Kapitel 2
Zittrig nahm sie die Hand ihres kleinen Bruders.
,,Hey, so kann ich doch gar nicht rennen!", beschwerte sich Malique sofort. Wütend schaute er sie an, während er versuchte sich von ihrer Hand loszureißen.
,,Das kannst du doch auch noch im Park." Imani würde ihn auch im Park nicht rennen lassen. Zu gefährlich war es ihr, immerhin hatte sie Yasmin versprochen, dass sie aufpassen würde.
,,Na gut." Der Trotz in seiner Stimme war deutlich hörbar.
Leise gingen sie die Straße zum Park entlang und beobachteten alles genau.
Voll ruhig, dachte Malique und zog verwirrt seine Augenbrauen zusammen. Seine Besorgnis schob sich in den Vordergrund und ließ ihn die Wut von eben vergessen.
,,Warum ist hier niemand, Imani?"
Sie hatte gehofft, dass es ihm nicht auffallen würde. Ganz schön dumm.
,,Ach, es ist doch Sonntag. Da gehen die meisten nicht raus, sondern entspannen zu Hause. Im Park gleich sind aber bestimmt mehr." Imanis Stimme war unsicher geworden und vorsichtig blickte sie zu Malique runter, um seine Reaktion zu sehen.
,,Bestimmt." Imani war sich sicher, dass es so nicht lange weitergehen könnte. Immerhin verhielten sich die meisten komisch.
Irgendwann wird es auffallen, überlegte Imani. Malique grübelte schon jetzt und schien sich wirklich Sorgen zu machen. Mit seinem kindlichen Lächeln und der leicht roten Nase schien er zwar klein und harmlos, doch das war er nicht, das wusste Imani. Malique war ein schlauer Junge und es würde nicht mehr lange dauern bis er es herausgefunden hätte, da war Imani sich sicher.
Aber vielleicht sollen die Kinder es herausfinden, machte Imani sich Gedanken. Dieser Gedanke fesselte sie und ließ sie nicht mehr los.
Warum sage ich es ihm jetzt einfach nicht, zerbrach sie sich den Kopf und schien plötzlich unberechenbar.
Es wäre für seine Sicherheit, für die von allen Kindern, ihre Gedanken nahmen sie vollends ein und ließen sie gar nicht bemerken, dass Malique einen unbekannten Weg ansteuerte.
Eine Stimme in ihrem Kopf rief ihr immer wieder zu, dass es das beste für ihn sei. Doch Imani kämpfte mit sich. Würde sie es ihm sagen, würde sie sich allen widersetzten. Sie würde riskieren, dass Malique es anderen erzählen würde. Sie würde Trauer riskieren, die die Kinder zerstören könnte. Das könnte sie nicht verantworten.
Und genau diese Gedanken ließen Imani einmal tief ein- und ausatmen und sich beruhigen.
Sie konnte es ihm einfach nicht sagen, das wusste sie. Sie musste es akzeptieren.
,,Guck mal!", rief Malique und brachte Imani somit zurück in die Realität. Erschrocken weiteten sich ihre Augen, wo lang waren sie nur gegangen?
,,Wo sind wir, Malique?" Ihre Stimme war überraschenderweise eindringlich und schien mit einem Mal sicher, was Imani selbst kurz erschreckte, doch ließ sie sich nicht davon beirren. Im Moment gab es definitiv Wichtigeres für sie.
,,Ist das nicht cool, ein ganz neuer Weg!" Und genau deswegen wollte Imani ihrem Bruder alles zu gern erzählen.
Er hätte sie in eine Falle, in den Tod, führen können und hätte es nicht einmal gewusst.
Und es wäre auch jetzt der Fall gewesen, wenn Imani die Polizei im Horizont nicht entdeckt hätte. Automatisch fühlte sie sich sicherer und befreiter.
,,Warum ist denn die Polizei hier?", fragte Malique und klang verunsichert. Er hatte sie erst gesehen, als Imanis Blick dorthin verharrte und er ihrem Blick gefolgt war.
Sein Blick glitt zu Imani und verweilte in ihren Augen. Verwirrt zog Imani ihre Brauen zusammen und presste ihre Lippen aufeinander. Sie war deutlich erschrocken. In Maliques Augen war pure Angst zu sehen, pure Unsicherheit und tatsächlich auch eine kleine Spur von Freude. Sie war unsicher, was das bedeutete. Unsicher, ob es gut oder schlecht war und was genau diese Gefühle bei Malique hervorrufen.
,,Alles okay?", fragte sie und schaute wieder zur Polizei. Noch immer waren sie weit entfernt und man konnte nur leicht die blinkenden Lichter erkennen. Sirenen waren nicht zu hören. Genau, die Sirenen, fiel es Imani ein. Ständig fuhren sie durch die Stadt, das war mittlerweile auch den Kindern aufgefallen. Ein weiterer Punkt, der bewies, dass es irrsinnig war, den Kindern nichts zu erzählen. Und trotz allem hielt Imani ihren Mund und ging mit Malique weiter. Mittlerweile waren ihre Schritte schneller geworden und ihr Bruder hatte inzwischen Schwierigkeiten mitzuhalten.
,,Ja, aber warum gehst du plötzlich so schnell?", beschwerte er sich und blieb ruckartig stehen.
