f ü n f u n d d r e i ß i g

| Regina |

Mit jeder vergangenen Stunde wird mir bewusster, was heute passiert ist. Erschlagen liege ich auf meinem Bett, starre gegen die Decke und versuche mich zu ordnen.
Im Normalfall hätte ich sofort meine Eltern angerufen und meiner Mutter mein Leid geklagt, doch wie so oft seit meiner Zeit in London hätte sie mich nicht verstehen können. Sie weiß nicht von Harry und allem, was ich dank ihm durchleben musste. Dieses Mal stehe ich alleine vor einem Scherbenhaufen.

Meine der Überforderung geschuldeten Ungläubigkeit weicht langsam der Verzweiflung, die dann wiederum erneut in Überforderung endet. Es ist ein Teufelskreis.

Ich verliere meinen Job und damit meine Wohnung, die ich ohne Job aber ohnehin nicht hätte zahlen können - soweit die aktuelle Situation.
Nun hätte ich auf der Stelle den Arbeits- und Wohnungmarkt durchforsten können, aber so kurzfristig fündig zu werden, ist quasi unmöglich. Zudem macht sich der Rauswurf bei BBC Radio 1 bestimmt nicht sonderlich gut in meinem Lebenslauf. Egal in welche Richtung ich denke, immer wieder lande ich in meinem Elternhaus in Deutschland.

Noch gestern hatte ich gedacht auf einem guten Weg zu sein. Ich hatte geglaubt, mit Harry endlich in die richtige Spur gefunden zu haben und einen sicheren, guten Job in der Tasche zu haben.
In Wahrheit hatte ich jedoch wohl nichts von beidem.

Verstört starre ich weiterhin mit verheulten Augen vor mich hin und weiß nicht, wohin mit meinen Gedanken.
Mehr als je zuvor hätte ich mir in diesem Moment Harry an meine Seite gewünscht - den verständnisvollen, warmherzigen Harry, der mir Halt geben kann. Immerhin habe ich heute nicht nur meine komplette Existenz in London, sondern mit Grimmy auch einen guten Freund verloren.

Doch Harry ist nicht da, um mir beizustehen, wenn ich von einem Moment auf den anderen von Katastrophen überschüttet und unter Problemen begraben werde. Der Gedanke, schon bald überhaupt nicht mehr an Harrys Leben teilnehmen zu können und wieder in mein altes, lahmarschiges Kaff zurückzukehren, ist unerträglich.

Harry. Wie so oft bleiben meine Gedanken weiterhin bei ihm und kreisen einzig um den exzentrischen Musiker. Er ist der Einzige, der mir im Moment einfällt, der mich hier in London noch retten kann.
In der Hoffnung, mein Glück würde ihm am Herzen liegen und dass auch er Interesse daran haben würde, mich in London zu behalten, greife ich nach meinem Handy.

Dort sticht mir als Erstes ein entgangener Anruf von Grimmy, sowie eine Nachricht von ebenjenem ins Auge. Obwohl sich alles in mir sträubt, gleitet mein Finger doch darüber und die Neugierde siegt.

Ruf mich an, wenn du dich beruhigt hast. Dein Selbstschutz und Selbsterhaltungstrieb versagt nun mal beim Thema Harry, deshalb hab' ich das übernommen. Ich hoffe, du kannst bald wieder klar denken.

Das Ganze klang nicht gerade nach einer Entschuldigung, was mich wiederum bloß noch rasender macht.
Grimmy hat nicht die leiseste Ahnung, was in letzter Zeit zwischen Harry und mir war.

Natürlich hatte ich seinetwegen letzte Nacht wieder weinen müssen, aber letztendlich hatte Harry doch ein Stück weit eingeräumt, dass ich ihm etwas bedeute. Irgendwann hätte er seine Gefühle zulassen können.
Muss ich jetzt aber wieder nach Deutschland zurückkehren, wird mich Harry aus seinem Leben streichen - zumindest fürchte ich das.
Ich muss also hier in London bleiben können.

Und die Lösung genau dieses Problems könnte Harry sein. Liegt ihm etwas an mir, wird er dabei helfen wollen, mich hier zu behalten und mich vielleicht - zumindest vorübergehend - bei sich aufnehmen, ganz egal ob als Freund oder was auch immer.

Ich befinde mich in einer Notlage, in der mich Grimmy sicherlich ebenfalls unterstützt hätte, hätte er mich in diesem Fall nicht höchstpersönlich hineingeritten.

Es ist Freitag Nachmittag. Vielleicht ist Harry noch beschäftigt, vielleicht ist er auch bereits in Holmes Chapel oder auf dem Weg dorthin. Nichtsdestotrotz versuche ich mein Glück.

„Ja?", ertönt Harrys Stimme zu meiner Überraschung erstaunlich schnell.
Seine Stimme klingt fern und das Rauschen im Hintergrund deutet klar darauf hin, dass er im Auto sitzt und meinen Anruf mit der Freisprechanlage seines Wagens entgegengenommen hatte.

