v i e r z i g
| Regina |
Seitdem mir der Gedanke gekommen ist, den Kontakt zu Harry zumindest in beruflicher Hinsicht zu nutzen, frage ich mich immer wieder, was dagegensprechen sollte.
Je mehr Zeit verstreicht, umso sicherer werde ich. Der bloße Gedanke an ihn stürzt mich inzwischen nicht mehr in emotionale Extremen und nach der Veröffentlichung seines Albums kann ich diese neuerlangte Stärke auf direkt testen.
Seine Stimme und sein Gesicht geistern vermehrt durch die Redaktion, wenn auch nur über Lautsprecher und Bildschirm. Nachdem mein jetziger Arbeitgeber stets die Werbetrommel für Harry rührt und für die anstehende Tour wirbt, ist er immer wieder Thema im Sender.
Zwar werde ich mir sein Album weder kaufen, noch freiwillig einen Song daraus anhören, aber ich habe natürlich trotzdem mitbekommen, dass sein neustes Werk Fine Line unheimlich durch die Decke geht.
Im Moment gibt er einige Interviews dazu und Harry zeigt sich in so mancher Fernsehshow. Deren Inhalte verwerten wir konsequent auf unserer Website und reproduzieren gekonnt, doch eigene Inhalte zum Thema Harry Styles können wir nicht liefern – noch nicht.
Ein ganzes Jahr ist es inzwischen her, dass ich Harry in Malibu bei der Arbeit und bei diversem anderem beobachten durfte. Dass ich tatsächlich in den Shangri-La-Studios zugegen war, habe ich hier bisher noch niemandem erzählt, aber ich erinnere mich immer noch an jeden der dort verbrachten Tage, als wäre es erst gestern gewesen.
Nachdenklich drehe ich mich auf meinem Stuhl um die eigene Achse und starre an die Decke des Sammelbüros.
Bald muss ich zu einer Entscheidung kommen.
Harrys Promo-Phase geht langsam dem Ende zu, er hat die gängigen Stationen abgeklappert.
Danach hätte er bestimmt zumindest Zeit, ein paar Fragen per Mail oder am Telefon zu beantworten. Ob er auch Lust darauf hätte, mir diesen Gefallen zu tun, ist eine andere Frage.
„Oh, Regina, du bist ja noch da", bemerkt mich Erik, unser Programmchef, in dem fast leeren Büro. „Wolltest du nicht längst weg sein?"
Es ist Freitag. Wenn ich am Wochenende nicht arbeiten muss, fahre ich freitags so früh wie möglich zu meinen Eltern nach Hause, um dort die freien Tage zu verbringen.
Erik weiß das, immerhin ist man sich hier näher als ich es von Radio 1 gewöhnt bin.
Fragend sieht er mich durch seine Brillengläser an und lächelt freundlich. Er gibt mir immer das Gefühl, jederzeit zu ihm kommen zu können und legt Wert darauf, sich immer wieder zu versichern, dass es mir hier auch wirklich gut geht.
Ich arbeite noch nicht lange für ihn, aber alles an dem älteren Mann strotzt vor Sympathie. Seine sanften braunen Augen, die gemütliche Statur und auch der braune Drei-Tage-Bart, der nach eigener Aussage die Glatze ausgleichen soll, lässt ihn freundlich wirken.
„Liegt dir etwas auf dem Herzen?", fragt er ehrlich und tritt einen Schritt näher.
Mir liegt wirklich etwas auf dem Herzen. Gerade eben habe ich noch mit mir gehadert, ob ich meinen Chef von meinen Kontakten und Beziehungen wissen lassen soll, um zunächst abzuklären, ob ein Interview oder ähnliches mit Harry überhaupt erwünscht wäre.
Dass sich nun diese Gelegenheit biete und mir Erik ausgerechnet jetzt gegenübersteht, ist wohl ein Wink des Schicksals.
Als würde er ahnen, dass ich kurz davorstehe, mich zu überwinden und offen mit ihm zu sprechen, lässt sich Erik bereits auf dem Drehstuhl am leeren Arbeitsplatz neben mir nieder.
Aufmerksam sieht er mich an und wartet.
Jetzt oder nie. Dieses Mal, in diesem Job, will ich es besser machen. Hier muss die Arbeit weit vor dem Privatleben stehen.
„Ich.. Ich hab' nur überlegt", taste ich mich langsam vor. „Ob ich nicht ein bisschen was aus London hier einbringen kann."
„Oh", staunt Erik. Offenbar hat er etwas anderes hinter meiner nachdenklichen Miene vermutet. „Woran genau hast du denn gedacht?"
