Kapitel 39
Kampfbereit stand Ahornblatt im Eingang des Lagers. Immer wieder warf Flammenstern sorgenvolle Blicke in die Richtung ihrer Tochter. Was, wenn die Ratten nun angreifen würden? Es war nur eine einzige Katze im Lager, die kämpfen konnte! Die flammenrote Anführerin schnaubte wütend. Wie hatte Polarlicht nur so unvorsichtig sein können, so viele Katzen auf Patrouille zu schicken? Es war nicht mehr mal ein Schüler da, den sie hätten losschicken können. Außer vielleicht Mondpfote, aber dieser wurde im Heilerbau nach Rottupfs Worten dringend gebraucht. Und außerdem hätte er sich nicht verteidigen können, falls er unterwegs angegriffen worden wäre.
Der starke Wind, der die Pelze der Katzen zerzauste und immer wieder Zweige von Sträuchern und Bäumen riss, nur um sie dann mit gefährlicher Geschwindigkeit durch die Luft zu wirbeln, machte es ihnen außerdem unmöglich, die Ratten zu riechen, falls sie bereits in der Nähe waren. Flammenstern hoffte inständig, dass Apfelteich etwas entfernt auf die dunklen Tiere getroffen war und sie nicht direkt zum Lager geführt hatte. Wobei sie nicht daran glaubte, dass ihr Clan einmal von solchem Glück gesegnet sein sollte.
Als die Efeuranken hinter ihr raschelten, zuckte Flammenstern, die auf einer der Wurzeln vor ihrem Bau saß, zusammen. Ratten? Nein, natürlich nicht, wie sollten diese in ihren Bau gelangen, ohne das es jemand bemerkte. Mit einem lauten Seufzer stieß sie die Luft, die sie ohne es überhaupt zu bemerken, angehalten hatte, aus. Über die Schulter hinweg funkelte sie Düstersturm, der das natürlich nicht sehen konnte, genervt an. Wie konnte er ihr solch einen Schrecken einjagen!
„Flammenstern?“, miaute der blinde Kater zögernd. Seine Nase zuckte, als er versuchte ihren Standort auszumachen. „Hier“, brummte sie, da sie wusste, dass es sonst etwas länger dauern würde, bis sie endlich erfuhr, was es mit Apfelteich und den Ratten auf sich hatte. Der schwarze Älteste trottete sofort auf sie zu, als er ihre Stimme erkannte. Beeindruckt beobachtete die flammenrote Königin, wie der Kater, ohne auch nur ein einziges Mal gegen eine der vielen knorrigen Wurzeln zu stoßen, auf sie zukam.
Hätte sie sich nicht so schwerfällig gefühlt, wäre Flammenstern von ihrer Wurzel herabgesprungen. So aber blieb sie einfach dort sitzen, während Düstersturm etwas orientierungslos vor ihr stand. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar zu werden schien, dass sie auf er Wurzel sitzen musste und er seine blicklosen Augen hob.
„Hat sie dir etwas erzählt? Wo ist sie auf die Ratten getroffen? Und was hatte sie überhaupt außerhalb des Lagers zu suchen?“, wollte die Anführerin wissen. Ihr Schweif, der von der Wurzel herabhing, aber dank der fehlenden Schwanzspitze den Boden nicht berührte, pendelte in ihrer Anspannung hin und her. Der blinde Kater sah dies natürlich nicht, bemerkte ihre Rastlosigkeit wahrscheinlich trotzdem, denn er kam sofort zum eigentlichen Thema, ohne groß um die warme Maus zu reden. „Sie muss etwas oberhalb von dem Teich gewesen sein, der sich dank Rabensturms Graben gebildet hat. Du weißt schon, der Tümpel östlich vom Lager.“ Ihm war anscheinend nicht klar, dass sie sich als Anführerin sehr wohl in ihrem eigenen Territorium auskannte. Da sie aber nicht wollte, dass ihr diese wichtigen Informationen noch länger nicht bekannt waren, beließ sie es bei einem Augenrollen, was ihr Clangefährte natürlich nicht bemerkte.
„Sie meint, dass sie es im Lager nicht mehr ausgehalten hat und deswegen spazieren gehen wollte“, fügte er hinzu, was Flammenstern hellhörig werden ließ. Es war dieser Unterton in Düstersturms Stimme, der dafür sorgte, dass sie die Augen zu schlitzen verengte und den Kater aufmerksam musterte.
„Du glaubst ihr nicht“, stellte sie fest. Es war kein Vorwurf oder Ähnliches in ihrer Stimme, trotzdem zuckte der Blinde zusammen. Dann nickte er zögernd. Für Flammenstern war sofort klar: Wenn nicht einmal Apfelteichs Gefährte ihr glaubte, dann war in ihrer Geschichte etwas faul. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Was konnte Apfelteich wirklich im Wald gewollt haben. Wie konnte sie einer Begegnung mit den Ratten fast ohne Verletzungen entkommen sein?
