Kapitel 62
Nachdem es die vergangenen Tage ununterbrochen geschneit hatte, war Glutherz wirklich erleichtert, dass er nun hier im Lager lag, ohne sich alle paar Herzschläge schütteln zu müssen, um die lästigen Schneeflocken aus seinem Fell zu vertreiben.
Der Himmel färbte sich langsam immer dunkler, die Sonne sank orangefarben am Horizont in den Schlaf. Erschöpft von dem anstrengenden Training an diesem Tag, nahm der rote Krieger einen großen Bissen von seinem Anteil des zähen Kaninchens, das er sich mit Wasserwirbel teilte. Fast ohne zu kauen schlang er es herunter. Ihm war bis zu diesem Moment gar nicht bewusst gewesen, welch enormen Hunger er hatte.
„Hast du eigentlich schon entschieden, wer dich begleiten wird, wenn wir die Ratten angreifen?", fragte Wasserwirbel überraschend. Bevor er antwortete, biss er erst ein weiteres Mal in das Kaninchen und schluckte dann würgend. Er hätte doch kauen sollen.
Seine Schwester betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn von der Seite. Sein Husten wollte nicht abflachen, er erwartete bereits, seine Mahlzeit wieder hochzuwürgen. Gerade als die getigerte Kätzin ihr Maul öffnete, wohl um ihn zu fragen, ob alles in Ordnung war, konnte er sich einigermaßen beruhigen. Sein Hals schmerzte.
Für einige Herzschläge, in denen er weder einen weiteren Bissen von der Frischbeute nahm, noch sonst irgendetwas tat, schwieg er. Dann besann er sich darauf, dass es eine Frage gab, auf die er noch antworten musste und miaute nach kurzem Zögern: „Nicht endgültig. Du willst mitkommen, schätze ich?"
Die silbern-weiße Kriegerin nickte und murmelte: „Flammenstern ist nicht die einzige, die Regenpelz rächen will."
Das konnte Glutherz nur zu gut verstehen. Auch seine eigenen Krallen gierten danach den Ungeheuern, die seinem Vater das Leben genommen hatten, das ihre zu nehmen. Vergeltung mochte keine sonderlich edelmütige Antriebskraft sein, doch das war ihm egal. Wenn er in zwei Sonnenaufgängen gegen die Ratten in die Schlacht ziehen würde, dann würde er das zum Großteil für seinen Vater tun.
„Ich werde versuchen, alle Katzen, die wirklich mitwollen, auch mitkommen zu lassen. Selbst wenn das bedeutet, dass auch Düstersturm und Flammenstern dabei sind", erwiderte er, sagte das aber mehr zu sich selbst als zu seiner Schwester. Diese schien mit seiner Antwort ziemlich zufrieden zu sein.
Nach einiger Zeit beschloss Glutherz, dass er seinen Anteil des Kaninchens nur weil er sich einmal verschluckt hatte, sehr wohl noch auffressen konnte und schlug seine Zähne in das zähe Fleisch. Es musste ein schon recht altes Tier sein, das in letzter Zeit kaum etwas zu fressen gefunden hatte.
Als er gerade den letzten Bissen verzehrte, traten plötzlich blaugraue Pfoten an den Rand seines Blickfelds. Glutherz hob seinen Kopf und blickte direkt in Blaumonds wunderschöne blaue Augen. Den ganzen Tag über hatte er sie noch nicht gesehen. Freudig sprang er auf und begrüßte sie Nase an Nase.
„Blaumond! Ich habe gerade aufgefressen, aber willst du etwas haben? Ich bringe dir gerne etwas", miaute er, doch seine Gefährtin schüttelte ihren Kopf. „Dämmerpfote hat mir schon etwas vorbeigebracht."
Stumm nickte der rote Krieger und blickte sich dann um, um festzustellen, ob sie die Jungen mit herausgenommen hatte. Die drei Kleinen waren nirgendwo zu sehen, wahrscheinlich schliefen sie schon.
„Was hältst du davon, wenn wir einen Spaziergang machen?", miaute Blaumond unvermittelt. Für einen Herzschlag war Glutherz verwirrt, dann nickte er. Monde waren vergangen, so schien es, seit er zuletzt mit Blaumond allein war.
Er verabschiedete sich von Wasserwirbel, die bereits Kieselpelz zu sich rief, um nicht allein zu Ende fressen zu müssen, dann trottete er zusammen mit seiner Gefährtin zum Lagereingang. Seepelz, der dort Wache hielt, nickte ihnen müde zu.
