Kapitel 4
Mit zitternden Händen öffnete Imani die Haustüre und schmiss ihre Schlüssel in den Hausflur. Ängstlich ließ sie Malique zuerst rein und ging dann selbst hinein, aber nicht ohne vorher noch einmal nach draußen zu schauen und Ausblick nach der Frau zu halten. Ihr Gesicht ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf, genauso wenig wie der Anblick der Leiche.
Vielleicht waren es die vielen Gedanken und die Unordnung in Imanis Kopf, die sie unachtsam sein ließen, und vielleicht war es die Schuld der Überforderung, dass sie den kleinen Pkw, der am Straßenrand lauerte und sich die Hausnummer und Imanis Gesicht einprägte, nicht bemerkte. In diesem Moment wusste sie noch nicht, dass dieser weiße, kleine, unscheinbare Pkw eine wichtige Rolle spielen würde und sie wusste genauso wenig, wer in diesem Fahrzeug saß und ihren Blick der Ängstlichkeit genoss.
Doch egal, was es war, Tatsache war, dass sie diesen Pkw nicht bemerkt hatte und nun etwas erleichterter als vorher zurück in das Haus ging und sich kurz an die Tür anlehnte.
,,Alles in Ordnung?", fragte Yasmin plötzlich und streckte übermüdet den Kopf aus dem Wohnzimmer zum Flur hinaus. Doch diesmal war es sie, die erschreckte und einmal kurz zurücktaumelte. Bedacht kam sie auf Imani zu, breitete ihre Arme aus und umarmte Imani einen kurzen Moment. Yasmin fragte nicht, was los war. Sie fragte nicht, was passiert war. In diesem Moment war Imani ihr dafür unendlich dankbar, auch wenn sie wusste, dass sie es ihr erzählen müsste. Heute noch.
,,Ich frage nicht, was passiert ist, aber was ist mit Malique los? Er ist sofort in sein Zimmer gestürmt." Imani schaute ihrer Mutter in die Augen und sah, wie das blau in diesen verblasst war und ihre Augen kurz davor waren zuzufallen. Sie hatte nicht einen Augenblick geschlafen, das wusste Imani.
,,Ich... rede mal mit ihm. Und auch später mit dir." Schnell schob Imani ihre Mutter vollends von sich und drückte ihr noch einen kleinen Kuss auf die Wange.
,,Leg du dich ruhig hin", sagte Imani und die Besorgnis und Fürsorge in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Das letzte, was Imani hörte, bevor sie die Treppen hochstieg, war das dankbare Ausatmen ihrer Mutter und die unendliche Erschöpfung mit der sie "Danke" flüsterte.
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und ließ sie noch schneller die Treppe steigen.
Endlich kann ich ihm alles erzählen, dachte Imani. Doch ihre Freude hielt nicht lange an, denn mit einem Mal fiel ihr ein, dass Malique gerade einmal 9 Jahre alt war und er es definitiv nicht gut vertragen würde. Aber sie musste es ihm erzählen, immerhin hatte sie es ihm versprochen und mittlerweile war auch er in Gefahr. Er musste über die Gefahren da draußen einfach Bescheid wissen, das wusste sie, doch trotzdem wollte sie es ihm doch nicht erzählen. Trotzdem blieb sie vor seinem Raum stehen und überlegte, ob sie es nicht doch lieber sein lassen sollte.
Die weiße Tür strahlte sie an und sie wusste, wenn sie sie jetzt öffnen würde, würde sie ihrem Bruder alles erzählen müssen. Sie wusste, dass sie ihrem Bruder dann nicht mehr ausweichen könnte, immerhin würde sie dann direkt in seinem Raum stehen. Doch trotzdem entschied sie sich dazu, die Tür langsam zu öffnen und ins Schwarze zu blicken. Malique hatte die Rolladen komplett runtergezogen und nur mit Mühe konnte Imani eine Gestalt unter der Bettdecke entdecken.
Vorsichtig ging sie ins Zimmer rein, zog die Rolladen hoch, kam dem Bett ihres Bruders immer näher und hob die Decke leicht an. Mit tränenüberströmten Gesicht schaute er sie an und es war Imani, als steche ihr jemand einen Dolch ins Herz, so sehr verletzte sie Maliques Anblick.
,,Hey, hey, was... was ist denn los?", fragte Imani und das obwohl sie genau wusste, was los war. Ihre Überforderung nahm sie in diesem Moment einfach vollkommen ein und ließ sie nicht klar denken. Behutsam setzte sie sich auf die Bettkante und strich Malique einmal die Decke vom Kopf. Seine braunen Locken kamen allmählich zum Vorschein und waren schon fast wieder trocken. Tränen strömten immer wieder über sein Gesicht und schienen nicht mehr aufzuhalten zu sein. Die grünen Augen, die Imani sonst so sehr an ihrem Bruder geliebt hatte, verschreckten sie in diesem Augenblick eher, denn sie waren völlig gerötet und geschwollen.
,,Was war da draußen los, Imani?" Maliques Stimme bebte und seine Hände fingen an zu zittern als er sich aufsetzte.
Imani schwieg erst eine Minute, dann zwei, immer mehr, bis sie sich wirklich sicher war, dass es sein musste. Dass sie ihm alles erzählen musste. Es war nicht einfach für sie, alles andere aber nicht das. Gestresst atmete sie einmal zittrig ein und dann wieder aus.
