Kapitel 19

Eispelz betrachtete die untergehenden Sonne, die langsam hinter den Bergen verschwand und den Abendhimmel blutrot färbte. So blutrot, wie das Blut, das seine Mutter bei der Geburt ihrer Jungen verloren hatte. Eispelz war vor kurzer Zeit aus der Kinderstube hinausgegangen, da er es nicht mehr ertragen konnte, Rosenblütes toten Körper zu sehen. Nun saß er auf einer Erhebung am Rande des Lagers, von der aus er große Teile der Heide und der Landschaft in der Ferne betrachten konnte. Langsam ließ er seinen Blick über die weite Landschaft schweifen, von dem Moor bis zu den Bergen in der Ferne.

Er verstand das alles nicht. Warum hatte Rosenblüte sterben müssen? War es nicht schon schlimm genug, was ihnen angetan worden war. Warum musste der Sternen Clan noch eine Maus vom sowieso schon fast leeren Frischbeutehaufen nehmen. Wir werden uns an ihnen rächen, hallten Unkensprungs Worte in seinem Kopf wieder. Diese Antwort mochte ihn gestern noch zufrieden gestimmt haben, aber heute tat sie es nicht mehr. Rache würde Rosenblüte auch nicht wieder lebendig machen.

Plötzlich hörte er, wie jemand sich ihm näherte. Zuerst drehte er sich verwundert um, dich dann erkannte er das es Himmelssprung war. Leise setzte die weiße Kätzin sich neben ihn und legte ihren Kopf in sein Fell.

  »Es tut mir Leid mit deiner Mutter«, miaute sie mitfühlend und sah ebenfalls zur untergehenden Sonne, »Sie war eine wundervolle Kätzin und ich bin mir sicher, sie wäre eine wundervolle Großmutter für unsere Junge geworden.«

Eispelz nickte bedächtig. »Und eine wundervolle Mutter für ihre Jungen«, fügte er hinzu. Himmelssprung legte tröstend ihren Schweif auf seinen Rücken.

So saßen sie eine ganze Weile auf dem kleinen Hügel und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Schließlich wandte Eispelz seinen Kopf von dem Himmelskörper ab und sah zu seiner Gefährtin. »Ich bin froh, dass ich dich habe«, miaute er und warf ihr einen liebevollen Blick zu, »ich weiß nicht, wie ich ohne dich das alles durchhalten würde.« Himmelssprung erwiderte seinem Blick und schnurrte. »Mir geht es genauso«, meinte sie, »es tut gut, zu wissen, dass ich mich auch auf dich verlassen kann, wenn es mir einmal nicht gut geht.«

Und langsam schwanden Eispelzs Wut und Verzweiflung. Die Freude darüber, Himmelssprung als Gefährtin zu haben und die Freude, bald Vater zu werden lösten all die Gefühle ab, die sein Leben zerstört hätten. Und er wusste, dass seine Mutter es so gewollt hätte. Lebensfreude war ihr stets sehr wichtig gewesen. Sie hätte gewollt, dass ihr Sohn wieder glücklich würde.

Rußfell brauchte länger, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten. Auch wenn die Worte von Tüpfelbein ihr Hoffnung gegeben hatten, schwand diese langsam wieder. Zu groß war die Sehnsucht nach ihrer Mutter. Wie so oft wachte sie mit einem Gefühl auf, dass da etwas in ihrem Herzen fehlte. Ein Loch, dass sich durch nichts außer mit Rosenblüte füllen konnte. Aber Rosenblüte war nicht da.

Kirschblüte meinte, sie bräuchte einen Geführten. Oft erzählte sie Rußfell davon, wie Fuchsschweif ihr in schwierigen Situationen geholfen hatte. Aber Rußfell fühlte keine Liebe für auch nur einen Kater im ganzen Clan. Ihr Herz fühlte sich kalt und verschlossen an. Mühsam richtete sie sich auf. Sie trabte zum Frischbeutehaufen, aber merkte, dass sie gar keinen Hunger hatte.

Sie brauchte Nahrung für ihr Herz und nicht für ihren Magen. Wie von selbst trieben ihre Pfoten sie in die Kinderstube. Rußfell hatte Rosenblütes Jungen in den letzten Tagen oft besucht. Und sie glaubte, dass Fleckenschweif ganz froh darüber war, sie zu sehen und sich die Aufsicht über die Jungen zu teilen. Für die alte Königin war es schließlich nicht leicht auf sechs Junge gleichzeitig aufzupassen. Vor wenigen Sonnenaufgängen hatte sie ihre Jungen zur Welt gebracht. Sie waren etwas kleiner und schwächlicher als andere Jungen, das merke Rußfell auch ohne mütterliche Erfahrung.

Ein Geruch nach Milch und Moos strömte ihr entgegen, als sie die Kinderstube betrat. Rußfell sah, dass Fleckschweif neben ihren Jungen lag, während Rosenblütes Kinder auf ihrem Rücken herumtollten. Die alte Königin hob erfreut den Kopf, als sie sah, dass Rußfell sich näherte.

»Schön, dass du kommst«, miaute die schildpattfarbene Kätzin, wobei ihre Stimme erschöpft und müde klang,  »Natternjunges sucht jemanden zum Moosball spielen. Honigjunges will aber nicht und Gierschjunges spielt ohne sie nicht mit.« Rußfell schnurrte amüsiert. Sie mochte ihre Geschwister. Sie waren alle recht unterschiedlich und keines von ihnen erinnerte sie wirklich an Rosenblüte. Aber das störte sie nicht. Vermutlich würde es ihr sowieso mehr Schmerzen als Freude bereiten einem Ebenbild ihrer Mutter in die Augen zu sehen.

»Natternjunges«, rief sie, während sie mit den Pfoten eine Mooskugel formte,  »komm mal her!« Schlagartig sah das braune Junge zu ihr und seine Augen hellten sich auf. Auch die beiden anderen sprangen von Fleckengesichts Rücken und liefen begeistert zu Rußfell. Ehe die dunkelgraue Kätzin sich versah, hatte Natternjunges ihr die Kugel auch schon aus der Pfote gerissen. Honigjunges stürzte sich empört auf ihn, während Gierschjunges sich seinen Geschwistern eher zaghaft näherte.

Ein warmes Gefühl breitete sich in Rußfell aus, während sie bereits einen neuen Moosball formte. Die Zeit mit ihren Geschwistern war der Höhepunkt ihres Tages.  »Es tut ihnen gut, dass du kommst«, riss Fleckengesicht sie aus ihren Gedanken,  »Rosenblüte hätte es nicht viel besser machen können.«
Verwundert sah Rußfell die Königin an.  »Aber du bist doch ihre Ziehmutter«, erwiderte sie,  »du bist es, die sie brauchen.«

Doch Fleckengesicht schüttelte den Kopf.  »Ich kann ihnen nur Milch geben«, meinte sie, »die Liebe und Zuneigung, die du ihnen schenkst, ist aber das, was sie wirklich brauchen. Es ist das was eine gute Mutter ihren Jungen gibt.«
Rußfell wusste nicht wirklich, was sie sagen sollte. Sie ließ sich die Worte von ihrer Tante noch einmal durch den Kopf gehen. Und sie spürte, wie sich das warme Gefühl in ihr immer mehr ausbreitete. Sie spürte, wie der leere Fleck in ihrem Herzen langsam wieder gefüllt wurde. Sie hatte eine Familie. Und sie hatte ihr einen Dienst zu erfüllen. Es war ihre Aufgabe, Rosenblütes Stellung als liebevolle Mutter einzunehmen. Und sie war fest entschlossen, dass sie es schaffen würde.

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