Die beiden liefen zwischen den Sträuchern, die das Lager begrenzten hindurch und trabten eine Weile schweigend durch den Wald, wobei Glutherz seiner Gefährtin die Führung überließ.
„Wo soll es eigentlich hingehen?", fragte er schließlich. Blaumond blieb auf der Stelle stehen, sie befanden sich ganz in der Nähe des schmalen Flusses, der durch das FeuerClan-Territorium floss, jetzt jedoch fast vollständig vereist war. Auch Glutherz hielt an und musterte die bläulich graue Königin eingehend. Die Erschöpfung war ihr anzusehen und sogleich war sich der rote Krieger nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, sie das Lager verlassen zu lassen.
„Ich habe kein direktes Ziel", erwiderte Blaumond und ließ ihren Blick über die verschneiten Bäume und Sträucher wandern. Die Sonne war in der Zwischenzeit untergegangen und gemächlich legte sich die Dunkelheit der Nacht über die Winterlandschaft. „Ich will einfach nur endlich wirklich mit dir reden können."
Glutherz runzelte irritiert die Stirn, außer Stande, zu verstehen, wie seine Gefährtin das meinte. Doch bevor er sie um eine Erklärung bitten konnte, fuhr sie bereits fort: „Du hast mich kein einziges Mal gefragt, wie es mir geht, während Gelbfang so krank war. Und du hast mir nicht erzählt, wie du dich fühlst wegen Regenpelz' Tod. Und als du vor einiger Zeit aufgelöst in die Kinderstube gestürzt bist, hast du seltsame Dinge gesagt, die du mir nie erklärt hast." Die junge Königin trat ein paar Schritte auf ihn zu, sodass sie sich direkt gegenüberstanden. „Ich habe gedacht, dass du irgendwann bereit sein würdest, darüber zu sprechen. Aber jetzt habe ich Angst, dass du das niemals sein wirst. Du stürzt dich in Pläne, deren Ausgang ungewiss ist und du planst einen Kampf, an dessen Ende das Blut des ganzen Clans die Erde tränken könnte. Aus Rache. Glutherz, ich mache mir Sorgen um dich!"
Sprachlos starrte Glutherz in Blaumonds tiefblaue Augen. Die Zeit schien still zu stehen, während er angespannt nach einer Antwort suchte. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Denn Blaumond hatte recht. Er hatte es nur nicht bemerkt.
„Wie geht es dir wegen Gelbfang?", stotterte er und seine Gefährtin seufzte genervt. Glutherz wunderte sich, ob er etwas falsches gesagt hatte. „Beim SternenClan! Glutherz, sie lag im sterben! Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe? Es war grauenvoll! Ich dachte, ich würde sie verlieren! Ich habe ihr versprochen, mich um Bussardjunges wie um meine eigenen Jungen zu kümmern, der Arme hätte beinahe seine Mutter verloren! Und du bist gar nicht auf die Idee gekommen, wie sehr mir das zugesetzt hat!", fauchte sie.
Es kam ihm vor wie ein Schlag ins Gesicht, als Blaumond ihn so anklagend anschaute. Verzweiflung lag in ihrer Stimme.
„Ich hatte ja keine Ahnung...", begann er, doch Blaumond unterbrach ihn. „Natürlich hattest du die nicht, schließlich bist du ein Kater!" Nach diesen Worten schien die junge Königin sich etwas zu beruhigen. Ermüdet ließ sie sich in den glitzernden Schnee fallen und bedeutete ihm mit einem Kopfnicken, es ihr gleichzutun. Seine bis zur Hälfte im Schnee versunkenen Beine fühlten sich steif an, als er sich neben sie setzte. Die Kälte fraß sich sofort in seinen Bauch, als dieser das kalte Nass berührte.
Während er noch darüber nachgrübelte, was er nun sagen konnte, murmelte sie: „Aber lassen wir das. Gelbfang ist auf dem Weg der Besserung, sie wird es schaffen." Stumm stimmte der rote Krieger ihr zu. Es schockierte ihn noch immer, dass er so ignorant gewesen war. Natürlich war Blaumond am verzweifeln gewesen! Ihre Schwester wäre beinahe gestorben. Und er hatte nur über seinem Plan gebrütet und war nicht für sie da gewesen.
