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| Regina |
Es ist erschreckend, in welcher Rekordzeit mich Harry von sich überzeugt hat. Ihn kennenzulernen, ist das wohl Aufregendste, was ich in meinem Leben bisher erlebt habe und ich genieße jede Minute davon.
Manchmal holt er mich nach Feierabend vom Sender ab, bloß um mich nach Hause fahren zu können, damit wir uns noch eine Weile in seinem Wagen unterhalten können. Er ist so lieb und zuvorkommend, dass ich oft völlig vergesse, dass er eine Person des öffentlichen Lebens ist und ich seinen Namen schon so viel länger gekannt habe, als den Menschen dahinter.
Er begeistert mich mit allem, was er tut so sehr, dass es mir Angst macht. Insbesondere, dass ich sogar unsere anfänglichen Differenzen und diesen Abend im Club so konsequent vergessen will und es auch tatsächlich schaffe, all diese Warnungen – inklusive derer, die Harry selbst an mich gerichtet hatte – zu ignorieren.
Meine Welt dreht sich ausschließlich um Harry - und zeitweise auch um die Arbeit. Diese wiederum vergeht bei Weitem schneller, wenn ich weiß, dass ich Harry bald wiedersehen kann. Ob es ihm genauso geht, kann ich nicht einschätzen, aber die Euphorie, die mich durchströmt, wenn ich an ihn denke, vernebelt mir ohnehin die Sinne.
Die Zeit vergeht rasend schnell und die Weihnachtszeit neigt sich sogar schon dem Ende zu. Umso erleichterter bin ich, zu dieser Zeit nicht allein zu sein.
Es ist das erste Mal, dass ich Weihnachten nicht Zuhause sein werden, doch bislang wurde ich primär durch Harry, aber auch dank Grimmy und Diego, davon abgelenkt.
Am letzten Samstag vor Weihnachten sitzen wir wieder bei Grimmy beisammen. Der hat einen regelrechten Kessel an Glühwein gebraut und uns die größten Tassen, die er finden konnte, überreicht. In zwei Tagen ist Heiligabend und bei jedem macht sich langsam Aufbruchstimmung breit.
„Meine Schwester kommt heute Abend noch her und morgen fahren wir dann nach Manchester", berichtet Grimmy von seinen Plänen.
„Ich flieg' auch morgen früh nach Madrid", stimmt Diego mit ein. „Meine Großeltern werden in diesem Leben in kein Flugzeug mehr steigen, also muss die ganze Familie jedes Jahr rüberfliegen."
„Da hab' ichs nach Holmes Chapel nicht ganz so weit. Aber ich werde am Montag erst heimfahren", erzählt schließlich Harry von den Weihnachtsplänen mit seiner Familie.
Dann schweifen alle Blicke zu mir. Mit Harry habe ich bereits über mein Weihnachtsdilemma gesprochen und auch Grimmy hat vermutlich auf der Arbeit davon mitbekommen.
„Wie wirst du die Feiertage verbringen?", fragt Diego.
„Bei der Arbeit", antworte ich und bemerke, wie alle Blicke plötzlich in Mitleid umschlagen.
Natürlich, immerhin halten sie mich alle für das von Heimweh geplagte Dorfkind, das ich auch tatsächlich bin. Aber dieses Ich will ich endlich hinter mir lassen und den Menschen zuhause, als auch den Leuten hier in diesem Raum – Harry allen voran – beweisen, dass ich härter bin, als sie alle denken.
„Aber das ist schon okay, ich werde gut beschäftigt sein", gebe ich mich selbstsicher, als hätte ich nicht schon jetzt Angst davor, die harmonische Familienzeit gänzlich allein zu verbringen. „Ich flieg' dann über Silvester nach Hause. Also, vielleicht. Falls es sich ergibt."
Ich hoffe, dass die anderen mir meine Abgeklärtheit abkaufen, denn ich selbst tu es nicht.
Grimmy, Diego und Harry lächeln mich aber stolz an. Bestimmt haben sie selbst schon diverse Feiertage mit ihren Familien verpasst. Was stell ich mich überhaupt so an?
„Eben, und es kommen ja noch einige weitere Weihnachten", winkt Diego dann beiläufig ab, aber Harrys Augen verharren noch länger bei mir.
Ich glaube, er sieht mehr als die meisten Menschen. Es würde mich wundern, wäre dem nicht so. Seine grünen Augen sehen so magisch aus, dass ich das Gefühl habe, Harry kann mich problemlos lesen.
