3. Kapitel
Wie jeden Abend, wenn sie sich trafen, kehrten Brud und Tila nacheinander und auf verschiedenen Wegen ins Lager zurück. Zwar war es unwahrscheinlich, dass jemand wach war und sie sah, aber es könnte dennoch sein, dass jemand zum Schmutzplatz wollte. Daher wartete Brud, bis ein heller Lichtstreifen am Horizont auftauchte, bevor er Tila ins Lager folgte. Dort legte er sich in seinen Bau und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen wurde Brud von einem Stoß in die Seite geweckt und war überrascht, Anam vor sich stehen zu sehen. Sein Bruder hatte tiefschwarze Augen, in denen manchmal ein unheimlicher, unterdrückter Zorn funkelte. Meistens sah es aber nur so aus. In Wirklichkeit hatte er ein gutes Herz, das wusste Brud. Dennoch hatten viele Angst vor Anam.
»Endlich reagierst du«, schnaubte der dunkelgraue Wolf und trat einen Schritt zurück, damit Brud aufstehen konnte. »Ich dachte schon, ich müsste dir in den Schwanz beißen.«
»Bitte nicht!« Bruds Nase zuckte. Er roch leichten Blutgeruch. »Wie war dein Kontrollgang gestern? Musstest du jemanden vertreiben?«
»Ja«, antwortete sein Bruder kurz angebunden. »Einen Luchs, der sich dachte, er könnte es mit mir aufnehmen. Keine Sorge, es ist nur ein Kratzer.« Er streckte seine Vorderpfote vor, sodass Brud die kleine Wunde sehen konnte, die aber zum Glück nicht mehr blutete. »Trotzdem soll ich dir von Roc sagen, dass du die anderen Rudel am besten vor diesem Luchs warnst.«
»Ja, mach ich.«
Die beiden Brüder verließen den Bau und betraten die Lichtung, auf der die meisten Wölfe sich gerade ihren Anteil an der Beute genommen hatten. Roc und Tila lagen nebeneinander weiter hinten, halb hinter einem umgefallenen Baumstamm verborgen. Brud spürte, wie eine heftige Eifersucht in ihm hochkam, aber er musste sich beherrschen. Niemand darf etwas wissen. Niemand darf auch nur auf die Idee kommen...
»Tokun und ich sind auch ziemlich spät wiedergekommen«, meinte Anam neben ihm. »Ich habe deinem Lied gelauscht. Aber irgendwie hast du so früh aufgehört.«
Brud horchte auf. Was will er damit sagen? Eine leichte Panik stieg in ihm auf. Bleib ruhig, bleib ruhig! »Es gab nicht viel zu berichten«, sagte er mit gleichgültiger Stimme. »Wenn Janis Welpen da sind, werde ich dafür ein langes Lied mit einer schönen Melodie heulen.«
»Du hast am Ende noch einmal kurz geheult.« Anam musterte ihn mit einem Ausdruck, den Brud nicht richtig deuten konnte.
»Ich hatte nur einen heiseren Hals«, behauptete Brud das erste, was ihm einfiel. Erst danach fiel ihm auf, wie dumm diese Erklärung eigentlich war.
Anams Ohren zuckten überrascht. »Aber du wirst die anderen Rudel heute doch vor dem Luchs warnen können, oder?«
»Vielleicht kommt da eine kleine Pause gelegen«, ertönte plötzlich eine Stimme, bei der die beiden Brüder erschrocken zusammenzuckten. Anam sträubte sogar sein Fell und knurrte verärgert. Dabei war es nur Vulco, der sich unbemerkt an sie angeschlichen hatte. Seine Augen blitzten frech.
»Beim Urwolf, musst du uns so erschrecken!«, fuhr Anam den größeren Wolf an.