„Trotzdem will ich noch immer wissen, wie du Regenpelz' Tod verkraftest. Auch ich habe ihn sehr gern gehabt, für mich gehörte er schon zur Familie, lange bevor ich mich in dich verliebt habe. Aber er war DEIN Vater. Und deswegen muss es für dich viel schlimmer sein als für mich", miaute sie und beobachtete dabei genauestens jede Regung in seinem Gesicht.
Glutherz schluckte schwer. Bisher hatte er ausschließlich Flammenstern gegenüber überhaupt ansatzweise seine Trauer um seinen Vater gezeigt. Die meiste Zeit über, versuchte er, nicht daran zu denken. Daran, dass er nicht mehr da war. Dass diese elenden Ratten ihn aus seinem Leben gerissen hatten. Die Wut auf die dunklen Ungetüme kochte wieder in ihm hoch.
„Mein Vater ist tot. Und ich hätte seinen Tod verhindern können, wenn ich nur rechtzeitig die Ratten besiegt hätte, schließlich liegt das in meinen Pfoten! Ich muss sie besiegen! Und weil ich das noch nicht geschafft habe, ist er tot", flüsterte er stockend. Blaumond kniff verwirrt die Augen zusammen.
„Wovon sprichst du überhaupt? Wieso solltest du irgendetwas dafür können, dass die Ratten ihn getötet haben?", miaute sie mit gerunzelter Stirn. Erst jetzt wurde Glutherz klar, wie sehr sie doch recht gehabt hatte. Kaum etwas hatten sie sich noch erzählt, seit er von den Jungen erfahren hatte und erst recht, seit die drei geboren waren. Blaumond wusste nichts von der Prophezeiung! Er zögerte einen Augenblick, da ihm bewusst war, dass er eigentlich kein Wort darüber verlieren sollte. Aber jetzt, wo er angefangen hatte, hatte es keinen Sinn mehr, die Wahrheit für sich zu behalten.
„Der SternenClan hat mir das gesagt. Ich habe vor einiger Zeit eine Prophezeiung erhalten... bisher konnte ich dir nicht davon erzählen. Nur ich kann die Ratten besiegen", erklärte er und leckte sich verlegen das Brustfell. Es war ihm unangenehm, es so lange vor Blaumond geheim gehalten zu haben.
Die blaugraue Kätzin legte den Kopf schief. Sie hatte die Augen bestürzt aufgerissen. „Das hat dir der SternenClan gesagt? Das ist grausam!"
Glutherz schnaubte. „Wem sagst du das", brummte er. Dann schwiegen sie für einige Herzschläge.
„Ist dir klar, dass Herbstblatt tot wäre, wenn du Regenpelz gerettet hättest? Und ich wahrscheinlich auch. Immerhin ist er gestorben, als du uns vor Apfelteich gerettet hast!" Eindringlich blickte seine Gefährtin ihn an, tiefe Sorge lag in ihren wunderschönen Augen. Glutherz nickte stumm. „Das mag sein. Doch es ändert nichts an meiner Trauer. Ich habe ihm nie gesagt, was für ein toller Vater er war. Und jetzt sehe ich meine Geschwister, die Jungen, die ihren Vater nie kennen lernen dürfen. Genau wie unsere Jungen ihren Großvater nur aus Geschichten kennen werden. Das tut weh, denn es wäre nicht nötig gewesen. Wenn nur diese krähenfraßfressenden Ratten nicht wären!"
Aufmunternd leckte Blaumond ihm über die Wange. „Deswegen willst du sie unbedingt tot sehen", stellte sie wenig überrascht fest. Schwerfällig setzte sie sich auf und lehnte sich dann an ihn. „Das kann ich verstehen. Aber ich habe Angst, dass du, wenn du bald zu diesem Kampf aufbrichst, vielleicht nicht mehr wiederkehrst."
Glutherz blickte Blaumond tief in die Augen. Mit fester Stimme erwiderte er: „Das wird nicht geschehen." Er sagte es so, als wäre das ein unumstößlicher Fakt und keine Hoffnung. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich wirklich sicher war. Er würde in diesem Kampf nicht sein Leben verlieren. Keine Katze würde das. Dafür würde er größte Sorge tragen.
Gerade als Blaumond etwas entgegnen wollte, rieselte plötzlich eine Ladung Schnee von dem Strauch, neben dem sie saßen. Überrascht sprang Glutherz, genau wie Blaumond, beiseite und schüttelte sich. Verwirrt blickte er sich um. Schnee fiel im Normalfall nicht einfach so von Sträuchern oder Bäumen herab, zumindest nicht bei dieser eisigen Kälte, bei der er seine Atemwolken sehen konnte.