Als ich versuche, ihn selbstbewusst anzulächeln, grinst er nur breit.
Den restlichen Nachmittag verbringen wir mit belanglosem Gerede, einigen Lachern und natürlich bleiben mir auch Grimmys skeptische Blicke, wenn immer Harry und ich einander ansehen, nicht verborgen. Ich frage mich, ob er und Harry wohl schon wieder über mich geredet haben.
Schließlich ist es dann doch an der Zeit aufzubrechen, nachdem Grimmys Schwester schon bald aufkreuzen würde und die beiden einen gemütlichen Abend miteinander verbringen wollten.
„Schöne Feiertage, Grimmy. Genieß die Zeit zuhause", wünsche ich ihm noch, als er uns alle an der Türe verabschiedet und wir uns fest umarmen.
„Wünsch ich dir auch. Die Redaktion macht dir die Tage bestimmt auch schön", lächelt er mich sanft an und streicht mir aufmunternd über die Oberarme.
Ganz abgekauft hat er mir meine Zuversicht, was die einsamen Feiertage angeht, wohl doch nicht.
Auch die Jungs verabschieden sich noch voneinander und wenig später laufen wir das Treppenhaus nach unten.
Diego wohnt nah genug bei Grimmy, um zu Fuß nach Hause zu gehen und für gewöhnlich laufen wir ein Stück, bis zur U-Bahn, noch gemeinsam. Dieses Mal wirft mir Harry aber auf der Straße einen Blick zu, der mir unmissverständlich zu verstehen gibt, dass ich noch eben warten sollte.
„Macht ihr zwei Hübschen noch was?", grinst uns Diego breit an uns guckt neugierig zwischen uns hin und her, als er bemerkt, dass ich zögere und anstatt ihm zu folgen bei Harry stehen bleibe.
„Ach was", winkt er dann selbst ab, ehe ich oder Harry etwas erwidern können. „Ich will es gar nicht wissen. Am Ende quetscht mich Grimmy bloß wieder über euch aus und ich komm' in 'ne blöde Situation. Da bleib ich lieber unwissend. Also, viel Spaß euch."
Schon schließt mich Diego zum Abschied fest in die Arme, umarmt Harry noch kurz und geht schnell seiner Wege.
Perplex sehen Harry und ich ihm hinterher.
„Hat er gerade gesagt, Grimmy würde ihn wieder über uns ausquetschen?", fragt Harry mit erhobenen Augenbrauen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich diese Frage an ihn selbst oder an mich richtet.
„Sowas in der Art hab ich auch verstanden", antworte ich vorsichtshalber und muss etwas schmunzeln.
Grimmy ist doch wirklich unglaublich neugierig. Harry hingegen scheint das Ganze weniger amüsant zu finden und knirscht genervt mit den Zähnen.
„Wie dem auch sei", knurrt er genervt und präsentiert mir auffordernd seine Autoschlüssel. „Ich fahr dich wieder nach Hause?"
„Kannst du denn noch fahren?", stelle ich überrascht die Gegenfrage.
Immerhin hat er soeben auch etwas getrunken, aber Harry winkt selbstsicher ab.
„Ich hatte zwei Glühwein innerhalb von knapp vier Stunden. Da trau ich mir doch noch zu, ein Auto zu lenken."
Es sollte mir wohl zu denken geben, dass ich unabhängig von Harrys Antwort auf der Stelle in seinen Wagen eingestiegen wäre. Ich will bei ihm sein und ihm vertrauen, obwohl es doch noch so viele Dinge gibt, die ich nicht von ihm weiß.
„Gut, danke", nicke ich also einverstanden und laufe mit ihm zu seinem Range Rover, der nicht weit entfernt von Grimmys Hauseingang geparkt ist.
„Freust du dich auf die Feiertage?", frage ich Harry auf der Fahrt nach Clapham South.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ihm Zeit in der Heimat guttun wird, allerdings tue ich mich immernoch schwer damit, ihn einzuschätzen. Vielleicht, weil ich unterbewusst immernoch sein Bild auf der Feuertreppe vor mir habe.
„Ja, auf jeden Fall", nickt Harry. „Das wird ganz entspannt. Wir feiern Weihnachten eigentlich immer gleich, im engsten Kreis. Und da wird ein bisschen getrunken, es werden Spiele gespielt und viel zu viel gegessen."
„Das klingt nach einem gelungenen Fest."
„Finde ich auch", lacht Harry.
Dann wirft er mit einen prüfenden Blick zu.