»Dabei könnte man meinen, dass ein Kämpfer immer auf einen Angriff vorbereitet ist!« Vulco schlug Anams Pfote weg, die der dunkelgraue Wolf drohend erhoben hatte, als würde er ihm gleich einen Hieb verpassen. »Reg dich ab! Ich bin stolz, dass mein geliebter Bruder unser Territorium vor ungebetenen Eindringlingen beschützt! Wirklich!«
»Was willst du?«, unterbrach Anam ihn.
»Und warum meintest du, dass eine kleine Pause gelegen kommt?«, fügte Brud hinzu und beobachtete, wie seine zwei Brüder immer wieder eine Pfote hochhoben, sodass der andere sie wegschlagen konnte. Dieses Spiel hatten sie als Jünglinge oft gespielt, um herauszufinden, wer von ihnen der stärkere war. Er selbst hatte immer verloren und Sanda war immer als Siegerin hervorgegangen. Vulco und Anam mussten mittlerweile aber ungefähr gleich stark sein.
»Heute Morgen, als ihr zwei noch geschlafen habt, war ich mit Vir – ja, ihr habt richtig gehört – an der Grenze zum Waldmoosrudel und habe dort Mila getroffen«, erklärte Vulco. »Sie hat erzählt, dass anscheinend eine Herde von Hirschen gerade durch ihr Territorium auf unseres zu zieht. Es sind aber so viele Tiere, dass das Waldmoosrudel allein sich nicht an sie ran traut. Deswegen hat sie vorgeschlagen, dass unsere beiden Rudel diese Nacht zusammen auf die Jagd gehen. Keine Lieder heute für dich, Brud.«
»Warum nicht?«
»Du kommst natürlich mit!«
Brud schaute seinen Bruder entgeistert an. »Ich bin kein Hetzer.« Er konnte verstehen, dass Vulco so begeistert von dieser Idee war, weil Vir natürlich dabei sein würde. Zumal sie ihn anscheinend näher an sich ran gelassen hatte.
»Ich auch nicht.« Vulco leckte sich über die Schnauze. Ihm war anzusehen, dass er sich ein fröhliches Jaulen verkneifen musste. »Aber Roc hat gesagt, dass die Wächter und du, besonders du, auch mitkommen. Sanda und ich zur Sicherheit und du, weil du anscheinend Ärger bekommen hast?« Er sah Brud fragend an. »Jedenfalls hat Sanda das behauptet.«
Brud winkte ab. »Ist egal.«
»Was ist mit den Kämpfern?«, wandte Anam sich an Vulco.
»Ich vermute mal, dass Tokun und du freigestellt sind«, bellte dieser. »Jedenfalls hat Roc nichts zu euch gesagt.«
»Dem Urwolf sei Dank«, brummte Anam und stand auf. »Ich bin so müde, dass ich gleich wieder einschlafe. Dabei muss ich jetzt wieder los.« Er stieß seine zwei Brüder zum Abschied mit der Schnauze an. »Viel Erfolg bei der Jagd heute.«
»Danke!«, rief Vulco ihm hinterher. Er sah überaus fröhlich und motiviert aus, was auch kein Wunder war.
Wahrscheinlich wird er versuchen, Vir bei der Jagd mit irgendwas zu beeindrucken, dachte Brud. Er selbst hatte überhaupt keine Lust auf die Jagd. Statt sich mit Tila zu treffen, würde er wohl Hirschen hinterher hetzen. Und selbst da würde er nicht sehr nützlich sein. Es war lange her, dass er etwas gejagt hatte, was größer als ein Fasan gewesen war.
»Du siehst nicht aus, als würdest du dich freuen«, stellte Vulco fest, der sich eigentlich zum Gehen gewandt hatte, jetzt jedoch innehielt.
»Ich habe fast alles vergessen, was man bei so einer Großjagd beachten muss«, erklärte er fast wahrheitsgemäß. »Kannst du mir die wichtigsten Sachen nochmal zeigen?«
Vulcos Lefzen zogen sich zurück und offenbarten seine blitzenden Zähne. »Natürlich! Komm mit!«
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