d r e i ß i g
| Regina |
Wie oft ich seit meinem Umzug nach London in fremden Betten aufwache, ist alarmierend.
Nach der durchfeierten, ausgearteten Nacht auf Sarahs Party ist es schon wieder nicht meine eigene Matratze, auf der ich hier gerade zu sterben glaube.
An diesen Kater am Morgen danach werde ich mich wohl nie gewöhnen.
„Morgen!", empfängt mich Grimmy im Morgenmantel in seiner offenen Küche. „Also... eigentlich Nachmittag, aber lassen wir das mal so stehen."
Mein Kopf dröhnt, meine Speiseröhre brennt und meine Augen tränen unaufhörlich. Letzte Nacht ist wieder einmal völlig aus dem Ruder gelaufen, aber das ist auch schon mit das Einzige, woran ich mich erinnere. Das, und Harry.
Erschlagen schlurfe ich auf ihn zu und lasse mich auf die Platte der Kücheninsel fallen.
„Ich glaube ich sterbe, Grimmy. Ich kann unmöglich zur Arbeit."
Trocken zuckt Grimmy mit den Schultern.
„Du weißt schon, dass du auch schon", er wirft einen kurzen Blick auf die Uhr, „ganze sechs Stunden zu spät wärst."
„Scheiße", grummle ich vor mich hin und kann mich noch nicht einmal erinnern, wo ich mein Handy gelassen habe, um meinen Chef zu informieren.
„Der Sender weiß Bescheid. Ich hab'angerufen, nachdem wir dich heute Morgen heimgeschafft haben", erzählt Grimmy mit neutraler Stimme. „Offiziell hängst du heute über der Schüssel. Kam mir irgendwie realistisch vor."
Beschämt vergrabe ich das Gesicht in meinen Händen.
„Danke, Grimmy. Ich weiß, dass du –"
„Stopp", hakt er direkt ein. „Ich werde nichts dazu sagen. Wenn ich eins gelernt habe, dann dass ich von nun an den privaten Grimmy und den Arbeits-Grimmy strikt trenne. Da wird man am Ende ja sowieso nur dumm angemacht. Du wirst also keinen Ton über die Arbeit hören, außerhalb des Senders bin ich nur dein Freund."
Seufzend sehe ich ihn an. „Danke."
Mir ist bewusst, dass ich ihm dankbar sein muss, aber wie bemerkenswert loyal sich Grimmy gerade verhält, ist mir noch nicht klar. Zu sehr beschäftigt mich mein streikender Körper.
Mein Hals ist trocken und verlangt deutlich nach Wasser, allerdings bezweifle ich, dass mein Magen im Moment weiß, damit umzugehen.
Als könnte Grimmy nun auch noch meine Gedanken lesen, schiebt er mir eine Wasserflasche entgegen.
„Nur für den Fall", sagt er beiläufig und mustert mich dann eine Weile. „Wie steht's um deine Erinnerung?"
Zwar tauchen immer wieder Bilder vor meinem geistigen Auge auf, aber erschließen will sich mir der gestrige Abend noch nicht so ganz.
Alleine diese Tatsache und die Info, dass mich Grimmy in den frühen Morgenstunden mit zu sich nach Hause geschleppt hat, lässt mich erahnen, dass ich nicht unbedingt meine Glanzstunden gehabt hatte.
„Nicht besonders", antworte ich ehrlich und wage es kaum, Grimmy anzusehen.
Er ist sichtlich bemüht darum, mir neutral und wertungsfrei gegenüberzustehen und lehnt sich gegen die Arbeitsfläche seiner Küche.
„Soll ich dir auf die Sprünge helfen?"
Gerne hätte ich jetzt den Kopf geschüttelt, aber ich muss wissen, was gestern passiert ist - alleine wegen Harry.
„Ich mach's kurz und geb' dir die Schlagzeilen", fängt Grimmy an zu erzählen. „Anscheinend bist du eh schon mit dem Auftrag, dich aus dem Leben zu schießen, dorthin gekommen. Vielleicht kannst du dich daran noch erinnern. Wir sind angekommen, haben direkt Sammy, Mitch und Co. getroffen und sind dann mit denen versackt."
