Kapitel 37
Es war wie immer recht düster im Bau der flammenfarbenen Anführerin. Regelmäßige Windstöße bahnten sich Wege durch die Efeuranken, die am Eingang wucherten und wehten Staub und lose Blätter herein. Es wurde langsam immer stürmischer, der frische Geruch nach baldigem Regen lag bereits in der Luft.
Flammenstern lag in ihrem weichen, mit Federn und Moos ausgepolsterten Nest. Sie war alleine in ihrem Bau, Regenpelz, der, seit sie in den Bau zurückgekehrt war, neben ihr gelegen hatte und ihr Mut zugesprochen hatte, war gerade zusammen mit Staubwolke auf eine Jagdpatrouille aufgebrochen. Der Clan hatte Hunger und zu der späten Jahreszeit war es schwer, Beute zu finden, die sich noch nicht in irgendeinem Loch vergraben hatte. Deshalb waren zu diesem Zeitpunkt, soweit Flammenstern informiert war, auch drei Patrouillen unterwegs, die Beute beschaffen sollten. Ihr gefiel das überhaupt nicht. Wenn sie richtig lag, war nur noch Ahornblatt im Lager, die sie im Falle eines Angriffs durch die Ratten verteidigen konnte. Sie durfte sich selbst laut Staubwolke und Regenpelz ja nicht mitzählen. Ausnahmsweise musste sie den beiden diesbezüglich aber wirklich Recht geben. Sie war nicht in der Verfassung, um zu kämpfen.
Ihre Jungen würden bald zur Welt kommen! Noch immer konnte Flammenstern gar nicht wirklich realisieren, was Rottupf am Morgen verkündet hatte. Es konnte noch heute so weit sein! Auch wenn sie sich wünschte, dass Winterschweif zurück wäre, war sie zum ersten Mal seit längerem wirklich glücklich. Auch wenn sie das gegenüber der Heilerin, Blaumond und Herbstblatt nicht gezeigt hatte. Im Nachhinein tat ihr ihr ihr grobes Verhalten leid. Sie hatte nicht so abweisend sein wollen. In letzter Zeit war einfach alles zu viel für sie. Ein kraftloser Seufzer, dann schloss sie die Augen.
Sie konnte fühlen, wie sich die Jungen in ihrem Bauch bewegten. Ob es mehr waren als bei ihrem letzten Wurf? Damals hatte sie sich nicht so plump und ausgelaugt gefühlt. Und das, obwohl sie damals gerade ihren Clan hatte verlassen müssen und zusammen mit Regenpelz, Staubwolke und Charly auf einer Reise war! Charly... wie es dem alten Kater wohl ergangen war? Seit er ihren Clan hatte verlassen müssen, hatte sie kaum mehr einen Gedanken an ihn verschwendet. Dabei war er eine der ersten Katzen gewesen, die sich dem FeuerClan angeschlossen hatten! Doch wie so viele andere Katzen in ihrem Clan, hatte sie ihn kaum gekannt. Sie hatte seinen abenteuerlichen Geschichten gelauscht, ja, aber wer der alte Kater in seinem Herzen war, das wusste sie nicht. Sie kannte seine – sehr ausgeschmückte – Vergangenheit. Doch seinen Charakter kannte sie kaum. War das nun nicht genauso mit vielen ihrer Clangefährten? Was wusste sie über Lahmpelz? Oder Felsbart, Forellenpelz, Lilienpfote, Seepelz und all die anderen? Ein guter Anführer kannte seine Katzen. Er konnte ihnen blind vertrauen. So wie Feuerstern.
Aber Flammenstern war dies nicht möglich. Selbstzweifel packten sie wie eiserne Krallen. War sie wirklich die richtige Katze für die Aufgabe, diesen Clan zu führen? Ihn erst wirklich zu gründen, ihm seinen Charakter und seine Seele zu geben? Es war wohl reichlich spät um darüber nachzudenken und trotzdem ließ es ihr keine Ruhe.
