Kapitel 7
Vollkommen atemlos schreckte Imani hoch und wischte sich hysterisch den Schweiß von Stirn und Nacken. Sie hatte wieder von ihr geträumt. In letzter Zeit kam das nicht selten vor und genau das war der Grund, weshalb Imani immer weniger Schlaf bekam. Die Albträume verfolgten sie und schienen sie heimzusuchen, denn mittlerweile dachte sie selbst im wachen Zustand an das Grinsen der unbekannten Frau, das sie nicht nur hochnäsig wirken ließ, sondern auch unberechenbar. Und genau das war es, wovor Imani Angst hatte, diese Frau war nun mal nicht berechenbar. Alles andere aber nicht das, da war Imani sich sicher.
Angst kroch ihre Kehle hoch und betäubte sie. Viel zu aufgewühlt war sie gerade, als dass sie hätte klar denken können. Statt dass sie sich beruhigte und zuredete, dass alles nur ein Traum war, stieg sie aus dem Bett und schaltete schnell die kleine Lichterkette über ihrem Schreibtisch an. Sofort wurde der Raum in beiges Licht getaucht, dass Imani tatsächlich etwas beruhigte. Doch dieses kleine bisschen reichte nicht, um ihren Atem zu verlangsamen und die kommende Panikattacke zu verhindern. Das Mädchen spürte, wie ihr Atem flacher wurde, wie sie hysterisch nach Luft schnappte und dabei mehr als laut hechelte. Ihr Kopf war voll mit Gedanken, die alles andere als selbstsicher waren. Sie waren viel eher voll Angst und Selbstmitleid, genau das, was Imani zu verhindern versucht hatte und es trotzdem nicht geschafft hatte.
Mit einem Mal fühlte sich Imani ungeheuer schwach, ihre Beine gaben nach und sie sackte zusammen. Kleine Punkte traten in ihr Sichtfeld und plötzlich sah sie wieder das Grinsen der Frau. Plötzlich sah sie wieder das, was sie in ihren Albträumen sah, was sie heimsuchte. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das blutverschmierte Messer vor ihr ausmachte. Es war das Messer, mit dem Malique Schlimmes angetan wurde, mit dem er attackiert wurde und weshalb er nicht mehr lebte. Ihre Träume erwachten zum Leben und ließen sie nach hinten rücken, bis ihr Rücken den Schrank berührte, der gegenüber von ihrem Bett stand. Plötzlich wirkte ihr Raum nur noch winzig und das beige Licht, das sie eben noch beruhigt hatte, trieb sie nun eher in den Wahnsinn. Sie begann Maliques toten Körper vor ihren Füßen liegend zu erkennen und hob schlapp eine Hand. Vollkommen am Zittern berührte sie die Stelle, wo sie die Leiche gesehen hatte, nur dass sie jetzt ins Leere fasste.
Das ist alles nicht echt, redete sich Imani ein und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sich etwas noch nie so echt angefühlt hatte wie jetzt.
Noch nie hatte sie einen so echten Schrei gehört wie jetzt.
Noch nie hatte sich der Tod echter angefühlt wie jetzt.
Und noch nie hatte sie eine solche Angst gehabt wie jetzt.
Und trotz allem war das alles nicht echt, weder der Schrei ihrer Mutter, den Imani glaubte zu hören noch die Blutlinie, die sich durch ihr Zimmer zog und vor ihren Füßen endete. All das entsprang ihrer Fantasie, das versuchte Imani selbst zu begreifen, doch als sie plötzlich einen Schatten gesehen hatte, stieg ihr Adrenalin ins Unendliche. Der Schmerz, den sie bei dem Anblick der vielen toten Körper in ihrem Zimmer empfand, ließ ihren Herzschlag stolpern und ihren Puls in die Höhe steigen. Und das, obwohl sie komplett alleine in ihrem Zimmer war und sich das alles nur einbildete.
Vor lauter Angst hatte Imani eine Position eingenommen, in der sie ihre Knie hochgezogen hatte, ihre Arme um ihre Beine schlang und ihren Kopf in der kleinen Lücke zwischen Oberkörper und Knie versteckte. Und so verweilte sie den Rest der Nacht, vor und zurück wippend und in der Hoffnung, dass die angsterfüllten Schreie ihrer Mutter bald aufhören würden, während ihre Tränen nicht annähernd versiegten und ihr Atem immer schneller wurde.
