Kapitel 6

Panik überkam Imani und nahm sie vollkommen ein, das Atmen fiel ihr schwer und ihre Beine hatten keine Kraft mehr. Mit einem Mal fiel sie auf den Boden und packte sich mit den Händen an den Kopf, ihre Tränen flossen nun ohne Halt, und das Schluchzen, das dabei zu hören war, erfüllte den Raum und betäubte sie und ihre Mutter. 

Wie konnte das alles so schnell so schief gehen, fragte sich Imani und schlug einmal wütend mit der Handfläche auf den Boden. Sie waren aufgeschmissen und das voll und ganz. Imani hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollten und ebenso wenig Ahnung hatte sie von der Absicht der Bande, der Frau. Was war ihr Ziel? Allein ihr Tod oder der von all ihren Liebsten? Wer war jetzt sicher? Wie sollten sie weiter vorgehen? Gab es überhaupt Hoffnung? All diese Fragen verwirrten Imani und trotz allem waren sie das Einzige, woran sie in diesem Moment denken konnte. 

Sie dachte nicht an ihre Mutter, die blutend vor ihr stand und sie geschockt ansah. 

Sie dachte nicht an ihren Bruder, der ahnungslos im Wohnzimmer saß und seine Lieblingssendung schaute. 

Sie dachte nicht daran, dass die Bande nun wusste, wo sie wohnte. 

Letztendlich dachte sie nur an sich und an ihre Sicherheit. Wie sie sich und ihre Familie in Sicherheit bringen könnte, und das, obwohl sie in genau diesem Moment in Gefahr waren. 

,,Wir kriegen das schon irgendwie hin, wir schaffen es doch immer", versuchte ihre Mutter sie zu ermutigen, doch genau dieser Satz ließ Imani wütend aufstehen. 

,,Und wenn ich dir sage, dass es diesmal nicht so ist? Wenn ich dir sage, dass unser Leben davon abhängt? Was willst du dann hinbekommen?! Da gibt es nichts hinzukriegen! Wir sind ausgeliefert, und das wegen mir." Imani schrie und kam ihrer Mutter näher, während sie sich die Tränen mit ihrem Handrücken wegwischte. 

,,Diese ganze Scheiße passiert allein wegen mir! Wegen mir! Ja, du hast richtig gehört, ich bin daran schuld. Wäre ich heute doch bloß zu Hause geblieben, dann wäre das alles nicht passiert... aber neeeein, ich musste ja zustimmen raus zu gehen! Was kannst du eigentlich, Imani?! Nichts, absolut nichts!" Imanis Stimme hallte durch den Raum und ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Ihre Brille war ganz dreckig und ihr Blick klebte an ihrer Mutter. Der Frust, den Imani gerade spürte, war riesig und betäubte sie. Orientierungslos ging sie durch den Raum und versuchte ihre Atmung in den Griff zu bekommen. 

,,Was meinst du damit, Imani? Was ist passiert?", fragte Yasmin verwirrt und zog ihre Brauen zusammen. Die Sorge gewann in diesem Moment die Oberhand. 

,,Ich... ich hab... ich war ja mit Malique im Park", flüsterte Imani nun nur noch und zeigte Reue, zögernd ging sie zu ihrer Mutter und regte sich ab. 

,,Ja? Was ist da passiert?" Die Verwirrung Yasmins war nur noch größer geworden. 

,,Wir haben Laetitia gesehen." Ihr Atem ging wieder schneller und es schien ihr als würde sie jeden Moment eine Panikattacke bekommen. 

,,Aber das ist doch schön." Yasmin griff nach Imanis Händen und schaute ihr in die Augen. Sofort schaute Imani schuldbewusst weg und schüttelte benommen ihren Kopf. Das Licht, das immer häufiger flackerte und gleich den Geist aufgeben würde, verpasste Imani eine ungeheure Angst, die sie selbst nicht begründen konnte. 

,,Sie... sie ist tot", schluchzte Imani und drückte die Hand ihrer Mutter, die geschockt einatmete und Imani nicht zu glauben schien. 

,,Sie ist tot und wir haben sie gesehen. Irgendwie war das Gebiet nicht abgesperrt, dann sind wir weggelaufen und waren dann fast am Eingang des Parks. Malique hat uns einen Weg entlang geführt, den ich noch nicht kannte. Ich hab nicht aufgepasst und als ich es bemerkt hab, sind wir trotzdem weitergelaufen, weil... weil ich dachte es wäre sicher. Die Polizei war da! Woher hätte ich wissen sollen, dass sie wegen einer Leiche da sind?! Das konnte ich doch nicht wissen, oder?", sprach sie vollkommen durcheinander und hysterisch. Allmählich stellte sie sich gerade auf und versuchte ruhiger zu atmen. 

,,Als wir weggelaufen sind, habe ich... da habe ich die Frau gesehen. Die Anführerin der Bande." Imani wurde von dem fassungslosen Schrei ihrer Mutter unterbrochen, die mit den Armen in der Luft wedelte und verwirrt ihren Kopf schüttelte. 

,,Was?!", kreischte sie und dass sie noch immer blutete, war ihr in diesem Moment absolut egal. Viel zu erschrocken war sie als dass sie daran hätte denken können. 

,,Ja! Wir haben sie gesehen, also eigentlich nur ich. Und... und sie hat mich auch gesehen und dann hat sie mich länger angeschaut. Dann hat sie genickt. Ich dachte, dass das heißt, dass sie uns in Ruhe lässt! Wirklich!"

,,Aber das hat es nicht bedeutet! Sondern das komplette Gegenteil!"