„Fühlst du dich manchmal einsam hier in London?"
Ich ahne, weshalb er diese Frage stellt. Bestimmt hat er auch bemerkt, dass es mir doch zusetzt, die Feiertage allein zu verbringen.
„Selten", lächle ich ihn aber beschwichtigend an. „Ich bin die meiste Zeit unter Leuten und manchmal tut es ganz gut, allein zu sein und mal zu verarbeiten, was sich überhaupt alles verändert hat. Ich glaube, das gehört zum Erwachsenwerden dazu."
Verstehend nickt Harry.
„Was machst du dann heute Abend noch?"
Er klingt, als wollte er gerade prüfen, ob ich auch tatsächlich genügend unternehme und nicht zu viel herumsitze - fast wie es Grimmy stets getan hat.
„Ein paar Telefonate in die Heimat führen", antworte ich ehrlich. Nur weil ich nun in London lebe, heißt es nicht, dass meine Freundschaften in Deutschland nicht mehr gelten und nicht mehr gepflegt werden müssen.
„Was machst du noch?", gebe ich Harrys eigene Frage wieder an ihn zurück.
Wir fahren gerade in meine Straße ein und Harry bleibt in einer großen, freien Parklücke stehen.
Harry schweigt und weicht ertappt meinem Blick aus. Diese Stille und seine unruhigen Augen sind bereits Antwort genug und lauter als jede Ausrede, die er sich hätte ausdenken können.
„Ich werd' mich noch mit ein paar Freunden treffen und -"
Er scheint offensichtlich mit sich zu hadern, ob er mich anlügen, oder doch offen sprechen sollte.
In den letzten Monaten haben wir dieses Thema so gekonnt umschifft und totgeschwiegen, dass es nun umso unangenehmer ist, wieder darüber zu stolpern.
In mir kommt allerdings plötzlich unwillkürlich der Drang auf, Harry verständlich zu machen, dass ich auch diese Seite von ihm nicht ignorieren will.
Zwar hat er mir oft klargemacht, dass er mir diese Welt nicht zeigen will, aber trotzdem soll er wissen, dass ich offen dafür bin.
Er hat mich so in seinen Bann gezogen, dass ich alles über ihn wissen will. Und wenn er nicht bereit ist, mir alles zu zeigen, will ich ihn zumindest verstehen können.
Er soll mich nicht länger für die Unschuld vom Lande halten.
„Ihr geht feiern?", nehme ich Harry schließlich die Entscheidung ab und gucke ihn wissend an, als ich seinen Satz beende.
Unsicher wendet er sich mir zu. „Ja."
Wann, wenn nicht jetzt? Es ist die perfekte Gelegenheit, Harry auf das anzusprechen, was mich - egal wie sehr ich es auch verdränge - noch von ihm trennt.
Ich will es wissen. Ich will ihn verstehen.
„Kann ich dich mal was fragen, Harry?"
Kaum habe ich diese Frage in den Raum gestellt, stehen Harry seine nachdenklichen Falten auf der Stirn, während er mich ernst ansieht. In seinen grünen Augen ist klar zu erkennen, wie sehr er sich vor dem, was nun auf ihn zukommt, fürchtet.
„Kommt drauf an", seufzt er zögerlich. „Hatten wir nicht einen Deal, dass wir nicht mehr über diese eine Nacht und alles, was damit zu tun hat, sprechen?"
Ich bezweifle, dass Harry weiß, wie schwer es mir fällt, so direkt zu sein, aber um ihm näherzukommen, muss ich mich überwinden. Außerdem zeigt es Harry vielleicht auch, dass ich taffer und offener sein kann, als er geglaubt hat.
„Es geht auch weniger um diese Nacht, sondern mehr um dich. Ich glaube, dass ich dich inzwischen ganz gut kennengelernt habe und mag das auch alles wirklich gern. Aber - da ist immer diese eine Frage, die alles überschattet."
Seufzend stellt Harry den Motor seines Wagens aus und sieht mich aufmerksam an, als würde er ahnen, dass er die kommende Frage nicht in nur einem Satz beantworten könnte.
Allerdings zeigt es mir auch, dass er gewillt ist, mit mir zu sprechen.
Harry mag mich, dieses Gefühl hat er mir bislang immer gegeben. Vermutlich liegt ihm also auch daran, jede Distanz zwischen uns zu minimieren.
„Schieß' los", fordert er widerwillig, wendet sich aber auf dem Fahrersitz mit seinem ganzen Körper möglichst offen zu mir.
