Kapitel 8

Lautes Lachen, lautes Weinen, Schreie, all das war zu hören, als Imani den Schulflur entlangging und dabei versuchte, jedem aus dem Weg zu gehen. Ihre beste Freundin, mit der sie früher immer ihre Pausen verbracht hatte, war nicht mehr da, um mit ihr über ihre verdreckten Schuhe zu lachen. Heute war Imani auch nicht mehr derselbe Mensch, heute würde sie ganz sicher nicht mehr über ihre dreckigen Schuhe lachen, die voll mit Schlamm waren und das, obwohl sie es vor zwei Wochen noch getan hatte. Nein, in diesem Moment schaute sie auf ihre Schuhe hinab, sah den Dreck und dachte automatisch an schlechte Ereignisse. Wie ein Pfeil kam ihr die Flucht vor der Polizei in den Kopf geschossen. Es war ein solcher Pfeil, den Imani ausschließlich mit Gift verband, der ihre Gedanken verätzte und die guten Tage verbannte. 

Mit Tränen in den Augen lief sie in die erste Etage und stieß die schwere, schwarze Toilettentür auf, auf der eine Abbildung von einem Menschen in einem Kleid zu sehen war. Ihre Hände zitterten, als sie das Waschbecken umklammerte und ihren Blick sank. Sie wollte sich nicht im Spiegel sehen und erkennen, wie schlimm sie aussah. Wie mitgenommen und fertig sie aussah, sie wollte nicht sehen, wie ihre Augenringe immer dunkler wurden und ihre Lippen lauter Wunden hatten. Sie konnte es nicht ertragen, dass es gerade einmal etwas mehr als eine Woche her war, seit sie das letzte Mal mit Aurela gelacht hatte und sich noch gerne im Spiegel gesehen hatte. Vor lauter Frust stieß sie sich vom Waschbecken ab und schaute nun doch in den Spiegel, ihre geschwollenen und geröteten Augen blinzelten sie an. Ihre schlappe Haltung war die einzige Position, die sie einnehmen konnte, ohne zu überanstrengt zu sein. Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf, ging auf die Toilettenkabinen zu, von denen es zwei gab, nahm etwas Toilettenpapier und stellte den Wasserhahn an. Mit verschwommenem Blickfeld hielt sie das Papier unter den Hahn und bückte sich, um ihre Schuhe zu putzen. Sie konnte diesen Anblick einfach nicht ertragen. 

Ihr Schluchzen erfüllte den ganzen Raum und sie musste immer wieder kurz aufhören, da ihre Hände nicht aufhörten zu zittern. Nachdem sie mit dem ersten Schuh fertig war und ihn einigermaßen sauber bekommen hatte, wollte sie dasselbe mit dem linken Schuh machen, doch dann hörte sie den geschockten Laut, der definitiv nicht von ihr kam. So schnell sie konnte, schaute sie nach oben und versuchte im selben Moment aufzustehen. 

Der Schwindel kam. Zu schnell. 

Er ließ sie nicht klar sehen und sich verzweifelt an der Wand abstützen. 

Doch was sie vergessen hatte, war, dass ihre Hände noch nass waren, weswegen ihre Hand an den Fliesen abrutschte. In letzter Hoffnung versuchte sie am Waschbecken Halt zu finden.

Vergebens. 

Und hätte sie das Mädchen mit den braunen Haaren nicht aufgefangen, dann hätte sie den Raum zweifellos nicht ohne Verletzungen verlassen. 

,,Hey, hey,... was ist los?", fragte das Mädchen und schaute Imani dabei in die Augen. Am liebsten wäre Imani jetzt weggerannt und hätte alles geleugnet, wenn das Mädchen sie auf das gerade angesprochen hätte. Aber warum sollte sie? Es ging ihr nun mal nicht gut, dafür brauchte sie sich nicht schämen... oder?

,,Nichts... ja, nichts... es ist alles gut", flüsterte Imani und stotterte dabei einige Male. Sie versuchte sich selbst zu ermutigen und gleichzeitig das Mädchen zu überzeugen, dessen Namen sie nicht einmal kannte, doch das Gesicht kam ihr bekannt vor. 

Und dann traf es Imani wie einen Schlag. Dieses Mädchen, sie kannte es. Imani kannte diese Zähne und die Zahnspange, die sie trug. Sie kannte diese grünen Augen, die nur so vor Glück strahlten. Vielleicht vor Glück, dass niemand aus ihrem Umfeld gestorben war. Vor Erleichterung, dass sie nicht durch die Hölle gehen musste. Die zierliche Nase, die perfekt geschwungen war und auf der Sommersprossen waren, passte perfekt zu ihr und ihrer Erscheinung. Dieses Mädchen dort vor ihr, sie war das Mädchen, auf das Imani mehr als einmal eifersüchtig gewesen war. Sie hatte die perfekte Figur, einen Freund, der sie besser behandelte als Imanis Träume es jemals erlauben würden, und ihr Aussehen verzauberte jeden. Ihre vollen Lippen öffneten sich leicht und schlossen sich schnell wieder. 