Würde sie die 'falsche' Katze überhaupt erkennen, wenn sie ihr gegenüber stünde? Sie wusste, dass sie Glutherz' Prophezeiung möglicherweise falsch interpretierte und es sich bei der 'falschen' Katze auch einfach um jemanden handeln konnte, der etwas 'falsches' tat oder anders war, als er vorgab zu sein. Und trotzdem. Sie fühlte sich an die Geschichte ihres Vaters über Blaustern, die einfach nicht hatte wahrhaben wollen, dass Tigerstern sie verraten hatte, erinnert. Würde sie selbst genauso blind sein, wenn ihr eine Katze, die ihrem Clan böses wollte, etwas vortäuschen würde?
Ganz plötzlich wurden Flammensterns Gedanken unterbrochen, als sie hörte, wie Fell an den Wurzeln vor ihrem Bau vorbei strich und kurz darauf die Efeuranken raschelten. Verwundert löste sie ihren Blick von der Höhlenwand, die sie eine ganze Weile über angestarrt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. „Flammenstern?“, miaute eine tiefe Stimme im Eingang des Baus. Die Anführerin konnte hören, wie der Kater angestrengt schnupperte, als würde er etwas suchen.
„Düstersturm, bist du das? Komm nur herein?“, riet sie, da sie glaubte, den Geruch der dunklen Gestalt, die unschlüssig zwischen den Efeuranken stand, zu erkennen. Sie lag richtig, denn der nachtschwarze Kater trat ohne Widerspruch ein. Seine blinden, blauen Augen richteten sich direkt auf die flammenrote Königin. Die Ohren zuckten, er musste wirklich nach etwas, oder jemanden, suchen.
„Flammenstern! Hast du Apfelteich gesehen?“, miaute Düstersturm, als ihm wohl klar wurde, dass seine Gefährtin sich nicht im Bau befand. Weiterhin zuckten seine Ohren hin und her, was wohl verständlich war, schließlich sah er nichts und musste sein Umfeld trotzdem irgendwie erkennen. Flammenstern konnte sich nicht vorstellen, wie schrecklich es sein musste, nichts sehen zu können. Der schwarze Älteste, der eigentlich kaum älter als Regenpelz sein konnte, hatte sein Augenlicht verloren, als er für seinen Clan gekämpft hatte. Stand es ihr also zu, an ihm zu zweifeln? Nein, sicherlich nicht. Dummerweise traute sie ihm jedoch genauso wenig, wie all den anderen Katzen in ihrem Clan, die sie nicht schon vor dessen Gründung gekannt hatte.
„Nein, wieso? Ist sie nicht bei dir?“, murmelte die Anführerin abwesend. Hatte sie sich vorher nicht auch schon gefragt, wo ihre Baugefährtin war? Für einen Aufenthalt beim Schmutzplatz währte ihre Abwesenheit schon viel zu lange. Das Lager durfte sie nicht verlassen, das war in letzter Zeit bekanntlich viel zu gefährlich. Wo konnte sie also sein? Als Flammenstern nach Sonnenaufgang vom Heilerbau zurückgekehrt war, war Apfelteich bereits verschwunden gewesen, im Heilerbau war sie zu diesem Zeitpunkt aber auf jeden Fall nicht gewesen. Aber wo sollte sie sonst hin? Wenn sie nicht bei Düstersturm war, fiel der Ältestenbau weg. In der Kinderstube war sie mit Sicherheit nicht, schließlich lebte Herbstblatt dort und die würde hundertprozentig nicht begeistert sein, ihre Schwester zu sehen. Flammenstern schnaubte. Wie froh sie wäre, ihre Schwestern sehen zu können. Ja, sie hatte noch Staubwolke, doch der hatte in letzter Zeit so viel um die Ohren, das er fast keine Zeit mit ihr verbringen konnte.
„Würde ich dich fragen, wenn sie bei mir wäre?“, antwortete er mit sarkastischem Unterton, auch wenn er etwas besorgt wirkte. Bei dem Gedanken daran, dass sie keine Ahnung, wohin die hellbraune Königin verschwunden war, rutschte Flammenstern, die sich plötzlich unwohl fühlte, in ihrem warmen Nest hin und her. Konnte Apfelteich etwas zugestoßen sein? Im Lager war dies wohl eher unwahrscheinlich, doch wenn sie gegen alle Vernunft spazieren gegangen war? „Kann ich dir beim Suchen helfen?“, schlug sie vor, auch wenn sie wusste, dass sie keine sonderlich große Hilfe sein würde.
