Kapitel 6
„Geh in den Kriegerbau, wo du hingehörst. Du stehst hier wirklich nur im Weg und dadurch werden sie auch nicht schneller gesund!“, befahl Rottupf genervt und baute sich vor ihm auf. Glutherz blinzelte überrascht. Hatten sie das nicht schon kurz vor Mondhoch geklärt? „Aber ich…“, murmelte er protestierend. Sein Gähnen unterbrach ihn.
„Du bist doch müde, da brauchst du mir überhaupt nichts anderes erzählen. Geh schlafen!“, miaute die getüpfelte Heilerin bestimmt und deutete mit dem Schweif auf den Ausgang. Ihre Bernsteinaugen funkelten genervt im Mondlicht. Regenpelz war schon vor einer ganzen Weile verschwunden, als Rottupf das zweite Mal darum gebeten hatte. Doch Glutherz würde nicht weichen, bevor es Blaumond und auch Flammenstern wieder gut ging. Stur schüttelte er den Kopf. Heute würde er nicht auf sie hören. Die Heilerin seufzte und wandte sich kopfschüttelnd von ihm ab.
„Wenn du nicht schlafen willst, tue ich es. Weck mich, falls sie unruhig werden oder aufwachen“, murmelte Rottupf, kehrte ihm den Rücken zu und verschwand zwischen den Farnen in Richtung ihres Felsens.
Das Licht des fast vollen Monds erhellte die klare, kalte Nacht. Der Wind zerzauste unaufhörlich Glutherz‘ Fell. Die Farne knisterten und über ihm rauschte das spärliche Blattwerk der Buchen während des Blattfalls. Unaufhörlich fielen Blätter vom Wind getrieben zu Boden. Flammenstern zitterte bitterlich in ihrem Nest. Am liebsten hätte Glutherz irgendetwas unternommen, damit seiner Mutter nicht so kalt war, doch Rottupf hatte gemeint, dass sich die flammenfarbene Anführerin bald erholen würde, auch ohne dass sie jemand wärmte. Auch wenn er dem Urteil der Heilerin vertraute, zog sich sein Magen unwillkürlich zusammen, als er Flammenstern betrachtete. Als Rottupf ihr die Knochen aus dem Rücken gezogen hatte, war das das schrecklichste gewesen, was Glutherz bis dahin gesehen hatte. Und das hieß schon etwas, schließlich hatte er wie alle anderen Kämpferherz gesehen, als er frisch verwundet war. Noch heute trug der gescheckte Krieger fleischige Narben am ganzen Körper, die an seinen Kampf gegen die Hunde erinnerten. Er war damals erst ein Schüler gewesen und hatte seinen Kriegernamen bekommen, als er fast gestorben wäre. Glutherz konnte nicht verstehen, wieso seine Mutter gerade diesem Kater, der durch die Hunde beinahe sein Leben verloren hätte, Kekspfote zum Schüler gegeben hatte.
Glutherz schüttelte den Kopf, als er merkte, dass seine Gedanken immer weiter abdrifteten. Er durfte jetzt nicht einschlafen! Was, wenn es Blaumond oder Flammenstern schlechter gehen würde, ohne dass es jemand bemerkten würde? Entschlossen blickte er zu dem Nest seiner Gefährtin. Ihre Flanken hoben und senkten sich regelmäßig. Kleine Atemwölkchen stiegen von ihrer Schnauze auf und wurden von dem Wind aus dem Lager hinaus getragen. Es schien der blaugrauen Kätzin besser zu gehen, sie wirkte nicht mehr so angespannt.
Als er Blaumond so betrachtete schweiften seine Gedanken ab zu dem vergangenen Tag. Sie erwartete Junge! Seine Junge! Freudige Erwartung machte sich in seiner Brust breit und überlagerte die Sorge um seine Gefährtin und seine Mutter. Rottupf hatte gemeint, dass den Jungen nichts zugestoßen war und dass sich Blaumond, auch wenn ihr Bein angebrochen war, bald erholen würde. Und dann würden sie Junge haben! Er musste es seinen Freunden erzählen! Seine Schwester Ahornblatt, seine Eltern und Laubsprenkel wussten es ja schon. Aber Winterschweif hatte noch keine Ahnung. Und auch Wasserwirbel. Was wohl Streifenfluss sagen würde? Schließlich waren er und Blaumond ja wie Wurfgeschwister! Gelbfang würde sich bestimmt freuen, schließlich bekam ihr Sohn Bussardjunges weitere Spielkameraden, die sogar mit ihm verwandt waren. Es würde eine tolle Zeit werden, die kleinen aufwachsen zu sehen, da war sich der rote Kater sicher. Wie sie wohl aussehen würden? Er hoffte, eines würde Blaumonds wunderschöne Augen erben. Ein tiefes Schnurren stieg aus seiner Kehle auf. Sobald es seiner Gefährtin besser ging, mussten sie sich Namen überlegen.