,,Das glaub ich dir nicht, Imani", sagte das Mädchen entschlossen. Imani wusste ihren Namen, er war genauso schön wie sie selbst. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb Imani sich nicht erlaubte, ihn in ihren Gedanken zu erwähnen. 

,,Es ist momentan einfach nur viel los, Gemma." Imani konnte sich diesem Mädchen einfach nicht öffnen. Dem Mädchen, dessen Name "Edelstein" bedeutete und die schon immer im Mittelpunkt gestanden hatte.

,,Erzähl's mir." 

,,Nein, Gemma. Du würdest es eh nicht verstehen." Imani war sich dessen sicher. Todsicher. 

Sie ließ von Gemma ab und stütze sich nun an der Wand. Die schwarzen Punkte verschwanden allmählich aus ihrem Blickfeld und machten Platz für den Anblick Gemmas, den Imani schon die ganze Zeit zu vermeiden versucht hatte, so gut es eben ging. 

,,Vielleicht ja doch", versuchte es Gemma wieder und ging einen Schritt auf Imani zu. Ihre Lippen hatte sie zusammengepresst und ihre Hände hinter ihrem Körper versteckt. Das schulterlange Haar lag geschmeidig auf ihren Schulterblättern und wirkte mehr als nur gepflegt. 

,,Nein, Gemma, kannst du nicht. Ich schätze deine Sorge ja, aber ich bin mir sehr sicher, dass du es nicht könntest. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich hab jetzt gleich Mathe", herrschte Imani das Mädchen vor ihr an. Imani hasste Mathe, aber sie wäre jetzt viel lieber dort als in diesem Raum mit Gemma. 

Imani drehte sich um und mied den Blick in den Spiegel, als sie die Türklinke anfasste und herunterdrückte. Ihr Auge zuckte immer wieder nach links, um zu sehen, wie sie jetzt im Spiegel aussah. Als ob sich etwas an ihrem Aussehen geändert hätte, seit sie das letzte Mal vor zehn Minuten in den Spiegel geschaut hatte. 

,,Woher willst du das wissen?"

,,Weil ich es eben weiß, okay?! Ich weiß, dass du niemanden aus deinem Umfeld verloren hast! Ich weiß, dass du Leute um dich herum hast, denen es gut geht und ich weiß, dass du dir keine Sorgen um dein Leben und das deiner Familie machen musst! Genau deswegen weiß ich, dass du es nicht verstehen würdest, wenn ich dir erzählen würde, was los ist! Wenn ich dir erzählen würde, dass ich seit Tagen nicht mehr geschlafen habe und jeden Tag Angst um meine Familie und mich habe, dann würdest du es eben nicht verstehen, weil du so etwas nicht erleben musst, weil dein Leben im Gegensatz zu meinem ein Traum ist, von dem ich schon länger als eine Woche träume, okay?!" Benommen schüttelte Imani den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass sie mehr als nur eine Träne verloren hatte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und ihre Stimme war beim Sprechen um eine Oktave gestiegen. 

,,Und jetzt würde ich gerne gehen, ohne irgendwelche Argumente von dir zu hören. Du weißt nämlich genauso gut wie ich, dass ich recht habe, Gemma. Danke für deine Hilfe gerade eben beim Sturz." Imani schaute dem Mädchen vor ihr noch einmal in die Augen, die außergewöhnlich katzenhaft wirkten und tatsächlich Ähnlichkeit mit den Augen einer Katze hatten. Gemma drehte sich elegant weg von Imani und ging auf die Toilettenkabine zu. 

Wie kann es sein, dass alles, was sie macht, so perfekt aussieht?, fragte sich Imani und versuchte ihre Eifersucht zu unterdrücken. 

,,Ich wollte nur helfen, Imani."

,,Das weiß ich und das ist ja auch echt nett, aber alles andere als nötig. Deine Hilfe verbessert leider nichts, weder an meiner Situation noch daran, dass Aurela tot ist." Imanis Stimme bebte und ihre Hände zitterten, als sie diese Worte gesprochen hatte. Sie hatte sich bewusst zur Tür gedreht, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sich Gemma umdrehen würde und ihre Lippen geschockt öffnen würde. Das brauchte und wollte Imani nicht sehen. 

Und so ging sie raus aus der Toilette, ohne noch ein Wort zu sagen. Ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet und sie war erstaunt gewesen, dass sie so viel sagen konnte. Nun aber hatte sie genau deswegen das Gefühl, dass ihre Zunge aus Sandpapier bestand und unfähig war, irgendjemandem weitere Gemeinheiten zu zuzischen.

Der Gong ertönte und katapultierte Imani zurück in die Realität. In die Realität, in der sie jetzt Mathe hatte und einer ihrer Schuhe dreckig war. In die Realität, aus der es keine Zuflucht gab und die sie keinem anderen wünschen würde. 



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