d r e i u n d z w a n z i g

| Regina |

Müde und erschöpft vom Arbeitstag stehe ich abends endlich vor Grimmys Wohnung. Der Jetlag, der fehlende Schlaf der letzten Tage, meine unruhigen Gedanken und der Büroalltag - an jedem anderen Tag hätte mich diese Kombination dazu veranlasst, Grimmy spontan doch abzusagen und mich daheim einzuigeln. Aber dieses Treffen, dieses anstehende Gespräch, war nötig. Ich hätte mich unter allen Umständen hierhergeschleppt.

„Hi, komm rein", reißt Grimmy wenige Sekunden, nachdem ich geklingelt habe, die Tür des Appartements auf. Er scheint mich bereits erwartet zu haben.
„Setz dich", ruft er mir mit einladender Geste auf das Sofa zu, während er selbst in die offene Küche eilt. „Auch 'nen Tee?"

„Gern", nehme ich dankbar an und bin unheimlich erleichtert, dass mir Grimmy so lieb und unverändert begegnet, nachdem ich heute Morgen so unmöglich zu ihm war.
Allerdings ist er immernoch Grimmy - der Radiomoderator, der nie um einen Seitenhieb verlegen ist. Es hätte mich wirklich erstaunt, hätte er nicht noch eine Spruch übrig.

„Zucker, oder trinkst du ihn nach deinem Urlaub neuerdings mit Schuss?", kommt prompt sein trockener Kommentar, über den ich noch nicht ehrlich lachen kann.

„Nein, ohne alles", antworte ich also nur seufzend und rolle deutlich mit den Augen, während Grimmy einverstanden mit den Schultern zuckt.

Kurz darauf stellt er bereits die zwei dampfenden Tassen in schrillen Farben, wie sie nicht besser zu Grimmy hätten passen können, auf den Tisch.
„Smalltalken wir erst oder kommen wir direkt zur Sache und du erzählst mir endlich mal, was in den letzten Wochen zwischen Harry und dir los war?", fragt er noch während er sich neben mich auf das Sofa sinken lässt und nach seiner Tasse greift.

Die Frage hat er sich bereits selbst beantwortet. Abwartend sieht er mich an und nippt an seinem Tee.

„Du hast doch selbst gesagt, du weißt es längst", seuftze ich tief und versacke etwas in Grimmys Sofa.
Es ist schrecklich unangenehm, offen über das Thema Harry zu sprechen und zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich das bisher auch nicht getan habe. Weder mit Harry selbst, noch mit Freunden habe ich je darüber gesprochen, was mich in letzter Zeit ununterbrochen beschäftigt hat - Grimmys Warnungen und Sammys Äußerungen ausgeschlossen.

„Ich ahne es. Aber ich will es von dir hören", entgegnet Grimmy und schafft es gleichermaßen locker und ernst zu klingen. Sein Oberkörper ist mir vollständig zugewandt, während er mich abwartend mustert.

„Aber ich weiß es selbst nicht, Grimmy", gestehe ich ehrlich und fange endlich an zu erzählen. „Er ist ein toller Kerl und er hat auch etwas sehr eigenartiges an sich, das mich irgendwie fasziniert. Ich hab' mir nie viel dabei gedacht, als wir uns immer besser verstanden haben, oder besser gesagt hab' ich es nicht gewagt, darüber nachzudenken. Bis er mir dann sein Herz ausgeschüttet hat und wir miteinander im Bett gelandet sind. Aber direkt danach hat mir Harry wieder versichert, wir wären zu unterschiedlich und ich würde nicht in seine Welt passen."

An dieser Stelle hebt Grimmy erstaunt die Augenbrauen. „Vernünftig. Darüber hab' ich mit ihm auch mal gesprochen", wirft er leise ein, zeigt mir aber sofort an, dass ich weitersprechen soll.

„Naja, kurz darauf meinte er, ich würde seine Welt in LA kennenlernen können und dass ich eben mit ihm ins Studio kommen soll. Jeder an meiner Stelle hätte zugesagt. Auch wenn ich meine Familie und Freunde zuhause dafür versetzt hab'... Ich hätte mir sonst immer Gedanken darüber gemacht, was gewesen wäre, wenn.."