Während er sich jedoch noch nach dem Auslöser umblickte, schien Blaumond plötzlich auf eine Idee gekommen zu sein. Völlig überraschend traf ihn in diesem Moment nämlich Schnee, den seine Gefährtin in seine Richtung scharrte.
„Hey!", beschwerte er sich schnaubend. Jegliche Angespanntheit fiel von ihm ab, als er herumwirbelte und mit großen Sprüngen um seine Gefährtin herumrannte. Immer wieder warf er Schnee mit seinen Hinterpfoten nach ihr, während sie weiter ihren Schnee auf ihn scharrte.
„Na warte!" Im Wissen, dass er so schlussendlich verlieren würde, ließ er den Schnee Schnee sein und sprang zu Blaumond. Er gab ihr einen leichten Schubs, der sie ganz unerwartet traf, woraufhin sie zur Seite kippte und durch den Schnee rollte. Schnurrend beugte er sich über sie, als sie mit den Pfoten nach ihm schlagend liegen blieb.
„Das war unfair!", erklärte sie schnurrend. Dann rollte sie herum und stand prompt, viel schneller als Glutherz erwartet hätte, wieder auf ihren Pfoten.
Beide atmeten schwer, als sie sich nebeneinander wieder in den Schnee setzten. Ihre Pelze waren durchtränkt von eisigem Schnee und Klumpen hingen darin. Doch das störte sie nicht, denn sie waren glücklich. Fröhlich, weil sie einfach zusammen sein konnten.
Schlagartig änderte sich Blaumonds Miene jedoch, gerade, als er ihr den Schnee vom Ohr leckte. „Du hast mir noch immer nicht erzählt, was dich vor kurzem so aufgeregt hat", bemerkte sie, was dem roten Krieger einen übertriebenen Seufzer entlockte. Noch war es ihnen wohl nicht vergönnt, einfach nur glücklich zu sein.
Grübelnd stellte er fest, dass er erst vor kurzem – ob es nun am vergangenen oder vor mehreren Sonnenuntergängen gewesen war, wusste er gar nicht mehr, da er die Zeit gerade nicht gut einschätzen konnte – versprochen hatte, keine weiteren Katzen in das Geheimnis um die Wiedergeburten einzuweihen. Durfte er dieses Versprechen brechen?
„Ich hatte Angst, dass du mich nicht wirklich liebst", murmelte er, da dies ja der Wahrheit entsprach. Er wusste im selben Herzschlag jedoch, dass er ihr nicht alles erzählen konnte. „Sondern nur den, der ich einst war. Es war Schwachsinn, das ist mir jetzt klar. Doch zu dem Zeitpunkt war mir einfach alles zu viel." Was er sagte war komplett korrekt. Das wusste er. Trotzdem schmerzte es, seine Gefährtin mit Halbwahrheiten abspeißen zu müssen.
„Oh Glutherz", miaute Blaumond daraufhin und berührte seine Nase mit der ihren. „Du weißt doch, dass ich dich immer lieben werde. Wir sind füreinander geschaffen, du und ich. Wir beide haben immer zusammengehört und so wird das auch immer bleiben. Ich glaube, so ist das in den Sternen vorherbestimmt. Du und ich, wir sind eins. Und das wird sich niemals ändern."
Bei ihren Worten machte Glutherz' Herz einen Satz. Wie sehr er diese Kätzin doch liebte! Und wie sehr sie ihn liebte. Tatsächlich, wie hatte er nur jemals daran zweifeln können? Es war egal, was Blaustern und Eichenherz gewesen waren. Nun waren sie Blaumond und Glutherz. Niemals könnte ihre Liebesgeschichten sich messen, denn beide waren auf ihre weise unbeschreiblich. Doch er hatte das Glück, Blaumond wirklich lieben zu können.
„Und ich werde dich auf ewig lieben. Das könnte nicht einmal der SternenClan ändern", hauchte er gegen ihre Wange. Ihre Atemwölkchen vermischten sich und stiegen zusammen zum klaren Nachthimmel empor. Es war unmöglich, einen Unterschied innerhalb dieser Wolke zu entdecken.
Ja, ich lebe noch. Kaum zu glauben, oder? Ich werde mich jetzt aber auch nicht großartig entschuldigen. Das Leben geht nun einmal vor.. Ich bin nur froh, dass ihr mich unterdessen noch nicht aufgegeben habt... zwei einhalb Monate sind eine lange Zeit. Leider kann ich jedoch vorerst keine Besserung versprechen.
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