirsch erlegt?«, fragte er.
»Natürlich«, sagte die Seherin. »Sanda hat ihm den Todesbiss gegeben. Und danach hat sie dich noch den ganzen Weg vom Territorium des Waldmoosrudels bis hierher geschleppt. Mit einer blutenden Wunde auf dem Rücken. Du solltest ihr dankbar sein. Wäre sie auch nur einen Moment zu spät gekommen, hätte ich dich nicht mehr retten können.«
Erschrocken riss Brud die Augen auf, woraufhin Sora tief seufzte.
»Du bist wohl wirklich vom Mond verflucht«, meinte sie. »Hast du nicht genug zum Urwolf gebetet?«
»Doch«, antwortete Brud kleinlaut.
»Was soll ich nur mit dir machen?« Es klang jetzt, als würde Sora eher mit sich selbst reden. Langsam wiegte sie den Kopf hin und her. Ihre halbe Rute zuckte über den Boden und wirbelte Staub auf. »Ich weiß nicht, ob du es bist, der die Dunkelheit in sich trägt, aber es scheint, als wäre es so. Hätte ich damals bloß nicht...«
Sie verstummte, als Schritte sich näherten und kurz darauf Sanda und Vulco auftauchten.
»Wie geht es ihm?«, fragte der Wolf mit dem rötlichen Fell auf der Schnauze, während Bruds Schwester nur besorgt daneben stand.
»Er ist ganz offensichtlich zu sich gekommen«, bellte Sora unwirsch. »Und er braucht Ruhe. Verschwindet jetzt!«
»Aber...«
Es war sinnlos, mit der Seherin zu diskutieren. Sanda und Vulco wurden einfach von ihr nach draußen gedrängt, wo sie den Schatten nach anscheinend noch eine Weile unschlüssig herumstanden.
»Wenn du etwas brauchst...«, hob Vulco an, wurde jedoch von Soras wütendem Knurren unterbrochen. Winselnd zog Bruds Bruder sich zurück und Sanda folgte ihm kurz darauf.
Brud verstand nicht, warum Sora auf einmal so unfreundlich war. Leicht verunsichert betrachtete er die alte Wölfin, die nur wenige Schwanzlängen von ihm entfernt saß und scheinbar in ihre eigenen Gedanken versunken war. Was ist los mit ihr? War sie nicht die beste Freundin unserer Mutter?
»Brud.«
Als Sora ihn so plötzlich ansprach, zuckte er zusammen. »Ja?«
Sie hob den Blick. Ihre grauen Augen musterten ihn mit einer offenen Feindseligkeit, die er noch nie bei ihr gesehen hatte. »Weißt du, was die Zeremonie des Urwolfs ist?«
»Ja, natürlich.« Worauf möchte sie hinaus? Er hatte flüchtig Kandis Zeremonie mitbekommen und dass der Urwolf ihr vorherbestimmt hatte, eine Hetzerin zu werden, so wie ihr Vater Miro.
»Und du weißt, dass ich deine Zeremonie und die deiner Geschwister zu spät durchgeführt habe?«
Brud nickte nur. Er wagte es nicht, irgendwas zu sagen, was die alte Wölfin noch mehr verärgern könnte.
»Es war alles die Schuld deiner Mutter.« Soras Blick richtete sich auf den staubigen Boden vor ihren Pfoten. »Sie hätte sich nie auf einen Rudellosen einlassen dürfen. Aka... Aka hat andere Wölfe getötet. Andere Wölfe gefressen!«
Brud fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sein Nackenfell stellte sich auf. Was? Mein Vater hat... was gemacht?
»Man kann dem Herz nichts befehlen, aber was ist mit der Vernunft!« Sora fuhr zu ihm herum. »Du bist verflucht! So wie dein Vater! Du hast seine Augen! Dabei waren die Augen deiner Mutter so schön gewesen! Sie ist tot wegen euch! Der Urwolf hat sie dafür bestraft, dass sie Akas Blutlinie fortgesetzt hat!«
»Aber... Aber ich würde nie...«
»Nie einen anderen Wolf töten?«, unterbrach Sora ihn. »Bist du dir da sicher? In meiner Vision habe ich dich gegen Wölfe kämpfen sehen! Du hast ihnen den Tod gewünscht! Ich habe es ganz klar gespürt! Diese tiefe Verzweiflung in dir...« Sie fing an zu hecheln. »Da war eine Schwärze in dir. Oder vielleicht auch nicht in dir, sondern in deinem Bruder Anam. Aber Anam nimmt seine Pflichten ernst! Er tut alles für sein Rudel!«
»Ich... Ich nehme meine Aufgabe auch ernst!«, widersprach Brud, obwohl er ein schlechtes Gewissen hatte. Ich benutze meine Zeit beim Heulfelsen, um mich heimlich mit Tila zu treffen. Ich hintergehe mein Rudel.
