d r e i u n d d r e i ß i g
| Regina |
„Regina? Hey. Hey. Hallo?"
„Was?" Erschrocken zucke ich zusammen und starre in das ungeduldige, rundliche Gesicht meines Kollegens.
„Wann du mir endlich mal die Texte und Konzepte schickst, hab' ich gefragt", wiederholt sich Matt augenrollend. „Ich muss die alle noch überarbeiten, das dauert. Und wir haben 'ne Deadline, falls du dich erinnerst."
Hektisch nicke ich. Seit Wochen bin ich ein wandelnder Zombie in der Redaktion.
Aber wenn ich die Wahl habe, mit Harry Zeit zu verbringen oder ausgeschlafen bei der Arbeit aufzuschlagen, fällt mir die Entscheidung nun mal sehr leicht.
Die Müdigkeit macht mir auch heute zu schaffen, ich hatte letzte Nacht bei Harry kein Auge zugemacht. Viel mehr beschäftigt mich aber, dass Harry schon in wenigen Tagen nach Japan fliegen will. Ohne Vorwarnung hatte er mir diese Information gestern serviert.
Und allein beim Gedanken daran, dreht sich mir bereits der Magen um.
„Regina, wann?", fordert Matt einmal mehr und ich höre förmlich seinen Geduldsfaden reißen.
Hart schlage ich wieder in der Realität und damit auf meinem Schreibtisch auf.
„Äh, heute!"
„Na schön."
Genervt seufzend zieht Matt wieder von dannen in den angrenzenden Raum. Die Türe steht offen, unsere Büros sind miteinander verbunden. Ich höre ihn noch angestrengt stöhnen, als er sich dort wieder in seinen Stuhl fallen lässt, aber meine Gedanken schweifen direkt wieder ab.
Selbst der Blick meines anderen Kollegen, der mir gegenüber sitzt und mich über seine PC-Bildschirm hinweg anguckt, geht direkt an mir vorbei.
Harry ist der wohl merkwürdigste Mensch, der mir je begegnet ist - und zugleich auch der faszinierendste.
In dem einen Moment wirkt er so nahbar und sanft, nur um kurz darauf wieder distanziert und unantastbar zu sein. Manchmal sieht er mich an, als wäre ich Alles, was er sehen kann und im nächsten starrt er mit eiskalten Augen durch mich hindurch.
Was ich inzwischen aber mit Sicherheit sagen kann ist, dass Harry ein gutes, weiches Herz hat, in dem ich einen Platz habe. Zwar hat er es in Eisen eingeschlossen, aber Stück für Stück legt er die Ketten ab. Langsam, aber es geschieht.
In den letzten Wochen habe ich mich ihm emotional angenähert, als wäre er ein scheues Reh - mit Fingerspitzengefühl und ohne hektische Schritte. Wir waren auf einem guten Weg, dessen Ziel mir zwar nach wie vor nicht klar ist, aber es hat sich nahezu perfekt angefühlt. Doch fliegt er jetzt nach Japan, ist alles, was zwischen uns entstanden ist, torpediert.
Es ist traurig, dass ich so darüber denke, aber es ist auch die Wahrheit. Über die Distanz nach Japan wird mich Harry vergessen und in seine alten Verhaltensmuster fallen.
Er wird feiern, trinken, sich mit den falschen Menschen und Frauen umgeben und dabei sogar noch glauben, glücklich zu sein - bis er am Ende in Frage stellt, weshalb er überhaupt etwas an sich ändern hatte wollen.
In den letzten Wochen war ich so unheimlich glücklich gewesen und hatte an nichts anderes gedacht als daran, dass eine Zukunft mit Harry doch möglich sein kann. Seitdem er mir in seinen sehr eigenen, verkorksten Worten gesagt hat, dass ich ihm etwas bedeute, hatte ich meine rosarote Brille aufgesetzt gehabt.
Aber nun will er weggehen und mich nicht mehr möglichst oft um sich haben, was mich wiederum hart in die Realität zurückwirft.
Ich kann von Harry nicht verlangen, mir treu zu sein. Ich weiß nicht, wo wir stehen und kann nur darauf hoffen, dass ich Harry inzwischen genug wert bin, dass er sich von anderen Frauen fernhält.