„Und, hast du seine Welt kennengelernt?" hakt Grimmy skeptisch nach und geht kaum auf meine Worte ein. Ihm gefällt nicht, was er hört und wir beide ahnen wohl, dass ihm das, was noch kommen wird, noch weniger gefallen wird.

„Ja, ich denke schon", nicke ich zögerlich.

„Und?"
Grimmy weiß mit Sicherheit bestens, was Harry nimmt, wie es um sein Verhalten Frauen gegenüber bestellt ist und wie die Partys, auf denen er sich herumtreibt, laufen, aber er will es von mir hören.

„Er lebt eben.. anders", suche ich nach den richtigen Worten, um meinen Eindruck der letzten Wochen zu erklären. „Er lebt eben. Und zwar so richtig."

„Er lebt exzessiv, Regina", bringt es Grimmy schließlich seufzend auf den Punkt. „Er ist exzentrisch, egal wie lieb er auch sein kann. Diese Seite steckt tief in ihm und er liebt es. Und du hast dich mitreißen lassen, nicht wahr?"

Grimmys bohrender Blick liegt auf mir. Auch auf diese Frage kennt er die Antwort längst, will sie aber aus meinem eigenen Mund hören.

„Nur auf Partys", gestehe ich und höre selbst, wie sehr ich gerade versuche, mein Verhalten kleinzureden. „Es war ein Versuch, ein kleines Experiment. Und ich bräuchte das definitiv nicht jeden Abend."

Prüfend, als würde er checken wollen, ob er mir Glauben schenken kann, mustert mich Grimmy, geht aber auch gar nicht weiter darauf ein.
„Und wie steht es zwischen dir und Harry?", fragt er stattdessen und stellt damit die Frage, die mich überhaupt dazu getrieben hat, mit jemandem sprechen zu wollen.

„Ich weiß es nicht, Grimmy", platzt es resigniert aus mir heraus und wieder versinke ich ein Stück tiefer im Sofa. „Ich weiß nicht, was er sich von dem Ganzen erwartet."

Und schon fange ich an von der Nacht zu erzählen, in der mir schmerzlich vor Augen geführt wurde, dass Harry kein Mensch ist, der viel von monogamen Beziehungen hält.
Ich erzähle Grimmy von Harrys klaren Ansagen bezüglich unseres Beziehungsstatus, von dieser Nici, über die er vor meinen Augen hergefallen ist und letztendlich auch von meinem Gegenschlag mit Sammy.

„Sammy Witte?", hakt Grimmy mit großen Augen nach.
Bestätigend nicke ich. „Kennst du ihn?"
„Ich bin ihm mal bei Harry begegnet. Er hat schon beim ersten Album mitgeschrieben, glaube ich. Wir hatten einen recht feuchtfröhlichen Abend, aber dass er so drauf ist, hätte ich nicht erwartet."

„So übel ist er gar nicht. Mit der Zeit, wenn man sich an seine Art gewöhnt hat, ist er sogar ganz nett."
Wieder guckt mich Grimmy, wie so oft in den letzten Minuten, fassungslos an.

„Bestimmt. Es ist herzallerliebst, dass er die Gelegenheit direkt genutzt und mit dir ins Bett gesprungen ist", raunt er ironisch. „Und ich weiß auch gar nicht, weshalb du dir noch so viele Gedanken machst. Okay, jetzt hast du neue Erfahrungen gesammelt und gesehen, wie sich Harry sein Leben vorstellt. Und damit sollte sich das doch wohl auch erledigt haben."

Erwartungsvoll sitzt Grimmy neben mir und starrt mich an. Sein Blick ist hoffnungsvoll und niedergeschlagen zugleich. Er hofft wohl, dass ich ihm endlich zustimmen und das Thema Harry ad acta legen würde, weiß aber schon jetzt, dass dem nicht so ist.
Ich wünschte, es wäre so leicht.