Ruckartig erwachte Glutherz aus seinem Traum. Ratten hatten ihn verfolgt. Überall waren Ratten gewesen. Die Prophezeiung hallte immer wieder in seinem Gedächtnis wider. ‚Das Vermächtnis des Feuers im Herzen der Glut bekämpft tapfer der falschen Katze Wut. Die dunklen Monster er allein kann besiegen, ein Fehlschlag und er muss sein Blut in den Tode wiegen!‘ Unkontrolliert zitternd öffnete der rote Kater die Augen. Erste Sonnenstrahlen erhellten den blassblauen Horizont. Wann war er eingeschlafen? Farne knisterten um ihn herum im Wind. Blätterrauschen über ihm. Das war nicht der Schülerbau… nein, er hätte nun ja im Kriegerbau sein sollen! Aber auch dort war er nicht. Nur ganz entfernt konnte er den Duft der vertrockneten Heidelbeeren wahrnehmen. Flüsternde Stimmen unterhielten sich etwas entfernt. Langsam beruhigte sich Glutherz. Hier waren keine Ratten. Er war in Sicherheit.
Neugierig blickte er sich um, noch immer war er sich nicht sicher, wo er sich befand. Golden-grüner Farn ragte um ihn herum auf. Regelmäßiger Atem kam von zwei Nestern vor ihm. Flammenstern und Blaumond! Sofort erinnerte er sich an die Ereignisse des vergangenen Tages. Und nun wusste er auch, wo er sich befand. Er war im Heilerbau, wo er eigentlich auf die beiden verletzten Kätzinnen aufpassen gewollt hatte. Vor schlechtem Gewissen zog sich sein Herz zusammen. Wenn nun einer von ihnen etwas geschehen war, während er geschlafen hatte? Vorsichtig trat er näher zu den beiden, trockenes Laub knisterte unter seinen Pfoten. Sowohl Blaumond als auch Flammenstern atmeten regelmäßig. Seine Mutter hatte aufgehört zu zittern. Ob es ihr wohl besser ging? Besorgt bemerkte er, dass ihr ganzer Rücken mit Spinnenweben und unangenehm riechenden Kräutern bedeckt war. In der vergangenen Nacht war es recht dunkel gewesen und außer den Knochen, die Rottupf entfernt hatte, hatte er kaum etwas von ihrer Verletzung gesehen.
Ein Schaudern lief Glutherz‘ Rücken hinab. Er konnte gar nicht glauben, dass eine Katze solch schreckliche Verletzungen überleben konnte. Ob sie wohl ein Leben verloren hatte, während er geschlafen hatte? Bei dem Gedanken zuckte der feuerrote Kater zusammen. Nein, das konnte nicht sein. Dann wären ihre Wunden doch verheilt! Etwas panisch beugte er sich zu der flammenfarbenen Anführerin hinab und schnupperte an ihrem Fell. Noch immer klebte Rattenblut in ihrem Pelz, weshalb er angeekelt zurückschreckte.
„Geht es ihr besser?“, miaute plötzlich eine vertraute Stimme hinter dem roten Kater. Überrascht wandte sich Glutherz von seiner Mutter ab und warf einen Blick über seine Schulter. Staubwolke erschien zwischen den Farnen, sein rötlich schildpattfarbener Pelz ließ sich kaum von den goldenen Farnwedeln unterscheiden. Die klaren, blauen Augen des Zweiten Anführers funkelten besorgt, als er näher trat. „Ich weiß nicht…“, murmelte Glutherz schuldbewusst. Wenn er doch nur nicht eingeschlafen wäre!
Staubwolke schüttelte nur nachdenklich den Kopf und betrachtete seine Schwester. „Sie wird es schaffen. Sie hat noch acht Leben“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu dem roten Kater. Glutherz trat einen Schritt zurück neben Blaumond, die sich im Schlaf unruhig hin und her warf.
Vorsichtig berührte Staubwolke seine Schwester am Ohr und murmelte unverständliche Worte, bevor er sich zu dem jungen Krieger umwandte. „Bist du wirklich die ganze Nacht hier gewesen?“, wollte er mit strengem Blick wissen. Glutherz nickte überrascht und schaute auf seine Pfoten. Er hoffte inständig, dass sein ehemaliger Mentor ihn nicht fragen würde, ob er auch die ganze Nacht wach war.
