Wann war gestern?
Ich weiß nicht, wann ich zuletzt dort gewesen war. Dann denke ich nach. Es fällt mir ein. Es Weihnachten im letzten Jahr. Ich habe wieder oben geschlafen. Ich habe abends wieder geflimmert und zum Essen gab es Hackepeter. Als mir langweilig war, habe ich Klavier gespielt. Davor habe ich das Licht eingeschaltet, die Heizung angemacht und es erklang dieses typische Surren. Die Heizung hatten sie schon lange. Auf eine alten Bild küsst mich mein Opa als ich zum ersten Mal bei ihnen gewesen bin. In der linken Ecke stand schon damals die Heizung. Heute steht sie immer noch dort. Ich nahm mir ein Notenbuch, klappte vorsichtig die braun-hölzerne Klappe auf, nahm das von mottenzerfresse grüne Schutztuch hinunter und erblickte die angegangenen, in Teilen verstummten, Tasten der Klaviatur. Es war wie immer gewesen. Ich habe Klavier gespielt und dann habe ich Gute Nacht gesagt. Ich bin nach oben gegangen habe mich ins Bett gelegt und am nächsten Tag haben wir gemeinsam den Weihnachtsbaum geschmückt. Es war der 23. Dezember. Unter den verzierten Baum, Opa hatte sich irgendwann hingesetzt, habe ich mein Geschenk gelegt. Es war ein verpacktes Buch. Wir machten ein Foto. Dann reiste ich ab.
Wenn ich mir das heute alles ansehe, dann atme ich schwer, dann sehe ich andere Erlebnisse, empfinde andere Gefühle, bin ein ganz anderer Mensch. Es ist etwas eingezogen, was hier nicht existiert hatte. Der Wein am Büro ist noch immer da, aber ich möchte ihn nicht essen. Das graue Gebäude ist nun groß und riesig, kalt und einsam. Früher war das nicht so. Die Waschküche ist trocken, das Gästezimmer staubig und es ist leise. Alles ist leise und ich möchte schreien. Aber auch ich werde ruhig. Die Tür hatten sie sich erst neu gekauft. Es riecht noch nach ihr. Ich betrete den Flur und ich könnte meinen, sie käme um die Ecke. Sie hätte wieder ihre Weste an. Sie wäre wieder da. Aber sie ist es nicht. Niemand kocht in der Küche. Ihr Stirnband ist in der Truhe mit den Handschuhen, Schals und Mützen. Ihre Seite ist im Schlafzimmer noch immer mit der alten Bettwäsche bezogen, aber niemand schläft darin. Es ist leer. Das ganze Haus ist leer. Etwas fehlt. Noch bin ich gefasst. Noch kann ich alles verdrängen. Noch kann ich verstehen, was passiert. Aber mit jedem Eindruck, mit jeder Erinnerung werde ich brüchig. Ich kann nichts mehr sehen. Ich will mir die Augen aushacken. Ich will nichts hören. Ich will taub sein. Ich will nicht mehr klassische Musik aus dem Radio hören, keine Coppenrath und Wiese Brötchen mehr essen, nicht über den Flieder nachdenken, der fast umkippt und ich möchte auch keine Soljanka mehr essen. Ich möchte nicht mehr auf dem Platz sitzen, wo ich sonst immer gesessen habe, aus dem Keller keinen Orangensaft holen oder unter dem Tisch im Wohnzimmer Stricknadeln und unfertige Socken entdecken. Ich will nicht mehr. Das alles war noch gestern.