„Bist du abhängig?", frage ich direkt heraus, ohne lange darüber nachzudenken. Immerhin ist das die Frage, die alles, was mich beschäftigt, treffend zusammenfasst.
Ich werde Harrys Augen und seine Worte auf der Feuertreppe wohl nie vergessen. Er hatte damals ohne Frage irgendwelche Substanzen in sich, doch bis auf diese eine Nacht hat mir Harry nie den Eindruck gemacht, als hätte er irgendein Suchtproblem.
Für gewöhnlich sind abhängige Menschen doch verhaltensauffällig und in jeder Lebenslage unruhig, wenn sie dieser Sucht nicht nachgehen können.
All das ist Harry nie gewesen.
Gequält sieht er mich an und antwortet, wie so oft, mit einer Gegenfrage.
„Abhängig wovon?"
Ich spüre mein Herz nervös trommeln. Ich weiß nicht, was Harry damals eingeworfen hat, ich hab' es nie gewagt darüber nachzudenken. Etwas in mir will es auch gar nicht wissen – aber ich muss.
„Naja, von irgendwelchen Drogen", halte ich meine Antwort bewusst breitgefächert und sehe Harry vorsichtig an.
Ich habe wirklich Angst vor seiner Antwort, aber noch furchteinflößender ist es, dass es keine Antwort gibt, die mich hätte abschrecken können. Egal was mir Harry nun gesteht, ich werde es akzeptieren und mich auf keinen Fall von ihm abwenden.
„Ich hab' befürchtet, dass du das denkst", seufzt Harry tief. „Aber da steckt so viel mehr dahinter, es ist schwer zu erklären."
„Versuch' es doch zumindest", bitte ich ihn.
Zwar stehen wir bereits vor meinem Wohnhaus, aber ich denke keine Sekunde daran, nun auszusteigen.
Stattdessen hänge ich an Harrys Lippen, als ich erleichtert feststelle, dass er wohl wirklich einen Versuch starten will, sich mir zu erklären.
„Weißt du, ich bin wohl wirklich abhängig, aber nicht von irgendwelchen bestimmten Pillen oder so", sucht er nach den richtigen Worten und scheint noch einmal streng nachzudenken.
Gespannt mustere ich ihn. „Sondern?"
„Von meinem Job – in gewissermaßen."
Grimmy hatte wohl recht. Künstler sind ein Fall für sich und Musiker in ihrem Schaffen sehr exzentrisch. Wirklich verstehen kann ich Harrys Problem jedoch noch nicht.
„Was soll das heißen?", fordere ich etwas präzisere Antworten.
Nun hat Harry schon den ersten Schritt gemacht, jetzt kann er auch mit der vollen Wahrheit herausrücken.
Wieder erfüllt sein tiefes Seufzen das Innere des Wagens, aber endlich fängt Harry an, ehrlich zu sein.
„Regina, für dich ist das bestimmt schwer nachzuvollziehen. Du hast nie in Stadien vor abertausenden von Menschen gespielt, die dir zujubeln und dich für deine Musik feiern. In solchen Momenten rauscht so viel Adrenalin durch deinen Körper und du bist so voll von Glücksgefühlen – das ist mit nichts zu vergleichen. Aber wenn man erstmal dieses Hochgefühl gespürt hat, fängt man an zu vergleichen. Ich messe mein Leben seitdem ständig an dieser Skala, auf der die umjubelten Momente auf der Bühne eine glatte Zehn sind. In diesen Momenten bin ich wunschlos glücklich und mir tut jeder leid, der dieses Gefühl nicht kennt", erzählt Harry und sieht mir die ganze Zeit über direkt in die Augen.
Sein Blick ist so intensiv, dass es mir beinahe unangenehm ist, doch ich wage es nicht, den Blickkontakt zu unterbrechen. In Harrys Augen ist deutlich zu erkennen, wie wichtig es ihm ist, dass ich ihn verstehen kann.
„Auf Tour bin ich glücklich und ich gewöhne mich an dieses Gefühl – diese volle Zehn auf der Skala – weil ich jeden Abend auf der Bühne stehe und meine Musik leben darf. Aber irgendwann ist die Tour vorbei und ich schlage wieder in meinem Alltag auf. Hast du eine Ahnung, wie sich dieses normale Leben plötzlich anfühlt? Wenn man erst diese volle Zehn hat spüren dürfen, verschiebt sich die Wahrnehmung. In meinem Alltag werde ich niemals, selbst an guten Tagen, über eine solide Drei hinauskommen, im Vergleich zu dieser vollen Zehn."