Die Nacht verging nur schleppend langsam und vor lauter Erschöpfung war Imani am frühen Morgen eingeschlafen. Lautes Gepolter ließ sie mit einem Mal hochschrecken und verängstigt durch den Raum blicken. Wo Imani gestern noch Maliques Leiche sah, entdeckte sie heute nur ihren hellrosa Teppich, der vom Bett bis zum Schrank verlief. Ihr Blick flog nach rechts und mit Erleichterung stellte sie fest, dass sie ihre Gardinen letzte Nacht nicht zugezogen hatte. Nun flutete das Licht den Raum und spendete Imani einen Funken Sicherheit. Der Ausblick, den sie vom Fenster hatte, war legendär, überall waren Bäume und von hier aus konnte sie auch einen Teil des Parks entdecken, in dem sie vor vier Tagen noch war. Oder waren es fünf? Imani wusste es nicht, zu überrumpelt war sie von geschehenen Ereignissen. Unter ihrem Fenster befand sich ihr unaufgeräumter Schreibtisch, auf dem nicht nur Schulhefte lagen, sondern auch leere Schokoladenverpackungen, die sie immer wieder beim Lernen und Hausaufgaben machen, verdrückt hatte. Der schwarze Bürostuhl war höher als der Tisch, was ihre Sicht auf den Tisch etwas versperrte, da sie noch immer auf dem Boden saß und die Knie ans Kinn herangezogen hatte. Langsam atmete sie aus und blickte nach links, wo sich ihr Fernseher und die weiße Tür befanden. Die Tür war direkt gegenüber vom Bett, Imani hatte es schon immer gemocht, wenn sie den ganzen Raum im Blick hatte, vorausgesetzt sie lag in ihrem Bett. Die weiße Kommode, auf der ihr Fernseher stand, war nicht voll mit Blut, wie sie es gestern gesehen hatte. Sie war strahlend weiß und allmählich schämte sich Imani für das, was sie gestern gesehen hatte. Dafür, dass sie sich etwas eingebildet hatte, was nicht annähernd da war.
Doch in genau diesem Augenblick, in dem Imanis Scham kurz davor war, Oberhand zu gewinnen, sah sie im Augenwinkel ihren Bürostuhl. Das war der Schatten, den Imani gestern gesehen hatte. Erleichterung überkam sie. Sie hatte sich also doch nicht alles eingebildet, was sie nur glücklich ausatmen ließ.
Ich bin also nicht vollkommen verrückt..., oder?, dachte Imani und schloss kurz ihre Augen. Sie musste raus aus diesem Raum, der sie mit jeder weiteren Minute zu erdrücken schien, das begriff sie selbst in diesem Moment. Mit eingeschlafenen und wackligen Beinen stand sie auf und hielt sich direkt am Griff ihrer Schranktür fest. Sofort wurde ihr schwummrig und sie begann schwarze Punkte in ihrem Blickfeld zu sehen. Sie erschrak wiederholt, als ein lautes Poltern ertönte. Mit neuer Kraft und Angst davor, was sie gleich sehen könnte, öffnete sie ihre Tür und ging zur Küche runter, wo sie ihre Mutter vorfand.
,,Guten Morgen", sagte Yasmin und drehte sich vom Tresen weg. Ihre Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden und ihr roter Bademantel mit Pinguinen war eng um ihren Körper festgebunden. Sie wirkte nicht nur verschlafen, sondern war auch voll in Hektik. In aller Eile beschmierte sie Brote und packte sie in die entsprechenden Brotdosen.
,,Warum bist du denn noch nicht angezogen, Imani?! Du musst in 10 Minuten los und hast weder etwas Vernünftiges an noch hast du gefrühstückt." Mit einem Seitenblick entdeckte Imani Maliques leere Müsli Schüssel auf dem Tisch und sein halb leeres Saftglas. Sie seufzte und stützte sich mit ihrem rechten Ellenbogen an der Kücheninsel ab.