„Irgendetwas ist da, zwischen Harry und mir", zerstöre ich Grimmys Hoffnung leise, aber wirkungsvoll. „Er hat eine so sanfte und tiefe Seite, die -"
„Er hat ein Alkohol- und Drogenproblem. Und du wärst eine von vielen, während er auch noch erwartet, dass du damit fein bist, Regina!", fasst Grimmy harsch zusammen. „Wie kannst du da noch glauben, dass zwischen euch irgendwas Besonderes wäre?"

„Weil es so ist!", bleibe ich stur bei meiner Meinung. „Selbst wenn ich jetzt an LA denke, ist es eine gute Erinnerung, weil die Zeit mit ihm eben doch schön war."
Deshalb wollte ich mit jemandem sprechen - um meine eigene Meinung zu dem Ganzen zu erforschen. Und offenbar bin ich Harry nach wie vor verfallen, denn in den letzten Minuten wollte ich nichts anderes als Grimmy davon zu überzeugen, dass Harry trotz allem gut für mich ist.

Dieser Plan trägt jedoch noch keine Früchte, denn Grimmy guckt nur perplex drein.
„Harry ist mein Freund", stellt er dann zunächst klar und bemüht sich sichtlich, ruhig zu bleiben. „Ich liebe ihn, auch wenn ich ihn bei so manchen Dingen nicht verstehen kann. Aber das muss ich auch gar nicht, es ist sein Leben. Aber mir haben immer schon die Frauen leidgetan, die sich dafür hergeben, seine Spielchen mitzuspielen. Du wirst doch wohl nicht dumm genug sein, dich auf sowas einzulassen!"

Sein Plan ruhig zu bleiben, läuft ebenso schief wie mein Plan, ihn von Harry und mir zu überzeugen.

„Ich weiß, wie das klingt und dass es total unvernünftig wirkt. Aber vielleicht brauch' ich das im Moment. Wenn ich weiterhin bloß wieder Sicherheit gesucht hätte, hätte ich gleich in Deutschland bei Lukas bleiben können. Harry tut mir gerade gut und ich hab' ja nichts zu verlieren."

„Oh doch", entgegnet Grimmy überzeugt. „Du hast eine Menge zu verlieren und du wirst verlieren."

Heute werden wir auf keinen gemeinsamen Nenner mehr kommen, das ist mir bewusst.

„Das wird sich zeigen", bleibe ich weiterhin stur. „Ich meine.. Ich weiß jetzt, woran ich bin und wie Harry ist. Solange ich mich wohlfühle, ist daran nichts verwerflich, oder?"

„Fühlst du dich denn wohl?", stellt Grimmy spöttisch eine Gegenfrage.

Ich weiß, dass er recht hat und sich mein Magen beim Gedanken, Harry niemals für mich allein zu haben, schmerzhaft zusammenzieht, aber noch unerträglicher ist der Gedanke, ihn überhaupt nicht haben zu können.

„Harry würde es vermutlich als eine solide Acht auf der Skala bezeichnen", lüge ich also überzeugend und ringe mich sogar zu einem Lachen durch.

Skeptisch runzelt Grimmy die Stirn und sieht mir nachdenklich in die Augen.
„Harry hat dir von seiner Skala erzählt? Davon, wie er denkt?"

„Ja", nicke ich ruhig.
Grimmy scheint überrascht zu sein, was mir wiederum Auftrieb gibt und mich darin bestärkt, dass er von außen nicht beurteilen kann, wie Harry mit mir umgeht.

„Hm", murmelt Grimmy nachdenklich. „Und weil du dich in Malibu so wohl gefühlt hast, hast du auch direkt krankgemacht, um deinen Urlaub zu verlängern?"

Wieder geht ein Seufzen durch den Raum.
„Ich weiß, das war nicht meine beste Idee, aber ich wollte einfach noch nicht weg."
Dazu fehlt mir tatsächlich jegliche vernünftige Erklärung.