Langsam dämmert mir, wo Harrys Problem liegt und worauf er hinauswill.
„Es ist verdammt deprimierend, sich in seinem Leben plötzlich so leer und unzufrieden zu fühlen. Alles kommt einem plötzlich so lapidar vor. Man wird beinahe irre beim Gedanken daran, dass die Karriere vielleicht irgendwann nicht mehr laufen könnte und man diese Zehn nie wieder erlebt. Was denkst du, weshalb ich mich nach One Direction sofort in die Solokarriere gestürzt habe? Ich kann nicht ohne dieses Gefühl leben. Und genau deshalb treibt mich dieses zweite Soloalbum fast in den Wahnsinn. Es muss einfach einschlagen und zwar so schnell wie möglich. Und bis dahin muss ich versuchen, mich auf irgendeine Art und Weise dieser Zehn zu näher, obwohl ich derzeit auf keiner Bühne stehe."
Er atmet einmal tief durch, als er seine Stimme senkt. Erschlagen von Harrys plötzlichen Redefluss, seiner Ehrlichkeit und dem, was ihn in seinem Leben bewegt, starre ich ihn an.
„Wow, das –", suche ich nach den richtigen Worten, kann sie aber nicht finden. „Das – klingt deprimierend."
Heiser lacht Harry auf.
„Das ist es aber tatsächlich nur zeitweise. Ich würde es nie missen wollen, diese Zehn auf meiner Skala kennengelernt zu haben – jeder sollte sich so fühlen können. Nur eben dauerhaft. Allerdings ist kein Alkohol dieser Welt so stark und kein Orgasmus so lang, um an diese Zehn heranzureichen."
Ich hatte wissen wollen, was hinter Harrys anderem Gesicht steckt. Ich wollte ihn verstehen und er hat gerade wirklich versucht, mir sein Dilemma nachvollziehbar zu erklären.
Es ist wohl bloß die logische Konsequenz, dass ich nun vollkommen überfordert in Harrys Wagen sitze und versuche, mich in seine Lage hineinzuversetzen.
Was er mir gerade erzählt hat, klingt absolut verständlich. Ich kann ihm keinen Vorwurf machen - ich will ihm auch gar keinen Vorwurf machen, das stand von vornherein fest.
„Und womit versuchst du dann, dich dieser ominösen Zehn anzunähern?", frage ich wieder vorsichtig nach, versuche aber möglichst gefasst zu wirken.
„Verschiedenes. Ich probiere mich aus. LSD, MDMA, Kokain, Xanax, diverse Mischungen – ich kenne einige Leute, die sich damit auskennen. Und genau das ist der Grund, weshalb ich nicht will, dass du je diese Welt betrittst. Ich glaube manchmal, es ist eben besser, niemals diese Zehn kennenzulernen. Immerhin kann man dann das normale Leben und die Freuden des Alltags noch spüren."
Zweifelnd mustere ich Harry und spüre plötzlich, wie mich eine Welle an Zuneigung für ihn erfasst. Was er mir eben so aufrichtig erzählt hat, ist in meinen Augen ein absoluter Vertrauensbeweis.
Anstatt schockiert darüber zu sein, wie tief die Probleme in Harrys Leben gehen, will ich ihm bloß noch nah sein und ihm irgendwie helfen, dieser Leere, die er eben beschrieben hat, zu entfliehen. Harry ist problembeladen, er trägt seine Schatten wie eine zweite Haut.
Er tut fragwürdige Dinge und seine Lebenseinstellung ist offensichtlich bedenklich. Zuhause hätte ich mich von jedem Menschen, der mir solche Dinge erzählt hätte, ferngehalten, aber Harry ist nicht irgendwer.
Es fühlt sich an, als hätte Harry mit seiner Ehrlichkeit soeben die letzte Distanz zwischen uns überbrückt. Mein Herz schlägt wie wild, als ich seinen tiefen Blick in meine Augen bemerke. Er sieht so verdammt ernst und selbst dabei unfassbar heiß aus.
Ich ahne, dass dieser Moment über einiges entscheiden wird, aber tatsächlich habe ich mich längst entschieden - schon bei unserer ersten Begegnung.
Ich habe Grimmy und mir selbst versprochen, öfter „Ja" zu sagen und noch nie ist es mir leichter gefallen, als zu Harry. Ich sage „Ja" zu allem an ihm.
Im Moment ist Harry die Zehn auf der Skala meines Lebens.
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