„Oh, bist du unterwegs?", frage ich vorsichtshalber nach, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
„Ja, auf dem Weg nach Holmes Chapel. Was gibt's?"

Kurz hadere ich doch nochmal mit mir selbst. Harry ist auf der Straße und fährt in seine Heimat, um dort eine gute Zeit zu haben. Vielleicht ist es doch der falsche Zeitpunkt, um ihn mit meinen Problem zu belasten. Andererseits ist Harry im Moment mein einziger Anker und nachdem wir uns in letzter Zeit auch emotional nähergekommen sind, will ich ihn wissen lassen, was in meinem Leben vor sich geht - insbesondere, wenn es solch einschneidende Veränderungen, initiiert von unserem gemeinsamen Freund Grimmy, sind.

„Ich hab' meinen Job verloren, Harry", platzt es unkontrolliert, ehe ich wirklich abgewogen habe, ob ich es ihm nun erzählen sollte, aus mir heraus.

Zunächst herrscht fassungsloses Schweigen am anderen Ende der Leitung. Beinahe hätte ich gedacht, die Verbindung wäre unterbrochen worden, hätte sich Harry nicht doch seufzend wieder zu Wort gemeldet.
„Wow", sagte er überrumpelt. „Warum das denn?"

„Wegen Grimmy! Zugegeben, ich war in letzter Zeit unkonzentriert und anscheinend war jeder gegen mich, aber Grimmy hat mir bei unserem Chef letztendlich den Todesstoß verpasst."

„Warum würde er das denn tun?"
„Weil er will, dass ich wieder nach Deutschland gehe!"

„Warum sollte er das denn -", setzt Harry direkt zur nächsten ungläubigen Frage an, bricht diese aber wieder ab. Die Antwort scheint er sich selbst schlussgefolgert zu haben.

Bevor er sich daran aufhängen kann, hake ich selbst wieder ein.
„Darum geht's auch gerade gar nicht", versuche ich das Ruder herumzureißen. Die Verzweiflung muss deutlich in meiner Stimme hörbar sein. „Der Punkt ist, dass ich keine Arbeit mehr habe und meine Wohnung verliere."

„Achja, die Wohnung war ja von deinem Arbeitgeber", erinnert sich Harry murmelnd.
Tatsächlich spürte ich selbst jetzt Freude in mir aufflammen, alleine deshalb, weil sich Harry an dieses Detail erinnert, obwohl ich es ihm nur einmal, kurz vor unserem ersten Mal, erzählt hatte.
Dass ich mich an jedes Wort unserer Gespräche erinnere und alles davon aufsauge, ist mir bewusst, aber bei Harry zweifle ich oft daran.

„Das ist... scheiße", bringt es Harry schließlich auf den Punkt. „Und was machst du jetzt?"

Seufzend zucke ich mit den Schultern.
„Wenn ich das wüsste", gestehe ich resigniert und gleichzeitig gespannt darauf, wie Harry weiter reagieren würde. „Ohne Bleibe und ohne Geld kann ich aber wohl schlecht hier in London bleiben."

Wieder herrscht Stille. Bloß das leise Rauschen der Autos auf der Straße ist zu vernehmen, was Harrys Schweigen nur noch klarer macht. Hörbar betätigt er einen Schalter in der Nähe der Freisprechanlage und seufzt leise.
„Hm, schade", sagt er dann knapp, aber erschreckend nüchtern. „Also gehst du wieder zurück nach Hause?"

Dieses Mal bin ich es, die fassungslos ins Handy schweigt. Es sind weniger Harrys Worte als seine sachliche, trockene Tonlage, die mich so sprachlos zurücklassen.
Ich habe nicht erwartet, dass er in Tränen ausbrechen würde, aber zumindest eine latente Betroffenheit oder den Hauch von Hilfsbereitschaft hätte ich mir doch gewünscht.

Aber vielleicht muss ihm nur etwas auf die Sprünge geholfen werden und er ist im Moment bloß zu überfordert.
„Mir bleibt wohl kaum etwas anderes übrig. Ich hatte überlegt, vorübergehend zu Diego zu ziehen, bis ich 'nen neuen Job habe. Aber Diego ist wohl auch nichts anderes als eine Klatschtante, die mit Grimmy über mich redet und urteilt. Er hat Grimmy gesteckt, dass ich viel Zeit mit dir verbringt."

„Also soll doch ich der Grund sein, weshalb du gefeuert wirst?", zieht Harry eine ganz anderes Detail aus meiner Antwort als ich geplant hatte. Anstatt mir nach diesem Wink mit dem Zaunpfahl anzubieten, mir Unterschlupf zu gewähren, fühlt sich Harry offensichtlich angegriffen.