„Dann geh jetzt in den Kriegerbau und ruh dich aus. Blaumond und Flammenstern sind bei Rottupf in besten Pfoten“, miaute der schildpattfarbene Krieger sanft und deutete mit einem Nicken in Richtung des Ausgangs zum Lager. Protestierend blickte Glutherz auf. „Aber…!“, begann er, doch Staubwolke brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. „Ich brauche in dieser gefährlichen Zeit alle meine Krieger. Und zwar ausgeruht und gesund. Du gehst jetzt in den Kriegerbau und ruhst dich etwas aus. Ich will, dass du dich Apfelteichs Jagdpatrouille anschließt, sobald die Sonne aufgegangen ist.“ Staubwolkes ernster Blick ließ keinen Widerspruch gelten.
Glutherz wollte noch einmal versuchen den zweiten Anführer umzustimmen, als er von einer hellen Stimme unterbrochen wurde. „Staubwolke hat Recht. Geh schlafen, wir kümmern uns um die beiden“, miaute Rottupf zwischen die Farne hindurch. Sie musste ihr Gespräch belauscht haben. Suchen blickte sich der junge Kater nach der gescheckt-getüpfelten Heilerin um, konnte sie aber nicht entdecken. „Sie ist gerade bei Bienenfell und kommt gleich!“, quiekte überraschend ein Junges unter Glutherz. Verwirrt schaute er zu Boden und wäre dabei beinahe mit der Schnauze gegen Mondjunges aufgeregt in die Höhe gestreckten Kopf gestoßen. Der weiß-graue Kater blinzelte fröhlich und legte den Kopf schief. Was machte das Junge nun schon wieder hier?, fragte sich Glutherz. Er verstand weder, wieso eine so junge Katze so früh am Morgen wach war, noch, was sie hier wollte.
Bittend schaute er sich nach Staubwolke um und sah gerade noch, wie die Schwanzspitze des Katers zwischen den Farnen verschwand. Seufzend wurde Glutherz klar, dass Widerspruch in diesem Fall zwecklos war. Er würde sich der Jagdpatrouille anschließen müssen. Ob er nun wollte oder nicht.
„Du bist ja immer noch da“, stellte Rottupf zerstreut fest. Ihr getüpfelter Kopf erschien zwischen den knisternden, noch vom Tau nassen Farnen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen setze sie sich neben Flammenstern und begann abwesend, die Spinnenweben und Kräuter von dem Rücken der flammenfarbenen Kriegerin zu entfernen. „Mondjunges, ich brauche Mohnsamen, Binse, Bilsenkraut, Rosmarin, Ginster und Klettenwurzel. Du findest alles an denselben Stellen wie immer, ich habe nur die Mohnsamen etwas weiter hinter geschoben als sonst, in Ordnung?“, erklärte die Heilerin ohne ein einziges Mal aufzublicken. Mondjunges nickte artig, bis er merkte, dass die Kätzin ihn überhaupt nicht sehen konnte. „Ja, mach ich. Aber… ähm… wie sieht Rosmarin nochmal aus?“, murmelte der kleine Kater unsicher, als er schon fast zwischen den Farnen verschwunden war.
„Ein immergrüner buschig verzweigter Strauch, der stark duftet“, brummte Rottupf und blickte noch immer nicht auf. Sie schien mit ihren Gedanken in weiter Ferne zu sein, als sie auf einmal in ihrer Arbeit inne hielt. Ihr ganzer Körper wirkte auf einmal steif und verkrampft. Ihr Atem ging stoßartig.
„Alles… alles in Ordnung?“, miaute Glutherz besorgt und trat näher an die junge Heilerin heran. Diese bewegte sich nicht und gab keinen Ton von sich. Das Fell des roten Katers prickelte vor Sorge. Was geschah hier gerade?
„Nein…“, hauchte die Heilerin, noch immer ohne sich zu bewegen. „Rottupf?“, raunte Glutherz fast ängstlich. War etwas mit Flammenstern? Sie war doch nicht Tod, oder? Nein, das konnte nicht sein, dafür hatte sie noch zu viele Leben. Trotz diesem Wissen, empfand der Kater keinerlei Erleichterung. Wenn mit Flammenstern alles stimmen würde, dann wäre daraus zu schließen, dass Rottupf etwas anderes gesehen hatte. Eine Prophezeiung, ein Zeichen? Oder hatte sich die Heilerin in irgendeiner Weise verletzt?