,,Bist du auch wirklich bereit?", fragte sie um sich wirklich sicher sein zu können, immerhin gab es kein Zurück mehr sobald sie es ihm erzählt hätte. Sie könnte es ja nicht einfach aus seinem Kopf löschen.
,,Ich weiß nicht", antwortete er verunsichert und schien sich langsam zu beruhigen.
Was hatte ich mir auch gedacht? Dass er jetzt losschreit, dass er bereit wäre oder was? Natürlich ist er's nicht, nichtmal ich bin das, dachte Imani und lachte einmal heiser und verzweifelt auf.
,,Aurela... sie kommt nicht mehr mit, weil ihr's nicht gut geht", fing Imani erst einmal schonend an und versuchte es ihm insgesamt so schonend wie möglich beizubringen. Vielleicht schien es so als würde sie übertreiben, aber es war immerhin kein leichtes Thema. Es war immerhin nicht so, dass sie ihm beizubringen versuchte, dass er heute nichts Süßes als Nachtisch dürfte. Das hier war ein ganz anderes Niveau.
,,Wann wird's ihr denn wieder gut gehen?"
,,Nie wieder, weißt du, ... sie wird nie wieder gesund. Nie wieder", flüsterte Imani und konnte dabei nicht verhindern, dass auch ihr Tränen kamen.
,,Aber warum denn?" Malique war so ahnungslos wie ein kleiner Junge nur sein konnte, es fiel Imani unendlich schwer diese Unschuld zu zerstören. Es fiel ihr einfach ungeheuer schwer dieses reine Gewissen zu beeinflussen und mit dem Gewissen zu leben, dass er davon womöglich Albträume bekommen könnte, was nebenbei bemerkt sehr wahrscheinlich der Fall sein würde.
,,Sie... sie ist tot." Scharf zog sie die Luft ein und zitterte am ganzen Körper und als auch Malique aufhörte zu Atmen und sich weiter nach vorne lehnte, bekam sie eine unglaubliche Gänsehaut. Nun strömten Tränen bei beiden umso mehr und es war unmöglich sie in diesem Moment zu stoppen.
,,So echt oder tut sie vielleicht nur so?", stotterte Malique ungläubig und Imani konnte dabei nicht verhindern, dass ihr ein kleines Lächeln aufs Gesicht huschte. Genau diese Unschuld wollte sie nicht zerstören. Malique war noch nie mit dem Tod konfrontiert worden und das hier war sogar noch sehr viel mehr als das. Er war dafür nicht bereit, wenn Imani selbst es nicht einmal war. Er konnte dafür nicht bereit sein, wenn eine halbe Stadt es nicht war. Wie sollte dann ein kleiner Junge all das aushalten können, ohne zu zerbrechen? Imanis Kopf ratterte in diesem Moment und auch ihr wurde dasselbe bewusst.
Aber er muss doch trotzdem wissen, dass es draußen gefährlich ist, dass er nicht einfach irgendwo langlaufen darf, dachte Imani und versuchte eine harmlosere Möglichkeit zu finden.
,,Nein, sie ähm sie tut nicht nur so."
,,Aber was ist denn passiert, Imani?" Malique hatte sich mittlerweile in den Schneidersitz gesetzt und schaute Imani aus vollen grünen Augen an, die nur so vor Unglaube trotzten. Imani seufzte.
,,Du... du weißt doch, dass es draußen viele böse Menschen gibt, oder? Mama hat dir doch beigebracht, dass du mit niemanden mitgehen darfst, weil es einfach Menschen gibt, die nicht immer nett sind." Imani atmete zwar ein, aber es war ihr als würde sie keinen Sauerstoff aufnehmen. Ihre Beine kribbelten so sehr, dass sie einmal runter schauen musste, und sich vergewisserte, dass dort keine Ameisen krabbelten, die ihre Beine durch ihre Tausende von Bissen betäubten. Stattdessen schaute sie auf ihre hellblaue Jeans, die an einigen Stellen dunkler war.
,,Ja", sagte er zwar, klang dabei jedoch wirklich verunsichert und es hörte sich eher wie eine Frage als Antwort an.
,,In letzter Zeit sind da draußen ganz viele böse Menschen, die nichts Gutes wollen. Deswegen darfst du auch nicht alleine raus, nicht, dass sie dir noch was Böses wollen. Und deswegen war ich auch so ängstlich, als wir im Park einen neuen Weg genommen haben. Ich hab Angst, dass sie dich uns wegnehmen, Malique", sprach sie zittrig und konnte dabei wieder einmal nicht verhindern, dass ihr Hunderte von Tränen die Wangen herunterrannen und auf ihren rosanen Pulli tropften. Ihre Augenbrauen zogen sich automatisch zusammen und ihr Herz schlug so laut, dass sie dachte, es würde ihr gleich aus der Brust springen.
,,Also haben die Aurela was Böses angetan? Sie haben ihr das angetan?", fragte Malique und wirkte dabei völlig hilflos.
Mit aller Mühe schaute er Imani in die Augen und erkannte, dass es so war. Dass Imani die Wahrheit sprechen musste. Er erkannte, dass Aurela nicht gleich aus dem Kleiderschrank springen und 'Überraschung' schreien würde. Letztendlich sah er, dass Imani in diesem Moment nicht scherzte und es schien so als würde sie das eine lange Zeit nicht mehr können.
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