„Naja, ich könnte ja vielleicht mal versuchen, alte Kontakte aufleben zu lassen. Vielleicht springt dabei ja was für uns raus", unterbreite ich ihm meine Idee nur vage.
Interessiert merkt Erik auf. Schon bei meinem Bewerbungsgespräch war er immer wieder auf meine Zeit in London bei Radio 1 zu sprechen gekommen. Diese, wenn auch kurze, Station in meinem Lebenslauf hat mich in seinem Ansehen direkt steigen lassen.
„Natürlich, Regina!", scheint er schon jetzt begeistert. „Du weißt, diese Branche lebt von Kontakten und Beziehungen. Wenn du also immer noch brauchbare Leute in London sitzen hast, gib' dir auf jeden Fall Mühe, den Kontakt zu pflegen."
Anscheinend ahnt Erik nicht, welche Beziehungen ich hatte und vielleicht sogar noch habe.
Trotzdem nicke ich verstehend. „Eben. Und Nick Grimshaw hat mir schon einige Leute vorgestellt."
Jetzt horcht Erik sogar noch aufmerksamer auf.
„Nun, schwebt dir denn da schon irgendetwas Genaueres vor? Oder vielleicht irgendwer?"
„Naja, ich hatte in London hier und da mit Harry Styles zu tun", erzähle ich zögerlich.
Erik ist sichtlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, doch mir ist nicht entgangen, dass sich seine Augen gerade eben etwas geweitet haben. Aber vermutlich stellt er sich gerade die Frage, was ich als Neuanfänger bei Radio 1 mit Harry Styles zu schaffen gehabt haben sollte und ob ich mit meinem Gedanken nicht gerade etwas hoch gegriffen habe.
„Grimmy und ich haben uns sehr gut verstanden, er hat mir Harry mal vorgestellt", schiebe ich also noch schnell hinterher. „Und wir haben uns ganz gut verstanden."
„Mhm, mhm", nickt Erik angeregt. „Also wenn das klappen würde... Wenn du glaubst, uns da etwas organisieren zu können, wäre das natürlich genial. Ich lasse ich dir da völlig freie Hand!"
Erwartungsvoll lächelt er mich so breit an, wie er mich noch nie zuvor angelächelt hat.
Allein dieser Gesichtsausdruck setzt mich schon jetzt unter Druck. Jetzt muss ich ihm auch etwas liefern, wenn ich schon so große Töne spucke.
„Okay, dann würde ich übers Wochenende einfach mal versuchen, jemanden zu erreichen", schlage ich vor und versuche möglichst überzeugt von mir selbst zu klingen.
„Wunderbar! Wobei es natürlich immer dauern kann, da überhaupt Rückmeldung zu bekommen, aber das weißt du ja. Sag' mir also gerne Bescheid, sobald du mehr weißt oder natürlich auch, wenn du irgendetwas brauchen solltest."
Dass Presseanfragen in der Liga, in der Harry spielt, eine wirklich lange Bearbeitungszeit haben und oft auch völlig ignoriert werden, weiß ich sehr wohl. Erik hingegen ahnt nicht, wie nah ich Harry war und dass ich nicht vorhabe, den offiziellen, beruflichen Weg zu gehen, um Kontakt zu ihm aufzunehmen.
„Klar, ich halte dich auf dem Laufenden", nicke ich einverstanden.
„Perfekt", freut sich Erik ehrlich. „Eigeninitiative ist hier immer gern gesehen, trau' dich sowas ruhig öfters! Sehr schön, Regina!"
Dankbar nicke ich ihm zu und lächle, während er sich wieder aus dem Drehstuhl hievt.
„So, ich fahr nach Hause. Du hoffentlich auch bald. Wir sehen uns, schönes Wochenende!", ruft er mir noch, während er die Redaktion verlässt, zu.
„Schönes Wochenende!"
Kaum dass er den Raum verlassen hat, erstirbt mein Lächeln wieder.
In beruflicher Hinsicht war es sicherlich eine goldrichtige Entscheidung, diesen Schritt zu wagen – zumindest, wenn ich nun das Angekündigte auch in die Tat umsetze. Es ist die Chance für mich, mehr denn je zu glänzen und mich im Ansehen meines Chefs, beziehungsweise der gesamten Chefetage, ordentlich zu steigern.
Erik geht in ein entspanntes Wochenende, für mich hingegen heißt es jetzt, meine neuerlangte Komfortzone zu verlassen.
Das bedeutet, alte Kontakte wieder aufleben zu lassen und in diversen, verstaubten Handynummern zu stöbern.
Egal wie sehr ich mir vor Augen halte, dass es nichts mit Harry als Mensch zu tun hat und ich ledglich aus der Distanz, aus beruflichen Gründen, diesen Schritt gehe, fühlt es sich schon jetzt unglaublich seltsam an. In welche Richtung diese Emotion geht, weiß ich nicht.