Andererseits werde ich dieses Mal nicht erfahren, was er in Japan treibt. Ob mich das beruhigt oder nur noch mehr verrückt werden lässt, weiß ich nicht einzuschätzen.
Seufzend zwinge ich meine Aufmerksamkeit mit Müh und Not wieder zurück auf den Computerbildschirm vor mir. Bei all dem Chaos in meinem Kopf muss ich doch auch halbwegs produktiv bei der Arbeit sein.
Die von Matt verlangten Dokumente stelle ich mehr schlecht als recht fertig, aber immerhin schaffe ich es, ihm alles noch heute zukommen zu lassen.
Kaum ist die Mail versandt, greife ich wieder nach meinem Handy.
Wann genau fliegst du eigentlich?, schreibe ich an Harry, in der Hoffnung ihn vorher noch sehen zu können.
Ich weiß, dass er im Moment eine Menge arbeitet und ständig in irgendwelchen Meetings sitzt. Erst eine Weile später, als ich beinahe schon den Sender verlassen will, erreicht mich seine Antwort.
In vier Tagen, am Dienstag.
Sehen wir uns vorher noch?, antworte ich ihm direkt.
Dieses Mal schreibt er auch sofort zurück.
Vermutlich nicht. Bin übers Wochenende in Holmes Chapel.
Harrys Worte sind ernüchternd.
Kein „leider", kein Bedauern. Er will in seine Heimat fahren, was verständlich ist, aber trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass er Wert darauflegen würde, noch einmal Zeit mit mir verbringen zu können.
In Momenten, in denen ich ohnehin daran zweifle, dass mein Wert in Harry Leben hoch genug ist, um ihn in Japan nicht wieder seinen Lastern verfallen zu lassen, ist es nicht besonders förderlich, nun auch noch eine solche Abfuhr erteilt zu bekommen.
Während sich mein Magen grausam zusammenzieht, lasse ich mein Handy wieder sinken. Doch noch ehe ich mich weiter in diesen verzweifelten Studel begeben kann, werde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen.
„Regi!", dringt Grimmys singende Stimme zu mir durch.
Überrascht sehe ich ihn an.
„Was machst du denn um diese Uhrzeit hier?"
„Freut mich auch, dich zu sehen", gibt Grimmy zurück und mustert mich prüfend. „Alles okay?"
Okay war im Moment überhaupt nichts, doch mit Grimmy will ich über dieses Thema nur ungern sprechen.
Ich habe ihm seit seinem Vortrag nach den Ereignissen in Malibu nichts mehr anvertraut, was mit Harry zu tun hat. Ich will ihn weder in die Situation bringen, zwischen Harry und mir zu stehen, falls unser Verhältnis zueinander wieder eskalieren sollte, noch will ich seine negativen Gedanken ständig mitgeteilt bekommen. Bestimmt hätte er dem aktuellen Frieden zwischen uns niemals getraut und keine Sekunde daran geglaubt, dass mir Harry eines Tages guttun könnte.
Glücklicherweise hat sich Grimmy wohl auch vorgenommen, nicht weiter nachzufragen, was es mit Harry und mir auf sich hat und macht seit Wochen einen großen Bogen um dieses Thema. Anscheinend hat er einen guten Weg gefunden, sich damit zu arrangieren.
Nachdem sich in meinem Leben inzwischen jedoch alles um Harry dreht, muss es für Grimmy danach aussehen, als würde ich mich zurückziehen. Es ist schwer eine Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn man Geheimnisse voreinander hat.
Im Moment ist Grimmy jedoch meine kleinste Sorge.
„Klar, alles Bestens", lüge ich und schenke Grimmy ein falsches Lächeln. „Bei dir auch? Alles gut mit Mesh?"
Grimmys Glück mit Mesh kommt mir äußerst gelegen, nachdem er dadurch die meiste Zeit abgelenkt ist.
„Ja, ja, alles wunderbar", antwortet er. Auch in seinem Gesicht steht ein breites Lächeln, seines jedoch wirkt vollkommen aufrichtig.