,,Das weiß ich jetzt doch auch, okay?! Es tut mir doch leid! Denkst du etwa, ich will das auch nur ansatzweise? Nein! Nein, will ich nicht!" Es war eines der ersten Male, dass Imani ihre Stimme gegenüber ihrer Mutter so erhob und sie war sich sicher, dass Malique sie gehört haben musste. 

,,Was sollen wir denn jetzt machen, Imani?!" Selbst für Yasmin war das alles zu viel und ihr Gehirn war so voll mit Gedanken, sodass es jeden Moment hätte explodieren können. 

,,Ich weiß es doch auch nicht, Mama", weinte Imani und hielt sich verkrampft an ihrem Oberschenkel fest. 

,,Ich weiß es doch auch nicht...", wiederholte sie sich und wisperte diesen Satz nur noch erschöpft. Ihr Körper war gebeugt und ihr Herz raste. 

,,Okay, also, wir bleiben jetzt erst mal alle zu Hause und ähm sollen wir die Polizei anrufen?", fragte Imanis Mutter unsicher und schien selbst zu verwirrt sein, um solche Entscheidungen treffen zu können. Einerseits waren sie bei sich zu Hause in Gefahr, aber andererseits konnten sie nirgendwo anders hin, ohne jemanden in Gefahr zu bringen. 

,,Ich weiß es nicht... ja, oder? Sie können uns bestimmt helfen, oder?"

,,Ja. Ja, ich glaube, du hast recht." Yasmin hatte Geschehenes noch immer nicht realisiert und ihre Augenbrauen waren immer noch zusammengezogen. Ihr Atem und der von Imani ging ungewöhnlich schnell. Eine Pause entstand, in der beide dem Atem des anderen lauschten und das, obwohl Yasmin eigentlich hochgehen müsste, um das Telefon zu holen. 

,,Hat der Mann eigentlich etwas gesagt?", unterbrach Imani die Stille und hoffte, dass ihre Mutter sich daran erinnern konnte. 

,,Nein." 

Plötzlich schaute Yasmin Imani traurig und mit Tränen in den Augen an und presste ihre Lippen aufeinander. Doch anstatt etwas zu sagen, ging sie hoch und Imani hörte noch die leisen Schritte, die sie machte. Sie hörte noch das verzweifelte Atmen ihrer Mutter und die leise Stimme, mit der sie "Hallo" ins Telefon flüsterte. 

Imani war vollkommen benebelt. Ihre Kopfschmerzen begannen stärker zu werden, doch trotzdem ist sie nicht aufgestanden. Trotz allem ist sie auf dem kalten Boden sitzen geblieben und starrte in die Luft, solange bis ihr Bruder nach unten kam und sie verwirrt anschaute. Seine Hand berührte ihr Gesicht und wischte die Tränen weg. 

,,Nicht weinen, bitte nicht weinen", wisperte er und hockte sich ebenfalls auf den Boden. Seine Arme schlangen sich wie automatisch um Imanis Körper. 

,,Was ist denn passiert?", fragte er leise. 

,,Ach,... ich und Mama haben uns nur etwas gestritten." Sie versuchte die kommenden Tränen aufzuhalten, doch stattdessen flossen sie nur mehr. 

,,Das wird schon wieder, man streitet sich manchmal. So wie wir vorhin, jetzt ist ja auch alles wieder gut", sagte er liebevoll und schaute sie dabei leicht lächelnd an. 

,,Du hast ja recht. Komm, wir gehen hoch." Imani beherrschte sich in diesem Moment sehr, denn am liebsten würde sie direkt wieder anfangen zu weinen, doch das ging nicht, das wusste sie. 

,,Mama hat Abendessen gemacht", sprach er und zog Imani hinter sich her. 

Abendessen? Wie lang saß ich denn im Keller, fragte sich Imani und bemerkte, dass es draußen schon dunkel geworden war. 

Als sie in der Küche angekommen waren, sah Imani ihre Mutter und wie diese gerade den Tisch deckte. Es gab Nudeln mit irgendeiner weißen Soße. Erst da bemerkte Imani, wie groß ihr Hunger war. Malique zog sie auf ihren Platz und reichte ihr das Besteck. 

Imani spürte während des Essens immer wieder die Blicke ihrer Mutter, die sie fast erdrückten, doch sie tat so, als würde sie diese nicht bemerken. Stattdessen gab sie immer wieder Kommentare zu Maliques Erzählung, was heute alles im Fernseher lief. Den Park und dort Geschehenes erwähnte keiner. Mit voller Absicht. 

Und erst als Malique fertig war und ausnahmsweise schon früher aufstehen durfte, schaute Imani zu ihrer Mutter und zog fragend eine Braue nach oben. 

,,Doch, er hat etwas gesagt. Der Mann von vorhin... er hat deinen Namen gesagt." 

Imani antwortete nicht. Sie schaute direkt wieder auf ihren Teller. Denn genau das war der Moment gewesen, wo sie bemerkt hatte, dass die Bande nicht hinter ihrer Familie hinterher war, sondern hinter ihr. Sie würden alles tun, um sie zu bekommen und ihre Familie war dabei eher ein Hindernis, das wusste Imani jetzt. Und genau das war der Grund, weshalb Imani unter Tränen weiter aß und sich zehn Minuten später übergab. 

Genau das war der Grund, weshalb Imani zu ihrem Bruder ging und bei ihm schlief, denn wer weiß, wie lange sie es noch können würde. 

In genau diesem Moment hatte Imani einen Plan erstellt, der alles verändern würde. Doch es musste sein, das wusste sie. 

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