Da die Kätzin wirklich keine Ahnung hatte, wie sie mit diesem Wissen umgehen sollte, kam für sie nur eine einzige Möglichkeit in Betracht. Apfelteich musste Kekspfote getroffen haben, der sie dann vor den Ratten verteidigt hatte. Doch wieso sollte sie das geheim halten? Schon wieder ergab die Theorie keinen Sinn.
Gerade, als sie Düstersturm bereits bitten wollte, Apfelteich weiter zu befragen, raschelte es im Eingang des Lagers. Sofort blickte sie zu Ahornblatt, die dort mit gesträubtem Fell und ausgefahrenen Krallen stand und ein drohendes Fauchen ausstieß. Auch das feuerrote Fell der Anführerin sträubte sich. Kamen nun die Ratten? Kurz huschte ihr Blick durch die Senke, nur um sicherzustellen, dass zumindest die Jungen versteckt waren. Außer Ahornblatt, Fischschweif, Lahmpelz und Düstersturm war niemand zu sehen. Wenn das alle Katzen waren, die der FeuerClan in diesem Augenblick zur Verteidigung hatte, dann waren sie verloren. So viel war klar.
Die Holunder- und Heidelbeersträucher erzitterten und die langen Ruten der Weide schlugen gegeneinander, als fünf Katzen ins Lager gestürmt kamen. Sofort atmete Flammenstern erleichtert aus. Das war kein Angriff. Ihre Clangefährten waren ihnen zur Hilfe geeilt.
Staubwolke, der die Patrouille anführte, lief beinahe in Ahornblatt, die ihre Verteidigungshaltung noch nicht aufgegeben hatte, hinein. Kurz blickten sich beide überrascht an, bevor die junge Kriegerin erleichtert zur Seite trat.
„Wir werden nicht angegriffen, oder?“, miaute Düstersturm, der die Katzen ja nicht sehen konnte unsicher. Der Wind wehte alle Gerüche von ihnen weg, weshalb er sie auch durch seine geschärften Geruchssinn nicht erkennen konnte. Die Kätzin schnurrte belustigt, bevor sie erklärte: „Du würdest das hören, wenn wir angegriffen werden würden.“ Der Krieger runzelte die Stirn, dann nickte er. „Da hast du wohl Recht.“
Flammenstern richtete ihren Blick wieder auf die ankommenden Katzen. Staubwolke hatte Regenpelz, Fliederpfote, Glutherz und... konnte das wahr sein? Gehörte dieses etwas verdreckte weiße Fell wirklich...? Die orangene Kätzin konnte ihr Glück kaum fassen. Es war Winterschweif! Er war zurück! Er war zu Hause! Glutherz hatte die Wahrheit gesagt, er war zurückgekehrt.
„Winterschweif“, hauchte sie und als sie den Namen des jungen Katers aussprach, war es, als würde ihr ein Stein vom Herzen fallen. Ihr Sohn stand dort, im Lager des FeuerClans, wo er hingehörte. Freudestrahlend sprang sie von ihrer Wurzel herab, wobei sie beinahe ins Straucheln gekommen wäre. Sie hätte gerne dem Wind die Schuld gegeben, leider wäre das jedoch eine Lüge gewesen. Allein ihr kugelrunder Bauch war es, der sie ins Wanken brachte. Als ihre weiterhin schmerzenden Pfoten die feuchte Erde berührten, ignorierte sie die unzähligen winzigen Stiche, die sich anfühlten, wie wenn sie auf Disteln getreten wäre.
Träge, wie sie war, tappte sie recht langsam auf ihren Sohn, der dies eigentlich gar nicht war, zu. Regenpelz kam ihr schnurrend entgegen, doch sie begrüßte ihn nur kurz, indem sie seine Wange mit ihrer Schnauze berührte. Dann lief sie zu Winterschweif. Jeder Gedanke an die Ratten, die sie jeden Augenblick angreifen könnten, war vergessen, als sie ihm gegenüberstand. Kurz musterte sie ihn. Sein langes, weißes Fell war zerzaust und mit Dreck bespritzt. Seine Augen funkelten in dem gewohnten hellblau. Unsicher trat er von einer Pfote auf die andere, Glutherz, der neben ihm stand, flüsterte ihm etwas aufmunterndes zu.
Flammenstern schluckte. Was sollte sie nur sagen? Es gab so vieles, was dringend zwischen ihr und ihren Jungen besprochen werden musste. Bei Winterschweif war das am meisten. Wieso war er weggelaufen? Es zeugte nicht gerade von Mut, dass er so gehandelt hatte. Außerdem: Traf er Feuersonne weiterhin? Denn dies konnte sie als Anführerin beim besten Willen nicht erlauben. Es brach das Gesetz der Krieger. Und sie musste sich an dieses Gesetz halten, schließlich galt sie als Vorbild.