Ich stehe irgendwo zwischen Neugierde, Grauen, Angst und peinlichem Berührtsein.
Ein ruhiges Wochenende werde ich also gewiss nicht haben.
„Verdammte Scheiße", murmle ich verzweifelt vor mich hin, während ich in meinem Zimmer im Haus meiner Eltern liege. Obwohl ich wusste, welches Thema dieses Wochenende im Mittelpunkt steht, bin ich zu ihnen in mein Heimatdorf gefahren.
Ich hatte gehofft, dass sich Harry hier so fern anfühlt, dass es etwas einfacher werden würde, mich mit ihm auseinanderzusetzen.
Seitdem ich ein Teenie war und zum ersten Mal einem Jungen geschrieben habe, war ich nicht mehr so ratlos und aufgeregt, wie heute.
Mit flauem Magen scrolle ich durch sämtliche Kontakte und alte Chats.
Harrys Nummer habe ich längst gelöscht. Als mich vor einer Weile die Enttäuschung überrollt hat und ich verstanden habe, dass es keinen Sinn macht, an jemandem festzuhalten, der nicht bleiben will, habe ich alles von ihm aus meinem Leben verbannt.
Dass ich dabei sogar so konsequent war und auch aus Gruppenchats, in denen seine Privatnummer war, ausgestiegen bin, wird mir jetzt zum Verhängnis. Sogar meine Anrufliste habe ich gelöscht und damit keinerlei Nummer von Harry.
„Das gibt's doch nicht."
Ungläubig durchforste ich weiterhin mein Handy, bis ich wieder einmal bei der naheliegendsten Alternative lande.
Der Weg zu Harry führt über Grimmy oder Diego – und nachdem ich mich in beruflichem Kontext bewege, muss es wohl Grimmy sein.
Wir sind nicht im Guten auseinandergegangen, was aber daran liegt, dass ich mich stur gestellt habe. Grimmy selbst war nie böse auf mich, was mir nicht zuletzt Diego bei seinem Besuch damals versichert hat.
Es ist ein gewaltiger Sprung über meinen Schatten, aber nicht halb so groß wie er gewesen wäre, hätte ich mich direkt an Harry wenden müssen. Auf diese Weise kann ich die Konfrontation zumindest noch ein wenig vor mir herschieben.
Als ich Grimmys Chat öffne, fällt mein Blick direkt auf dessen letzte Nachricht an mich.
Ruf mich an, wenn du dich beruhigt hast. Dein Selbstschutz und Selbsterhaltungstrieb versagt nun mal beim Thema Harry, deshalb hab' ich das übernommen. Ich hoffe, du kannst bald wieder klar denken.
Er hatte recht gehabt und ich habe es unterbewusst bestimmt schon damals gewusst. Aber erst jetzt will ich es auch sehen. Ob es klug ist, nun direkt wieder auf Harry zu sprechen zu kommen und um seine Nummer zu bitten, wird sich zeigen.
Zu verlieren habe ich dieses Mal nichts. Unsere Freundschaft steht nicht mehr auf dem Spiel, dafür sind wir inzwischen zu weit voneinander entfernt.
Zögerlich tippe ich also eine Nachricht an Grimmy. Eine Nachricht, von der ich niemals gedacht hätte, dass ich sie jemals schreiben würde.
Hey Grimmy.
Es ist so weit, ich habe mich beruhigt und ich kann auch wieder klar denken. Du hattest recht und rückblickend kann ich dir wohl dankbar sein. Es hätte nicht so laufen müssen, aber am Ende war es sicherlich für jeden richtig so.
Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht und dich Mesh nach wie vor glücklich macht. Es waren verrückte Zeiten in London und ich weiß, wie sehr du diesen Wahnsinn liebst. Das ist hoffentlich immer noch der Fall.
Bei mir ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt, worüber ich auch verdammt glücklich bin. Die Begeisterung am Job hab ich aber aus London mit nach Hause genommen.
Ich bin immer noch beim Radio, wenn auch dieses Mal eine Nummer kleiner – immerhin bin ich wieder in Deutschland. Und damit bin ich auch schon bei meinem Anliegen.
Ich weiß, dass es nicht das beste Thema nach einem halben Jahr Funkstille ist, aber...
Harry könnte mir einen enormen Gefallen tun und mich in meiner Karriere hier ein ganzes Stück weiterbringen. Nur hab ich seine Nummer nicht mehr.
Somit könntest du mir also auch einen Gefallen tun. Kannst du mir bitte weiterhelfen?
Ich hoffe von dir zu hören.
Grüß' mir Mesh,
Reggi
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top