,,Ich hab verschlafen. Welcher Tag ist heute noch mal?", fragte sie, während sie auf ihre Mutter zu schlenderte und sich auf den Stuhl setzte, der links von ihr stand. Sie brauchte ihrer Mutter nicht erzählen, dass sie Albträume hatte. Sie brauchte nicht erzählen, dass ihre Albträume für sie in letzter Zeit lebendig wurden. Sie musste es nicht, weil sie wusste, dass ihre Mutter dasselbe erlebte. Warum sonst hatte Yasmin tiefe Augenringe und angeschwollene Augen vom ganzen Weinen. Vielleicht sah sie keine toten Menschen und überall Blut, aber Imani war sich sicher, dass auch sie etwas Schlimmes sah, was sie verfolgte.
,,Donnerstag. Du hast Schule, Imani", sprach Yasmin und drehte sich dabei zu Imani. Ihre Augen hatten den Glanz verloren, der sie einst so besonders gemacht hatte. Ihr Gesicht wirkte schlaff und eingefallen im Gegensatz zu ihrer sonst so lebhaften Ausstrahlung. Yasmin hatte sich verändert und das definitiv nicht zum Guten. Sie presste ihre Lippen immer wieder aufeinander und Imani hatte sie schon ein paar Mal erwischt, wie sie sich ihre Ohren zuhielt. Sie alle fühlten sich allmählich schlechter und ausgelaugter. Sie alle hatten das Gefühl, in den Wahnsinn getrieben zu werden.
Selbst Malique. Der kleine Bruder von Imani war in letzter Zeit ungewöhnlich ruhig. Er stand auf, aß etwas und ging wieder in sein Zimmer, wo sie ihn nur selten wieder rauskommen hörte.
,,Ich weiß ja, ich mache mich jetzt fertig." Seit dem Vorfall mit dem Mann war das Verhältnis zwischen Imani und ihrer Mutter nicht besser geworden, sondern hatte sich eher verschlechtert. Sie redeten nur noch das Nötigste und vielleicht war auch das ein Grund, weshalb Imani ihr nichts von ihren Albträumen erzählte.
,,Okay." Und Imani hielt sich dran, sie ging direkt wieder aus der Küche und in ihr Zimmer, wo sie noch immer Maliques Leiche vor Augen hatte. Dieser Anblick würde nicht so schnell aus ihrem Kopf verschwinden, das wusste Imani. Und so zog Imani sich an, putzte ihre Zähne und alles, was dazu gehörte. Sie hatte an diesem Tag nicht gefrühstückt, das tat sie seit einer Weile schon nicht mehr. Und auch ihr Pausenbrot gab sie in der Schule weiter oder schmiss es in den Müll, sie wusste, dass man so was nicht tat. Sie wusste, dass es eine Sünde war. Und doch tat sie es, weil ihr kein besserer Ausweg einfiel, sie wollte sich letztendlich nicht ihrer Mutter stellen und mit ihr über ihre Gefühle reden, wenn sie selbst Imani angelogen und etwas Wichtiges verheimlicht hatte.
Mit einem mulmigen Gefühl und noch immer angeschwollenen Augen trat Imani ins Freie und machte sich auf den Weg zu ihrer Schule, dem schlimmsten aller Orte, denn dort gewann die Trauer nicht nur Oberhand, nein, sie nahm die ganze Schule ein und ließ niemanden mehr an etwas anderes denken.
Imani verabscheute ihren Bürgermeister dafür, dass er die Schulen nicht schon längst geschlossen hatte. Dafür, dass er die Schüler einer unbeschreibbaren Gefahr aussetze und selbst aber im sicheren war.
In genau diesem Moment, als sie den Weg zur Schule ging und darüber nachdachte, hasste sie jeden. Sie hasste die Frau, ihre Bande, den Bürgermeister, ihre Mutter, die Schüler, einfach jeden.
Jeder, der das Glück, das vor ein paar Wochen noch bestand, zerstört hatte, stand auf Imanis Liste, die jede Minute länger zu werden schien und unaufhaltsam war, genauso wie Imani es sich vornahm zu sein.
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