„Ich hab' dich immer daran erinnert, die Arbeit im Hinterkopf zu behalten, aber du hast deine eigenen Entscheidungen getroffen. Also schieb mir hier jetzt bloß keine Verantwortung zu!", wehrt er sich harsch gegen noch nicht einmal existierende Vorwürfe.
Ich gebe Harry keine Schuld. Niemand außer ich selbst trägt die Verantwortung dafür, dass es so weit gekommen ist - abgesehen von Grimmy. Dass Harry aber direkt so ablehnend reagiert, ist unheimlich verletzend.

„Ich schieb dir hier auch überhaupt nichts zu", wehre ich mich instinktiv gegen seinen rauen Tonfall. „Ich wollte dich einfach nur an meinem Leben teilhaben und dich wissen lassen, dass es gerade den Bach runter geht."
Den Tränen nahe, achte ich tunlichst darauf, eine starke Stimme zu behalten.

„Und das tut mir auch leid für dich, aber ich kann dir da auch nicht helfen. Ich kann vielleicht mal mit Grimmy reden, aber ich bezweifle, dass das noch was bringt", erklärt Harry nüchtern weiter. „Wie lange hast du denn Frist?"

„Einen Monat", antworte ich so knapp wie ehrlich. Für Harrys Verhalten fehlen mir im Moment schlicht die Worte.
Ich kenne ihn und seine Herausforderungen inzwischen, aber dass er mich selbst jetzt so emotionslos abspeist, ist ein Stich direkt ins Herz. Es bestätigt damit meine Befürchtungen der letzten Nacht, dass er mich spätestens in Japan vergessen würde und ich niemals genug sein werde, damit er sich für mich ändert.

„Achso. Das reicht ja, um deine Rückkehr nach Deutschland zu organisieren, oder? Ansonsten hätte ich dir mein Haus angeboten, solange ich sowieso in Japan bin", gibt er sich nun sogar noch gönnerhaft.
Ungläubig starre ich vor mich hin und schließe dann die die Augen, um ruhig durchzuatmen und nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Klar, das reicht", stimme ich knapp zu und beiße verkrampft die Zähne aufeinander.
Als würde er zumindest eine leichte Verstimmtheit meinerseits bemerken, versucht sich Harry kurz an einer Erklärung und meldet sich noch einmal zu Wort.
„Du verstehst bestimmt, dass ich während des Entstehungsprozesses des Albums öfters in London sein muss. Und da brauche ich meinen Rückzugsort für mich allein. Man kann ja nicht erwarten, dass ich das beiseite schiebe und auf meinen Freiraum verzichte."

Ich wollte längst nichts mehr von Harry erwarten und doch enttäuscht er mich heute maßlos. Er legt eine herablassende Art an den Tag, die seinesgleichen sucht.
Ihm scheint nicht das Geringste daran zu liegen, dass ich hierbleiben und in seiner Nähe sein kann.

Das Schlimmste daran ist, dass ich weiß, wie Harry sein kann.
Er hat ein großes Herz, er ist ein guter, großzügiger und respektvoller Mensch. Aber Nähe macht ihm Angst und lässt ihn plötzlich dieses Gesicht zeigen, mit dem ich ständig konfrontiert werde.
Vielleicht hatte Grimmy recht. Vielleicht ist es wirklich nicht meine Aufgabe, Harry Styles zu heilen. Vielleicht hat mich Grimmy tatsächlich vor mir selbst gerettet.

„Klar, alles gut", lüge ich knapp ins Telefon. „Ich will dich auch gar nicht länger aufhalten. Viel Spaß Zuhause und fahr vorsichtig, bye."

Ehe Harry etwas erwidern kann, habe ich ihn bereits aus der Leitung geschmissen.
Ich bin wieder allein, ich war immer allein. Harry war nie wirklich bei mir, es hat immer etwas zwischen uns gestanden und voneinander getrennt.

Mit glasigen Augen sehe ich wieder auf mein Handydisplay.
An einem Punkt wie diesem, an dem nur noch Zweifel an einem nagen, sind die Eltern die Einzigen, die einen aufzufangen wissen.
Ich werde sie enttäuschen, ihnen Sorgen bereiten und mir eingestehen müssen, dass ich in London gescheitert bin, aber im Gegenzug werden sie mir versichern, dass ich eben nicht alleine bin und Zuhause jederzeit ein heiles Heim mit einer warmherzigen Familie auf mich wartet. Und meine Mutter wird sicherlich wieder beruhigter schlafen können, wenn sie mich zurück in Deutschland weiß.

Es ist ein schwacher Trost, wenn ich mir all diese Aspekte im Vergleich zum Verlust von dem Leben in London und vorallem Harry vor Augen halte.

All die Monate waren so intensiv und außergewöhnlich, dass ich sie vermutlich immernoch nicht verarbeitet habe. Und vielleicht ist die Heimat genau dazu der richtige Ort.
Vielleicht werde ich zurück in meinem Dorf irgendwann den Sinn von alledem hier verstehen können.

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