Da war die Schlagzeile, oder besser gesagt das Stichwort, das genügt, um in mir wieder eine Reihe an Bildern loszutreten - Sammy.
Wir haben uns wiedergesehen und er hat sehr schnell deutlich gemacht, dass er dort anknüpfen wollte, wo wir in Malibu aufgehört hatten.
„Sammy war schwer hinter dir her", bestätigt Grimmy meine verschwommene Erinnerung. „Aber du hast nicht den Eindruck gemacht, als würde er dich nerven, ihr habt euch sogar auch ganz gut unterhalten. Das sah' alles aus, als wäre es im Rahmen und ihr habt miteinander getrunken. Und irgendwann ist die Stimmung dann gekippt. Ihr habt hart rumgemacht, das war wirklich schwer mitanzusehen."
„Ohgott", seufze ich unkontrolliert und schlage mir schon wieder beschämt die Hände vors Gesicht. Mein Kopf dröhnt immernoch.
„Ihr habt die ganze Zeit miteinander verbracht, getanzt, getrunken, was weiß ich. Er war drauf und dran dich mit zu sich nach Hause zu nehmen, aber als ich gesehen habe, wie am Ende du warst, hab' ich dich vorsichtshalber mal lieber mit zu mir genommen. Dein Urteilsvermögen war ja kaum mehr vorhanden und nicht, dass das alles noch blöd ausgegangen wäre. Sorry, falls ich mich schon wieder zu sehr eingemischt habe."
Am Liebsten wäre ich Grimmy in diesem Moment um den Hals gefallen, dass er mich vor einer zweiten Nacht und damit einem zweiten Ausrutscher mit Sammy bewahrt hatte. Dass er sich sogar halbwegs entschuldigen will, zeigt mir nur nochmal, dass er meine Entscheidungen im Grunde akzeptieren und sich nicht länger als Aufpasser aufspielen will. In diesem Fall jedoch kann ich ihm für sein Eingreifen nur danken.
„Du bist ein Engel, Nicholas Grimshaw", stöhne ich ehrlich erleichtert. „Und wieder - danke!"
Langsam kehren die Szenen der letzten Nacht auch wieder zurück. Grimmy hatte mich vor etwas bewahrt, das ich spätestens heute zutiefst bereut hätte. Ganz egal wie gern ich Sammy manchmal habe und wie sehr ich über seine Kommentare lachen kann - er ist nicht Harry.
Harry. Das nächste Stichwort für die nächste Welle an Eingebungen und Emotionen der vergangenen Nacht.
„Und was war mit Harry?", frage ich direkt heraus denjenigen, der sich weitaus klarer daran erinnert.
Es ist nicht gerade Grimmys Lieblingsthema, aber er hat sich damit arrangiert.
Gekonnt schluckt er also seine Bemerkungen hinunter und beantwortet stattdessen meine Frage.
„Mit dem hast du kein einziges Wort gewechselt, glaube ich. Er kam recht spät. Ah, doch, er hat dich und Sammy kurz begrüßt. Aber da wollte er vermutlich nicht stören. Letztendlich hat er sich alles reingepfiffen, was so im Umlauf war und ist dann mit irgendeiner Blondine abgezogen. Ich glaube eine Freundin von Sarah, ich hab' die noch nie zuvor gesehen."
Es hätte mich beinahe gewundert, würde ich nur ein Mal nach einer durchzechten Party aufwachen und beim Thema Harry kein tiefes, grauenhaftes Stechen in meiner Brust und in der Magengrube spüren können. Es ist beinahe schon vertraut, aber trotzdem jedes Mal wieder unglaublich schmerzhaft.
„Ah, okay", versuche ich möglichst unberührt zu nicken und mich an die Situation mit Harry zu erinnern, anstatt länger darüber nachzudenken, wen er mit nach Hause genommen hat.
Wir hatten zwar nicht miteinander gesprochen, aber präsent war er letzte Nacht trotzdem gewesen.
„Harry war nicht viel nüchterner als du, aber der ist sowas ja gewöhnt. Der ist heute bestimmt das blühende Leben", lacht Grimmy, während er diverses Obst in seinen Mixer gibt.