„Ach Reggi", stöhnt Grimmy müde. „Du kostest mich noch meinen letzten Nerv. Aber ich bin weder dein Vater noch dein Boss, sondern einfach nur ein Freund. Und früher oder später hättest du diese Erfahrungen in unserer Branche womöglich eh gemacht. Hab' ich ehrlich gestanden auch", räumt er offen ein. „Aber bitte versprich mir, dass du einen dicken Haken dahinter setzt, dich wieder daran erinnerst, weshalb du ursprünglich nach London gezogen bist und dich nicht von irgendsolcher Scheiße beeinflussen lässt. Nochmal werde ich dich im Sender nicht in Schutz nehmen."

Grimmys Worte sind klar und direkt an mich gerichtet. Er macht deutlich, was er mir ans Herz legen will, die Nachricht ist klar. Ebenso deutlich wird aber auch, dass er sich nicht länger aufspielen und schon gar nicht deshalb streiten will. Vermutlich spürt er, dass wir im Moment nicht denselben Blick auf das Ganze haben, aber er hofft, dass ich meinen Standpunkt noch ändern werde.

„Versprochen, mach ich nicht", versichere ich ihm halbherzig und bereue inzwischen schon wieder, ihm überhaupt alles, was passiert war, erzählt zu haben. Immerhin habe ich aber für mich selbst erkannt, dass ich Harry in Schutz nehme und ich bereit bin, mich dem, was er für mich bereithält, auszusetzen.

„Hast du eigentlich was von Diego gehört?", wechsle ich schnell das Thema.

„Klar, zu genüge", nickt Grimmy. „Und das hättest du auch, hättest du ihn nicht zweimal weggedrückt", schießt er direkt trocken hinterher.

Ich erinnere mich vage, dass er mich in Malibu angerufen hat. Ich habe einige Anrufe und Nachrichten ignoriert und sie alle haben sich so irrelevant angefühlt, dass mir noch nicht einmal im Gedächtnis geblieben ist, welche es waren.

„Oh, ich hoffe, dass er mir das nicht übelgenommen hat."

„Nein, ich hab dich auch bei ihm ganz gut rausgeboxt", versichert mir Grimmy.

„Hast du ihm dasselbe erzählt, wie den Leuten im Sender? Dass ich bei meinen Eltern zuhause in Deutschland wäre?"

Grimmy schüttelt den Kopf.
„Er hat Harry und dich auch erlebt, er ist nicht blind. Früher oder später hätte er sowieso mitbekommen, was das gelaufen ist und dass du bei ihm in Malibu warst. Du kannst ja nicht auch noch deine Freundschaften auf Lügen aufbauen."

Seine Seitenhiebe werden noch eine ganze Weile andauern, das ist mir bewusst, aber damit muss ich wohl leben. Solange er mir keine offensiveren Vorwürfe macht, kann ich darüber auch halbwegs gut hinwegsehen.

„Ich werd' mich morgen direkt bei ihm melden", nehme ich mir ehrlich vor, anstatt auf Grimmys Sticheleien einzugehen.

Es ist tatsächlich viel zu lange her, dass ich Diego gesehen habe. Zwar hatte ich ihn bisher auch nicht vermisst, doch solange Harry nicht in meiner Nähe ist, kann es nicht schaden, mich hier in London wieder etwas zurechtzufinden.

„Wir alle könnten mal wieder etwas Zeit miteinander verbringen."
„Klar", nickt Grimmy. „Aber wohl ohne Harry."

Ich weiß nicht, ob Grimmy damit sagen will, dass er davon ausgeht, ich würde meinen Kontakt zu Harry reduzieren, oder ob er davon spricht, dass Harry noch in Malibu ist.
Fakt ist, dass ich seit meiner Abreise ohnehin nichts von Harry gehört habe und mir jeder vergebliche Blick aufs Handy einen Stich ins Herz versetzt. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass er schon bald wieder unverhofft in meinem Leben auftauchen wird – ich bin fest davon überzeugt.
Bis dahin aber ist es nicht von Bedeutung, was Grimmy anzudeuten versucht.

„Ohne Harry, ja", nicke ich und greife nach meinem inzwischen kaltgewordenen Tee.
Ohne Harry – vorerst.

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