,,Warum? Warum verhaltet ihr euch alle so komisch? Schon seit Tagen? Und warum ist in deinen Augen jedes Mal Angst und Trauer zu erkennen? Was ist hier los, Imani?" Maliques Stimme war laut geworden und er hatte es geschafft, sich von Imani loszureißen. Bestimmend hatte er seine Arme verschränkt und tippte mit seinem rechten Fuß immer wieder auf den Boden. Allmählich zog er seine Augenbrauen hoch und brachte einen fragenden Ton heraus. Imani war leicht eingeschüchtert von Maliques plötzlichem Wutanfall und wartete ihre Antwort noch kurz ab. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie nun sagen sollte. War völlig planlos.
,,Du hast gefragt, warum Aurela nicht mehr mitkommt. Soll ich es dir sagen?" Im selben Moment, in dem Imani ihre Wort ausgesprochen hatte, bereute sie sie schon und wünschte sich, sie hätte einfach ihren Mund gehalten. Es wäre besser gewesen, das wusste sie.
,,Ja", flüsterte er erstaunt über die plötzliche Offenheit Imanis. Derweil hatte Malique aufgehört, mit seinem Fuß auf den Boden zu tippen und war einen Schritt näher zu Imani gekommen. Sein Interesse war deutlich zu sehen. Imani atmete einmal tief ein.
,,Schon gut, komm, wir... wir gehen lieber weiter." Imani war der Meinung, dass es das Beste wäre. Für alle.
,,Nein! Ich habe keine Lust auf all diese Geheimnisse! Sag's mir endlich!", schrie Malique und stampfte auf sie zu bis er direkt vor ihr stand. So was hatte er noch nie zuvor gemacht. Und genau deshalb wich Imani einen Schritt zurück, sie war mehr als erschrocken von Maliques Verhalten.
,,Was gibt es so dringend zu verheimlichen?!" Maliques Stimme war um einiges lauter geworden und er schien sich nicht mehr beruhigen zu können. Seine Stimme war um eine Oktave gestiegen und sein sonst ständiges Grinsen war nun vollends verschwunden. Wütend hatte er seine Augen zusammengekniffen und auf seiner Stirn hatten sich erkennbar Falten gebildet. Benebelt bekam Imani mit, wie es anfing zu regnen und Maliques Haare platt wurden. Seine grünen Augen glänzten vor Wut und die Träne, die sich aus seinem linken Auge stahl, verschmolz mit dem Regen.
,,Ich würde es dir zu gerne sagen, Malique. Ehrlich. Aber ich kann nicht, noch nicht. Ich werde es dir erzählen, irgendwann, wenn der richtige Zeitpunkt ist." Imani blickte in den Himmel und sah dunkelgraue Wolken, der Regen würde definitiv nicht so schnell aufhören. Irritiert versuchte sie sich zu beruhigen, erfolglos.
,,Ist es etwa wirklich so schlimm?", fragte Malique und in seiner Stimme war deutlich Besorgnis zu hören. In Gedanken vertieft, schaute er Imani an und erkannte ihre Angst, Angst vor dem Unbekannten. Vor dem, was passieren könnte, wenn sie es ihm erzählen würde. Grübelnd schaute er sie an, sah ihre dunkel-blonden Haare, die schlaff herunterhingen und wie einige Strähnen vor ihrer Brille hingen und ihr so die Sicht leicht versperrten. Er sah ihre blauen Augen und sah ihre Verzweiflung. Er sah das Mädchen, das Angst im Dunkeln hatte und superleicht zu erschrecken war.
Er sah ihre verletzliche Seite, eine Seite, die Imani nicht gerne zeigte.
,,Ja", flüsterte sie und fing stark an zu zittern.
Schlimmer als du dir vorstellen kannst, dachte sie.
,,Okay, aber du erzählst es mir, wenn es so weit ist? Versprochen?" Er gab auf, es war das Beste, das wusste er.
,,Versprochen." Erleichterung überkam Imani und ließ sie lange ausatmen, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte.
,,Gehen wir weiter?", fragte Malique und wies auf den Weg vor ihnen. Er liebte es, im Regen draußen zu sein.
,,Na gut, aber das ist das letzte Mal, dass wir einen unbekannten Weg nehmen." Imani nahm diesen Weg nur, weil die Polizei vor ihren Augen war. So wären sie wenigstens etwas in Sicherheit.
Beide streckten die Hände nacheinander aus und gingen weiter. So lange bis der Polizeiwagen direkt vor ihnen war und sie den Grund sehen konnten, weshalb die Polizei hier war.
Und im selben Augenblick, in dem Imani den Grund sah, drehte sie sich um und zog scharf die Luft ein. Sofort bereute sie es in den Park und diesen Weg gegangen zu sein. Wie dumm es doch von ihr war.
,,Was ist das, Imani?", fragte Malique angsterfüllt. Nun brauchte sie ihm nichts mehr verheimlichen.
Wohl eher wer, schrie Imani schmerzerfüllt in ihrem Kopf und schüttelte den Kopf verzweifelt.
,,Lass uns weg hier, sofort!", rief Imani und fragte sich sofort, weshalb die Polizei denn nichts abgesperrt hatte.
Immerhin war genau vor ihnen, ganz offen, ihre Nachbarin zu sehen.
Tot.
Genau vor ihnen kniete ihre tote Nachbarin, eine Leiche.
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