Ich aber höre ihm nur noch mit einem Ohr zu, so konzentriert versuche ich mich an Harrys Gesicht gestern zu erinnern.
Vielleicht hatte es am Alkohol gelegen, aber ich hätte schwören können, dass wir eine Weile Blickkontakt hatten und er Sammy und mich beobachtet hatte. Ich hatte sogar versucht, offensiv eine Reaktion von ihm zu provozieren, aber offensichtlich ohne Erfolg.
Und schon sah ich ihn wieder vor mir - mit seinen ehrlichen, grünen Augen, die ihn letzte Nacht für eine Sekunde verraten hatten, ehe er Worte gesagt hatte, die völlig im Widerspruch damit standen.
Er hat mich gestern wieder einmal widerstandslos und gönnerhaft Sammy überlassen, aber glauben, dass es ihn kaltgelassen hat, will ich nicht. Etwas hatte ihn bewegt, als er mich mit Sammy gesehen hat, daran will ich unbedingt festhalten - selbst wenn mir Grimmy davon erzählt, dass er nicht alleine nach Hause gegangen war.
Harry ist gefangen in seiner Haut. Er tut nicht das, was er fühlt und damit muss ich versuchen klarzukommen.
Vielleicht ist es bloß reine Küchentischpsychologie, aber ich bin der festen Überzeugung, dass Harry gestern lieber mich bei sich gehabt hätte, er sich aber selbst im Weg gestanden hatte. Er kann und will es nicht zulassen.
Natürlich hätte ich ihn darauf ansprechen und weiter auf ihn zugehen können, aber nach wie vor war da die Angst, dass ich ihn damit verschrecken würde.
Er macht Fortschritte in seinem eigenen Tempo und wird früher oder später bei mir ankommen, dessen bin ich mir sicher. Bis dahin muss ich nur seine Spielchen mitspielen und versuchen dabei nicht unterzugehen.
Mit der Zeit wird er selbst merken, dass ich ihm guttun kann.
Dass ich schon wieder nicht bei der Arbeit erschienen war und noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwende, sollte mir vermutlich zu denken geben, aber in meinem Kopf ist wieder nur Harry.
Er, all die Sorgen, die er mir bereitet und alles, was ich mir einrede, um damit leben zu können.
„Übrigens, dein Handy", reisst mich Grimmy schließlich doch wieder aus meinen Gedanken und schiebt es mir über die Küchenplatte zu. „Ich habs lieber mal aufbewahrt, aber jetzt bist du ja wieder halbwegs bei Sinnen."
Dass ich bei Sinnen bin, bezweifele ich zwar, aber trotzdem entsperre ich hektisch mein Display, während ich ein weiteres „Danke" zu Grimmy murmle.
Es stauen sich diverse Nachrichten darauf meinem Display, aber mich interessiert gerade nur einer meiner Kontakte. Und tatsächlich hat mir Harry bereits geschrieben.
Sehen wir uns heute Abend? Kannst gerne bei mir vorbeikommen, das Sofa ruft.
Unkontrolliert steht mir ein breites Strahlen im Gesicht, welches auch Grimmy argwöhnisch zu bemerken scheint. Aber selbst diesen beißenden Kommentar schluckt er gekonnt hinunter und sieht mich stattdessen abwartend an.
„Was gibts Neues?", fragt er dann.
„Ach, nichts Wichtiges", zucke ich beiläufig mit den Schultern und tippe eifrig meine Antwort.
Klar gerne, ich komm rum!
„Hat sich Sammy gemeldet?", hakt Grimmy weiter nach.
Dieses Mal ist meine Antwort ehrlich.
„Nö, glücklicherweise nicht."
Nach Grimmys stärkenden Kopfschmerztabletten, einem vitaminreichen Smoothie und einer erneuten Mütze Schlaf, fühle ich mich tatsächlich schon wieder etwas lebendiger. Außerdem lässt mich die Menge an Adrenalin, die durch meinen Körper jagt, seitdem ich Harrys Nachricht gelesen habe sowieso ununterbrochen lächeln.