„Ich freue mich über jede helfende Pfote“, meinte der blinde Kater schulterzuckend, kehrte ihr den Rücken zu und verließ den Bau wieder. Die Efeuranken raschelten, ein Windstoß wehte ein paar vertrocknete, braune Eichenblätter herein.
Etwas verwundert über den schnellen Abgang des Ältesten, rappelte sich Flammenstern auf ihre Pfoten. Es fiel ihr schwer sich zu erheben, sie wankte stark, doch schließlich gelang es ihr, zu laufen, ohne dass sie sich fühlte, als würde sie jeden Moment stolpern. So schnell es ihr runder Bauch zuließ verließ sie ihren Bau. Als sie durch die Efeuranken schritt, musste sie noch langsamer laufen, denn dank dem feuchten Untergrund wäre sie beinahe ausgerutscht. Gar nicht auszumalen, wenn sie nun gestürzt wäre!
Träge, wie sie sich fühlte, tappte sie zwischen den Wurzeln der Eiche hindurch. Es war ungewöhnlich still in der Senke, die lautesten Stimmen erschallten von der Heilerlichtung her, wobei es sich dort größtenteils um schwaches Husten handelte. Ansonsten waren im Lager nur Düstersturm, der neben dem Ältestenbau am Boden schnupperte, Herbstblatt, Fischschweif, Ahornblatt und Blaumond, die sich fröhlich über etwas unterhielten und Lahmpelz beobachteten, der mit seinem Sohn Diamantenjunges und Gelbfangs Jungen Bussardjunges spielte, zu sehen. Flammenstern hielt überrascht Inne, als sie den gelähmten, grau getigerten Kater sah, wie er mit seinem Jungen spielte. Das war das erste Mal überhaupt, dass sie Lahmpelz mit seinem Sohn sah. Hatte Fischschweif es also endlich geschafft, ihren ehemaligen Gefährten davon zu überzeugen, dass es seine Pflicht war, ein guter Vater zu sein?
„Apfelteich! Da bist du ja!“, jaulte ganz plötzlich Düstersturm und rannte einer abgehetzt wirkenden Apfelteich entgegen. Sofort schnellte Flammensterns Kopf in Richtung des Lagereingangs, wo sie die fast panisch wirkende Königin entdeckte. Ihre wolkengrauen Augen waren schreckgeweitet. Ihr hellbraun getigertes Fell war zerzaust, es wirkte fast zerfetzt. Blut tropfte von ihrer Schnauze, sie zitterte.
Überrascht blinzelte die flammenrote Anführerin. War ihre Clangefährtin etwa angegriffen worden? Ihr Pelz sträubte sich. Wer wagte es eine Kätzin anzugreifen, die Junge erwartete? Wenn sie den zwischen die Krallen bekam!
„Apfelteich? Ist alles in Ordnung?“, murmelte Düstersturm besorgt, als er seine Gefährtin erreichte und das Blut roch. Seine blicklosen Augen schweiften umher, als wollte er die Gefahr ausmachen. Auch Flammenstern trottete etwas näher zu der hellbraun getigerten Kätzin heran. Besorgt stellte sie fest, das Ahornblatt weiterhin die einzige der anwesenden Katzen war, die den Clan verteidigen konnte.
„Ich... ich...“, stammelte Apfelteich zitternd, alle Katzen starrten sie an. Kurz warf sie einen Blick über ihre Schulter, dann lief sie, so schnell sie ihre Pfoten trugen zum Bau der Anführerin, wo auch sie in letzter Zeit schlief. Gerade, als sie zwischen den Wurzeln hindurch gelaufen war, blickte sie sich zu ihren Clangefährten um. Ihre grauen Augen funkelten verzweifelt. „Die Ratten...“, murmelte sie, bevor sie im Bau verschwand.
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