Gestern habe ich mit ihr gesprochen. Sie hatte sich gefreut. Sie sagte, es gehe ihr besser. Das war gestern. Sie fragte, was ich gerade mache. Bald legte ich auf, denn sie sollte nicht noch mehr angestrengt werden. Ich habe gehofft. Ich habe mich in das Gestern verliebt. Heute sitze ich hier und sehe keine Bettwäsche, die in großen Tragetaschen verstaut ist. Alles ist stehen geblieben. Die Tomatenstauden im Garten, die Gurken, die Blaubeerbüsche. Ihre Brille liegt noch auf dem Küchentisch, ich blicke sie an und blicke zurück. Ich spiele mit meinen Fingern. Ich will nichts saen. Ich starre an die Wand. Dort ist die Zeichnung mit dem Krug. Sie hat sie gemocht. Ich schaue Weg. Ich sehe auf den Tisch. Er ist leer. Ob es gleich Mittag gibt? Es bleibt leer. Ich starre aus dem Fenster: der Flieder. Ich gucke zurück. Ich halte das nicht aus. Ich gehe zur Tür. Rechts hängt die Frischhaltefolie an der Wand. Ich mache die Tür auf und atme. Dort steht sie wieder. Ich sehe sie im Flr und frage mich, ob das wahr sein kann. Ich öffne die Augen: alles leer. Die Stufen knartzen, wenn ich hinauf gehe und niemand sitzt am Computer und spielt Karten. Niemand überlegt sich Geburtstagsreime. Niemand schreibt Karten. Hier ist niemand. Die Pflanzen haben keine Mutter mehr. Es ist kalt. Die Heizungen sind aus. Ich will hier weg. Ich traue mich nicht, einen Schritt mehr zu machen. Wieder sehe ich die Treppe und erinnere mich daran, als ich runtergefallen bin. Dann ist sie wieder da und ich könnte schwören, dass es erst gestern war. Ich renne hinunter. Ich gehe durch die Haustür. Ich sehe den Hof. Ich sehe den Garten. Ich sehe sie. Ich gehe vom Grundstück. Ich sehe sie in der Einfaahrt. Sie hat das Tor zugemacht, bevor wir gefahren sind. Wir waren bei Kirche in x. Sie war überall. Und wenn sie weg ist - was ist dann die Welt? Was wird dann aus mir? Was kann ich noch sein, wenn sie nicht mehr da ist? Existiere ich überhaupt? Existieren meine Erinnerungen? Ich renne aus dem Hof. Ich renne die EInfahrt hoch. Hinter mir steht der silberne Opel. Er trägt ihren Namen. Sie steigt ein. Wir fahren nach Schlepzig. Wir fahren nach Lieberose. Wir fahren zum Friedhof. Wir fahren; nicht ich. Vorne rechts ist Kaufland. Dort sind wir einkaufen gegangen. Da kann ich nicht langgehen. Ich gehe gerade aus. Rechts geht es nach Forst. Da sind wir auf dem Oder-Neiße-Damm-Fahrrad gefahren. Links ist die Karl-Marx-Straße. Dort hat sie mir das Mahnmal gezeigt. Ich entkomme nicht. Ich entkomme allem nicht.
Ich weiß nicht mehr wo ich bin. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wann ich bin und ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Plötzlich ist überall Nebel und ich bin verwirrt. Hastig suche ich einen Ausgang. Atme ich noch? Atme ich? Will ich atmen? Überall ist Leere. Ist schon morgen? Was ist das morgen? Kann das das morgen sein? Fühlt sich so das morgen an? Wann war gestern? Wann war das alles? Wann war ich gestern? Wann war sie gestern? Wie weit sind wir? Was ist Zeit? Wo bin ich? Wann werde ich sein? Ich sinke zurück. Ich bin wieder bei mir. Ich bin in meinem Zimmer; vor mir die Vorhänge, die sie genäht; hinter mir das Bett, in dem sie geschlafen hat. Sie ist überall: am Schrank das Zitat von Tolstoi. Es ist schon sehr verblasst. Ich muss es abnehmen, damit es nicht verschwindet; damit ihre Schrift nicht verschwindet, damit sie nicht verschwindet, damit ich nicht verschwinde, damit die Welt nicht verschwindet. Alles löst sich auf. Löse ich mich auf? Was bleibt bestehen? Bleibe ich bestehen? Bleibt sie bei mir? Was werde ich vergessen? Was werde ich nie wieder sehen?
Es kam ganz plötzlich, als hätte es niemanden interessiert. Plötzich war sie weg. Plötzlich war die Welt eine andere. Plötzlich war alles um uns herum nichts mehr gewesen. Plötzlich wurde das Krankenhaus zu einem nichts, die Welt, die Vorhänge, die Brötchen, die Weste, die Welt, das Haus, die Feiern, die Kostüme, alles, alles wurde zu einem großen nichts und ich stand im Mittelpunkt. Die Leere zerriss mich und ließ mich in tausend Stücke zurück. Ich war nicht mehr. Niemand war mehr irgendetwas für mich. Ich hatte keine Ziele, wenn sie mir so schnell weggenommen werden konnten. Ich konnte nirgendwo mehr hin. Ich kann es nicht. Ich kann das nicht. Ich schaffe das nicht. Man hat mir etwas weggenommen, das ich zurück will. Ich bin ein Kleinkind ohne Mutter, Pech ohne Schwefel, Streichholz ohne Schachtel. Ich bin unvollkommen. Meine Welt ist eine andere.