Ich muss mich darauf konzentrieren, dass Harry wohl wieder einen gemütlichen Abend mit mir verbringen will. Somit bleibt mir keine Sekunde Zeit, um darüber nachzudenken, was er letzte Nacht getrieben hat.
Natürlich habe ich mich mit Sammy nicht besser verhalten habe, aber hinter meiner Nähe zu Sammy steckt immerhin nur der Wunsch, Harry endlich aus der Reserve zu locken - vergeblich.
Oder bedeutet es doch einen kleinen Sieg, dass er den heutigen Abend mit mir verbringen will?
Mir ist bewusst, dass jeder Außenstehende wohl verständnislos den Kopf schütteln würde, wenn man mich und Harry in den letzten Monaten beobachtet hätte. Und trotzdem spüre ich nichts als Euphorie, als ich am Abend vor Harrys Haustüre stehe und er mich bestimmt schon durch die installierte Kamera bemerkt hat. Alles andere habe ich feinsäuberlich unter den Teppich gekehrt.
Kurz ertappe ich mich beim Gedanken, dass Harry womöglich seinen gestrigen Aufriss noch bei sich haben könnte – immerhin würde mich kaum mehr etwas schockieren, nach allem, was ich mit ihm inzwischen erlebt habe. Aber auch das schiebe ich weit von mir.
„Hey", nimmt mich Harry fröhlich in Empfang.
Grimmy hatte recht, Harry ist Nächte wie die letzte wohl wirklich gewöhnt. Zwar habe ich mich inzwischen etwas erholt, aber so quietschfidel wie Harry werde ich heute nicht mehr aussehen.
Seine warme Umarmung lässt mich jedoch noch etwas wacher werden. „Komm rein!"
Schweigend folge ich Harry durch die großen Räume seines Hauses, bis wir im Wohnzimmer stehen.
„Entschuldige wie's hier aussieht", dreht er sich auf dem Weg dorthin einmal kurz zu mir um. „Ich lass' heute einfach alles liegen und stehen, mir fehlt ein wenig der Elan."
Zwar ist mir kaum aufgefallen, dass hier Unordnung herrschen würde, aber auf einer großen Fläche wie dieser verläuft sich das vermutlich.
„Das versteh' ich nur zu gut", lache ich also nur und sehe die zerwühlte Decke auf Harrys Sofa.
Dort muss er bisher seinen Tag verbracht haben.
„Wie geht's dir heute?", fragt Harry schließlich ganz belanglos und nebenbei.
Schon wieder kann ich ihn so schrecklich schlecht einschätzen, ob er gerade versucht, Näheres über meinen Abend mit Sammy herauszufinden oder ob er wirklich nur eine beiläufige, ungezwungene Unterhaltung führt.
„Ach", seufze ich und lasse mich gleichzeitig mit Harry in dessen Sofakissen fallen. „Ging schon mal besser, aber es wird."
„Auch etwas über die Stränge geschlagen gestern, was?", fragt Harry weiter. „Ich hab' dich nur kurz mit Sammy gesehen, glaube ich. Spaß gehabt?"
Gerade als ich versuche, Harry tiefer in die Augen zu sehen, um zu überprüfen, was tatsächlich hinter seinen Fragen steckt, weicht er mir schnell aus.
Der Kerl, der sonst mit seinen Blicken spielt und mich mit seinem wissenden, bohrenden Blick regelmäßig in den Wahnsinn treibt, während ich ihm kaum standhalten kann, bringt es plötzlich nicht mehr übers Herz, mich anzusehen.
Ein deutlicheres Zeichen, dass Harry etwas zu verbergen versucht, hätte ich mir nicht wünschen können.
Seufzend hadere ich ein paar Sekunden mit mir.
Wir könnten dieses Spielchen nun ewig spielen: Ich gebe vor, Spaß mit Sammy gehabt zu haben, während Harry so tut, als hätte er damit überhaupt kein Problem.
Ein letztes Mal muss ich es wagen und ihm die Hand reichen.
„Was soll das heißen, Harry?", frage ich ihn und zum ersten Mal bin ich es, die ihn unverhohlen ansieht und fordernd seinen Blick sucht. „Was war das gestern?"
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