Immerhin führt er eine respektvolle, glückliche und vorallem beidseitig ausgewogene Beziehung.
„Du siehst müde aus", bemerkt Grimmy dann zu recht, aber auch das weiß ich wegzulächeln.
„Viel Arbeit. Ich wollt auch gleich heim."
Verstehend nickt Grimmy.
„Na dann, schönen Feierabend! Meld dich, wenn du mal augeschlafen bist und wieder etwas Freizeit hast."
„Mach ich", verspreche ich Grimmy, obwohl ich beim besten Willen gerade keine Lust auf andere Gesellschaft als Harry spüre.
Ehe ich mich versehe, ist Grimmy schon wieder aus dem Türrahmen verschwunden und lässt mich wieder allein mit meinen Gedanken.
Gedanken über Harry, die mich wie so oft in die Knie zwingen.
Für mich stehen schreckliche Stunden an.
Es erschrickt mich selbst, wie sehr mich der Gedanke an Harrys Reise nach Japan aus der Bahn wirft.
Wochenlang habe ich mich der Illusion hingegeben, eine liebevolle, intensive und auch vernünftige Beziehung zu Harry aufzubauen.
Aber plötzlich bricht alles wieder über mich herein.
Zwischen uns ist nichts vernünftig, nichts beständig und Harry ist immernoch Harry. Selbst wenn ich seine emotionale Distanz und seine Probleme verstehen kann, ist es trotzdem nicht leichter damit umzugehen.
Ich kann ihm nicht vertrauen und ich bezweifle, dass ich das je tun werde.
Und obwohl er noch nicht einmal wirklich etwas getan hatte, weine ich mich in dieser Nacht in den Schlaf.
Es ist viel zu viel passiert und allein der Gedanke daran, durch welche Hölle ich gehen werde, sobald Harry weg ist, lässt mich schon jetzt verzweifeln.
Schon als ich am nächsten Morgen das Büro betrete und Grimmy an meinem Büro vorbeihetzt, spüre ich wieder seinen prüfenden Blick auf mich. Ich hoffe nur, er ist genug in Eile, um mich nicht genauer angesehen zu haben und zu merken wie elend ich schon wieder aussehe.
Die Blicke meiner Bürogenossen genügen mir bereits. Aber sie haben immerhin den Anstand, nicht weiter nachzufragen.
Ein vorsichtiges Klopfen am Türrahmen, das meine Aufmerksamkeit erreichen soll, lässt mich dann aber doch zusammenzucken.
„Regina", spricht mich der Kerl, den ich nur hin und wieder am Flur grüße und ansonsten bloß während meines Bewerbungsgesprächs länger gesehen habe, an. „Kommst du bitte? Der Chef will dich sehen."
Perplex drehe ich mich auf dem Stuhl zu ihm um. „Was? Jetzt? Ich -"
„Wir haben's eigentlich per Mail abgekündigt", stellt er direkt klar. „Aber die ist dir wohl durchgerutscht. Komm bitte."
„Äh, ja, anscheinend", murmle ich überfordert vor mich hin.
Der Chef hatte mich bisher nie sprechen wollen, abgesehen von meinem Feedbackgespräch nach dem ersten Monat im Sender. Wir sehen uns bei Redaktionssitzungen und bei Meetings, aber ansonsten habe ich in der Regel nichts mit ihm zu tun.
Ich weiß nicht im Geringsten, was ich zu erwarten habe, als ich mich unter den gespannten Blicken meiner Kollegen erhebe und dem Kerl folge.
Zum ersten Mal ist es nicht Harry, der mir im Kopf umherspukt. Stattdessen sind meine Gedanken vollkommen leer.
„Worum geht's denn?", versuche ich von dem, dessen Name mir beim besten Willen nicht einfallen will, zu erfahren.
Der aber zeigt nur wenig Reaktion.
„Das wird dir Bill gleich selbst sagen", erklärt er knapp und läuft zielstrebig auf dessen Büro zu.
Die flachen Hierarchien und den lockeren Umgang hatte ich hier im Sender immer geschätzt. Aber jetzt, wo ich so verloren vor dem Büro meines Bosses stehe, rutscht mir mein Herz doch verdammt schnell in die Hosentasche.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top