Ich sitze am Küchentisch und es ist alles wie vorher. Es ist leer. Das ganze Haus ist leer. Die Brockhaussammlung steht im Wohnzimmer ohne Zertifikat, weil es teurer gewesen wäre. Das Diplom zur Chemie- und Mathematiklehrerin ist in einer Mappe, die ich noch nicht gefunden habe. Am Ende des Tisches liegt Sodoku und ich muss mich beherrschen. Es ist leer. Es wartet darauf, ausgefüllt zu werden. Aber niemand will es anfassen. Ich weigere mich. Ich weigere mich noch irgendwas an diesem Ort zu berühren. Ich will nicht. Ich will nicht loslassen.
Was waren meine letzten Worte? Ich weiß es nicht. Wieso weiß ich es nicht mehr? Ih muss alles konservieren. Ich muss wissen, wann gestern gewesen war. Ich muss wissen, wann das morgen kommt. Aber niemand sagt es mir. Niemand sagt mir irgendwas. Niemand sitzt im Garten und schält Kartoffeln oder sortiert Bohnen. Da ist niemand mehr. Da bin nicht ich, da ist nicht sie, da ist keine Sonne, da ist kein Tisch, da ist nur der Boden aus grauen Ziegelsteinen. Ich weiß nicht, was passieren wird. Irgendwann kommen sie alle. Ich bin der erste. Irgendwann kommen die anderen durch die Tür hinter mir. Irgendwann werden sie mich erreichen. Aber noch bin ich alleine. Ich bin der erste an diesem Tisch. Ich bin hier, weil ich hier sein muss. Aber was passiert, wenn ich tatsächlich aufstehe und weggehe? Was passiert, wenn ich wieder lerne, Schritte zu gehen? Wenn ich weiß, wann gestern war? Wenn ich im morgen bin? Ob sich das jemals erklären lässt? Ob ich jemand sicher sein kann, zu wissen, wann irgendetwas ist? Sicher weiß ich jetzt, noch mehr als sonst, dass alles fragil ist. Das weiß ich jetzt: mein Leben, mein Glück, mein Welt, ich. Ich bin fragil. Ich kann mich nicht auf alles vorbereiten.
Was wohl die anderen getan haben, als sie es gehört haben? Ob sie auch alleine waren? Ob sie geweint haben? Ob sie sich verflucht haben? Ob sie Momente gerne intensiver gespürt hätten? Ob sie gerne wandern wollen würden? Ob sie weiterhin existieren?
Wann war gestern? Bin ich noch im gestern? Sind sie noch im Gestern? Ich bin in der Schwebe. Ich bin in der Luft. Ichtaumle zwischen gestern und morgen, will das gestern nicht loslassen, mich mit allem daranklammern, was ich zur Verfügung habe, aber man reißt mich auseinander. Da ist es wieder: das Nichts; das Nichts, was sich zwischen uns stellt; was sich zwischen mich und meine Erinnerungen stellt und damit droht, alles zu zerstören: das schöne Lachen, die Falten, die warmen Hände, die Wünsche, die Träume. So viele Träume gingen in einem Tag auf Reisen in neue Welten. So viele Träume erlöschten und wurden nicht realisiert. Es war ein Tag. Es war eine Stunde. Es war eine Minute. Es war eine Sekunde, die alles verändert hat. In der einen Sekunde hat sich alles verwandelt; da wurde aus weiß plötzlich schwarz, aus Hoffnungen Alpträume und aus Sicherheit Ohnmacht. In einer Sekunde hatte sich alles verändert. Es war kein Sandkorn. Es war nicht mal ein Halbes. Es war nichts, was für die Welt Bedeutung hatte. Die Welt kannte ihren Namen nicht. Sie war nur ein kleiner Teil. Aber für so viele Leute war sie die Welt geworden; war der Mittelpunkt des Geschehens. In einer Sekunde wurden Welten zerstört; hunderte, tausende. In einer Sekunde wurde aus dem heute ein gestern.
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