Glutherz verkrampfte sich vor Sorge. Er durfte jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu haben. Mit schnellen Schritten lief er um die beiden Kätzinnen herum, sodass er Rottupf gegenüber stand. Noch immer rührte sich die Heilerin keine Schnurrhaaresbreite.
Der rote Kater konnte von seinem neuen Standpunkt aus nun sehen, dass die Bernsteinaugen der Heilerin abwesend auf Flammensterns Körper starrten. Sie blinzelte nicht. Es wirkte fast, als wäre sie überhaupt nicht da, als wäre ihr Körper nur eine leere Hülle. Und ihr Geist wäre bei ihren Ahnen. War es etwa wirklich ein Zeichen oder eine Prophezeiung?
„Ik… ab alle… wa tu woll… ts!“, nuschelte Mondjunges durch mehrere Kräuterbündel hindurch. Der Kopf des Jungen erschien an der Stelle zwischen den Farnen wieder, wo er zuvor verschluckt worden war.
Ein plötzlicher Ruck fuhr durch Rottupfs Körper, als die Stimme des Jungen erklang. Vollkommen erschöpft blickte sie schwer atmend auf, direkt in Glutherz‘ Augen. Sie keuchte.
„Geh in den Kriegerbau. Sofort!“, blaffte die Heilerin. Ihre Gesichtszüge wirkten hart und unnachgiebig. Trotzdem schien sie auch so verletzlich, wie Glutherz es noch nie bei der Schwester seiner Gefährtin gesehen hatte.
„Bin… schon weg“, miaute Glutherz eingeschüchtert und trottete, mit einem letzten Blick auf Blaumond und Flammenstern davon. Mondjunges blickte nur verwirrt zwischen den Katzen hin und her.
Glutherz trottete erst langsam, doch dann lief er immer schneller, bis er am Ende fast aus dem Heilerbau hinausrannte. Die taunassen Farne strichen über sein Fell. Die wenigen verbleibenden Blätter der drei Buchen raschelten über ihm. Die kleine Lichtung, die zwischen Rottupfs Bau, den Farnen und dem kleinen Teich lag, war leer, keine Katze war vor Sonnenaufgang bei der Heilerin, die nicht krank war. Von Mondjunges mal abgesehen.
Als Glutherz zwischen dem Rinnsal und einigen Farnen hindurch in das Lager lief, wäre er beinahe mit Herbstblatt zusammengestoßen. Beide konnten gerade noch anhalten, als sie einander erblickten. „Glutherz? Was machst du so früh am Morgen im Heilerbau? Warst du schon bei Flammenstern um sie zu besuchen? Ich habe gerade von Staubwolke erfahren, dass sie letzte Nacht schwer verwundet ins Lager getragen worden ist. Wie geht es ihr? Sie hat doch kein Leben verloren, oder? Ist ihr Bauch verwundet?“
Überrumpelt von den vielen Fragen der Königin, blinzelte der rote Krieger erst mehrfach. Nach kurzem Überlegen, antwortete er wenig wortgewandt: „Ähm… also… ich war die ganze Nacht bei Blaumond und Flammenstern, um auf sie aufzupassen. Ich weiß nicht, ob sie ein Leben verloren hat… wieso soll ich Bauch verwundet sein?“
Herbstblatt schüttelte nur den Kopf, als wäre das Ganze vollkommen offensichtlich. „Ihrem Bauch geht es gut?“, frage sie noch einmal und der rote Kater nickte nur verwirrt. Erleichtert atmete die dunkelbraun-weiße Kätzin aus. „Und wie geht es Blaumond?“, fragte sie noch, auch wenn es sie um einiges weniger zu interessieren schien, was Glutherz schon etwas verwunderte. War es nicht Herbstblatt gewesen, die sich um Blaumond, Rottupf, Gelbfang, Kämpferherz und Streifenfluss gekümmert hatte, als diese als Junge ihre Eltern verloren hatten?
„Angebrochenes Bein. Rottupf meint, es wird verheilen“, antwortete Glutherz knapp und zwängte sich ohne ein weiteres Wort an der Königin vorbei. Er brauchte jetzt die Gelegenheit um nachzudenken und dabei konnte ihm eine freundliche Unterhaltung mit Herbstblatt sicherlich nicht helfen.
Zielstrebig trottete er zum Kriegerbau. Die Sonne ging bereits auf, stellte er seufzend fest. Apfelteich würde ihn bestimmt bald zu der Patrouille rufen.
Wenn der Tag so weitergehen würde, wie er angefangen hatte, würde das ein noch aufwühlenderer werden, als der vergangene es gewesen war. Und das musste schon etwas bedeuten.
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