»Eine schöne Stimme garantiert kein schönes Herz«, knurrte Sora, senkte dann wieder ihren Blick und atmete tief durch. »Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du bist immer noch der Sohn meiner besten Freundin. Und dennoch kann ich nicht leugnen, dass eine schwarze Blume in dir blüht.«
Brud zuckte mit den Ohren. »Ich habe Keet und Ami und eigentlich auch Sanda das Leben gerettet.« Normalerweise war er niemand, der sich selber lobte, aber wie sollte er die Seherin sonst davon überzeugen, dass er nicht so war wie sein Vater. »Ich würde mein Leben für mein Rudel geben.«
»Würdest du? Wirklich? Für dein Rudel? Oder nur für einen Wolf?«
Was meint sie? Brud spürte eine Welle der Angst in sich hochkommen. Habe ich geredet, als ich bewusstlos war? Was habe ich gesagt? Weiß sie etwa...?
»Ich weiß nicht, was in dir vorgeht, Brud«, sagte Sora schließlich. »Aber denk daran, was mit Wölfen passiert, die ihr Rudel verraten. Sie werden rudellos. Und ich habe gesehen, dass du es werden kannst. Vielleicht sogar wirst. Lass die Schwärze nicht gewinnen! Kämpfe gegen sie!«
»Darf ich reinkommen?«, ertönte auf einmal eine Stimme von außerhalb des Baus.
Bruds Herz begann sofort, schneller zu schlagen, aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Soras Augen hatten ihn immer noch fixiert, als sie sagte: »Natürlich, Rudelführerin.«
Tilas hübsche Gestalt tauchte neben der alten Seherin auf. In ihrem Maul hielt sie ein Stück Fleisch, das sie nun vor Sora auf den Boden legte. »Ich weiß nicht, ob er schon Fleisch essen darf, aber vielleicht stärkt es ihn. Sorge dafür, dass er schnell wieder gesund ist.«
»So schnell wird das nicht gehen«, entgegnete Sora. »Er wird noch eine längere Zeit nicht auf den Heulfelsen klettern dürfen. Die Wunde könnte wieder aufreißen.«
Brud musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und Tila über die Schnauze zu lecken. Er liebte sie so sehr, dass es schmerzte. Sie verbarg es zwar gut, aber er konnte die Sorge in ihren Augen trotzdem erkennen.
»Dann wird er wohl vom Strahlenfelsen aus heulen müssen«, meinte Tila und warf ihm scheinbar gleichgültig einen Blick zu. »Oder ein andere Wolf übernimmt seine Pflichten, solange er verletzt ist. Roc hat einige Nachrichten für ihn, die er den anderen Rudeln übermitteln muss.«
»Nur mit der Ruhe«, bellte Sora. »Und jetzt geh, Rudelführerin. Dein Heuler muss sich ausruhen.«
Brud ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Warum konnte sie nicht länger bleiben? Aber es war offensichtlich, warum. Niemand durfte auch nur auf die Idee kommen, dass sie mehr gemeinsam hatten als normale Rudel-Gefährten. Der Fleischklumpen, der vor ihm landete, riss ihn aus seinen sentimentalen Gedanken.
»Iss«, befahl Sora. »Mit einem hat Tila recht: Das Fleisch wird dich stärken. Es ist das beste Stück vom Hirsch des Waldmoosrudels. Keet hat darauf bestanden, dass du es bekommst, wenn du wieder zu dir kommst.«
»Danke«, murmelte er und biss hinein. Das Fleisch war unglaublich weich und zerschmolz förmlich zwischen seinen Zähnen.
»Außerdem soll man dir von ihm ausrichten, dass er und seine Gefährtin in deiner Schuld stehen«, fuhr Sora fort. »Also, überleg dir gut, was du dir wünschst. Und mach keine Dummheiten. Denk an den Fluch des Mondes.«
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