„Flammenstern“, miaute der weiße Kater als Begrüßung. Hilfesuchend starrte er zu Glutherz, doch dieser signalisierte ganz deutlich, dass dies Winterschweifs Kampf war. Flammenstern schnurrte amüsiert. „Winterschweif! Willkommen zurück“, antwortete sie mit einem viel zu höflichen Nicken.
Regenpelz, Staubwolke und Fliederpfote wurde wohl klar, dass die flammenrote Königin so schnell nicht mit ihnen über das Rattenproblem diskutieren wollte und so trotteten sie zu Düstersturm, der weiterhin etwas planlos neben der Wurzel stand. Glutherz dagegen wich nicht von Winterschweifs Seite.
„Es tut mir leid“, brach aus dem Kater heraus, sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie seufzte nur. Wie sollte sie als Anführerin darauf reagieren? Und als Mutter? Kurz gedachte sie ihm eine Standpauke zu halten, doch dann überwiegte doch die Erleichterung, die sie über Winterschweifs Rückkehr empfand und so überwand sie die drei Schwanzlängen, die zwischen ihnen gelegen hatten und leckte ihm über die Wange. „Wie konntest du mir nur solche Sorgen bereiten? Mach das nie wieder!“, miaute sie bei weitem nicht streng genug. Nun schnurrte auch Winterschweif und leckte die Wange seiner Mutter. „Nie wieder.“
Dann trat er einen Schritt zurück. Wieder trat er von einer Pfote auf die andere, was die orangerote Kätzin mit einer unschönen Neuigkeit rechnen ließ. Sie runzelte die Stirn. Was mochte jetzt noch kommen? Inständig hoffte sie, dass es nichts mit Feuersonne zu tun hatte. „Flammenstern, ich möchte dich um etwas bitten“, murmelte er fast unverständlich. So schüchtern kannte sie ihren Sohn wirklich nicht, was sie mit dem Schlimmsten rechnen ließ. Doch was war überhaupt 'das Schlimmste'? Sie wusste es nicht. Sie bedeutete ihm mit einem Zucken der Schnurrhaare fortzufahren. Kurz stammelte er nur vor sich hin, was Glutherz dazu brachte ihn anzustubsen und die Augen zu rollen. Schließlich begann er zu sprechen.
„Ich möchte dich bitten, Annabell in den Clan aufzunehmen“, miaute er so schnell und leise, dass Flammenstern erst einen Moment darüber nachdenken musste, bevor sie wusste, was ihr Sohn von ihr wollte. Annabell? War das nicht das junge Hauskätzchen, das in dem einzelnen Zweibeinernest nordöstlich ihres Territoriums lebte? Bei ihr hatte Winterschweif sich doch aufgehalten, während er nicht beim Clan war, oder?
Ein Hauskätzchen? In den Clan aufnehmen? Flammenstern schluckte. Das war eine sehr komplizierte Entscheidung. Eigentlich sprach nichts dagegen. Der FeuerClan war ein sehr neuer Clan, in dem die verschiedensten Katzen ihr zuhause gefunden hatten. Streuner, Hauskätzchen, ehemalige Clan- und Stammeskatzen gehörten alle diesem Clan an. Ein weiteres Hauskätzchen wäre folglich kein Problem. Doch dann war dort natürlich die Erinnerung an das Gesetz der Krieger. Ein Krieger verachtet das verweichlichte Leben von Hauskätzchen. Als die Katzen ihr Territorium zum ersten Mal auskundschafteten, hatten sie Annabell das Angebot gemacht, beizutreten. Damals hatte sie abgelehnt. Nun, da der Clan schon länger bestand und die Katzen sich eingelebt hatten, war es mehr als unpassend ein Hauskätzchen aufzunehmen. Doch konnte sie einer Katze etwas so Simples verwehren? Wenn jemand mit ganzen Herzen eine Clankatze sein wollte, dann würde sie ihn nicht abweisen. Schließlich war ihr eigener Vater auch als Hauskätzchen zur Welt gekommen! Jeder sollte die Möglichkeit haben, sein Schicksal selbst in die Pfoten zu nehmen.
„Flammenstern? Ist bei dir alles in Ordnung?“, miaute Glutherz, da sei eine Ewigkeit nichts gesagt hatte und einfach nur in Gedanken versunken Winterschweif angestarrt hatte. Überrascht zuckte sie zusammen. „Ja... ja. Alles in Ordnung“, erklärte sie abwesend. Was sollte sie antworten? Würden manche Katzen es nicht als Erpressung auslegen, wenn sie Annabell zum Clan kommen ließ, damit Winterschweif glücklich war? Doch eigentlich war ihr das egal. Sie war die Anführerin, sie gab die Befehle. Entschlossen nickte sie. „Annabell kann sich dem Clan gerne anschließen, wenn sie das wirklich will und du glaubst, dass sie sich hier integrieren wird.“
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